Stellungnahme in der mündlichen Verhandlung zu „Lebensgestaltung, Ethik, Religionskunde“ (LER) als Schulfach in Brandenburg vor dem Bundesverfassungsgericht

EKD-Ratsvorsitzender, Präses Manfred Kock

26. Juni 2001

Für die Evangelische Kirche in Deutschland (EKD) ist die Verhandlung über das Schulfach "Lebensgestaltung-Ethik-Religionskunde" im Land Brandenburg nicht nur von regionaler Bedeutung. Die Einführung von LER ist von Anfang an mit weltanschaulichen Auseinandersetzungen verbunden gewesen, die das Verhältnis von Staat und Kirche in der Bundesrepublik Deutschland grundsätzlich angehen. Als in der Zeit der "Wende" 1989/90 die runden Tische gegründet wurden, richtete sich der Blick von der Bewältigung totalitärer Vergangenheit in die Zukunft des Staates. Eine besondere Rolle spielten dabei die Schulen. Sie waren bis dato ein Hort der SED-Staatsideologie und sollten nun helfen, den Schülern neue, freiheitliche Werte zu vermitteln. In diesem Zusammenhang entstand das Ideal eines Unterrichts, in dem alle Schüler einer Klasse gemeinsam die Sinn- und Wertfragen des Lebens und die sie begründenden religiösen und weltanschaulichen Überzeugungen thematisieren. In diesen Unterricht sollten Vertreter verschiedener Religionsgemeinschaften und hier besonders die Kirchen einbezogen werden, damit die christlichen Grundlagen europäischer Kultur authentisch verdeutlicht würden. Dieses Ideal, das auch unter kirchlichen Mitarbeitern anfänglich viele Anhänger fand, wurde allerdings schnell einer immer stärkeren Kritik unterworfen, je deutlicher man die Strukturen des geplanten Einheitsfaches LER durchdachte: Bei wem liegt das Recht, das Selbstverständnis der Kirchen zu interpretieren?

"Was Werte sind, bestimmen wir", rief ein SPD-Abgeordneter im Brandenburger Parlament bei der Debatte um die offizielle Einführung von LER. Ist das so? Übernimmt jetzt - fast möchte man sagen: wieder - "der Staat das Direktorium über die Weltanschauungen", wie Bischof Huber gefragt hat? Die Väter und Mütter unseres Grundgesetzes wollten das als Lehre aus der Geschichte für die Zukunft verhindern. Der freiheitliche, plurale, demokratische Rechtsstaat der Bundesrepublik ist zur religiösen und weltanschaulichen Neutralität verpflichtet. Diese Festlegung geschah in der Erkenntnis und unter der Voraussetzung, dass die Freiheit im Sinne des Grundgesetzes auf ethischen Grundlagen sowie den sie prägenden weltanschaulichen und religiösen Überzeugungen beruht, die der Staat nicht selbst schaffen kann. Daher würdigt das Grundgesetz die Bedeutung von Religion für das Gemeinwesen und räumt im Bildungsbereich den Religions- und Weltanschauungsgemeinschaften eine Mitwirkung ein. Religiöse Bildung gehört zum Auftrag der Schule, und der Religionsunterricht als ordentliches Lehrfach ist ein unerlässliches Angebot dieser religiösen Bildung.

Ein staatlicher Pflichtunterricht in weltanschaulich-religiösen Fragen dagegen verfehlt die freiheitlich-demokratischen Prinzipien und reduziert in unverantwortlicher Weise die Bildungsaufgabe der Schule. Ein staatliches, alle Religionen und Weltanschauungen umfassendes Pflichtfach müsste aufgrund der Verfassung weltanschaulich neutral sein und könnte die verschiedenen Religionen nur in religionswissenschaftlicher Beschreibung und im religionskundlichen Vergleich, d.h. aus uninteressierter Distanz betrachten. Das ist für einen lebendigen persönlichen Bildungsprozeß in existenziellen Fragen zu wenig.

In einem Einheitsfach wie LER, das alles zugleich leisten und neben den Fragen der »Lebensgestaltung« und der »Ethik« auch das Gesamtfeld der großen Religionen in einer »Religionskunde« in einem Bruchteil des Unterrichtsstoffes noch »mitnehmen« will, verflacht der Unterricht über Religion. Entscheidungskraft und Urteilsfähigkeit bleiben auf der Strecke.

Gerade angesichts einer zunehmend multikulturellen Gesellschaft, die auch eine multireligiöse Gesellschaft ist, reicht pädagogische Distanz zu Religion und der stets anstehenden Wahrheitsfrage nicht aus. Zwar wird argumentiert, ein Lernen mit Kindern und Jugendlichen aus unterschiedlichen Kulturen im Klassenverband ermögliche größere Toleranz. Die notwendig flächig bleibende Darstellung erfasst aber nicht die religiöse Tiefendimension, die eine ganze Kultur prägen kann. Es ist ferner prinzipiell nicht angemessen und verkürzt Religion, wenn nur dasjenige von den Religionen gleichsam ethisch abgeschöpft wird, was für die allgemeine staatliche »Werteerziehung« für sinnvoll gehalten wird.

Die Regelungen des Grundgesetzes zum Religionsunterricht entspringen der Einsicht, dass der Staat Vorgaben über religiöse und weltanschauliche Orientierungen niemals selbst herstellen und sie gleichsam gesetzlich verordnen darf. Es gibt außerdem keinen übergeordneten Standpunkt, von dem aus er eine Religion beziehungsweise Weltanschauung bevorzugen dürfte. Art. 7 GG ermöglicht den Schülerinnen und Schülern frei von Zwang die Begegnung mit einer identifizierbaren Position, ohne damit konfessionalistische Spaltungen oder Intoleranz zu fördern.

Der Religionsunterricht gemäß Grundgesetz gehört zu einem freiheitlichen Umgang mit Pluralität in der öffentlichen Schule. Der konfessionelle Religionsunterricht ist weder eine großzügige Geste des Staates noch ein Privileg der Kirchen. Aus der Perspektive von Art. 4 GG dient der Religionsunterricht nach Art. 7 GG der Sicherung der Grundrechtsausübung durch den Einzelnen. Kinder, Jugendliche und junge Erwachsene sollen sich frei und selbständig religiös orientieren können. Der Staat gewährleistet die Grundrechte der Schülerinnen und Schüler, ihrer Eltern und der Religionsgemeinschaften und erkennt seine eigene Säkularität an.

Es gibt zwei Zerrbilder: zum einen das eines klerikal gegängelten Religionsunterrichts, mit dem die Kirchen in der Schule ihre Klientel bedienen, zum anderen das eines ethisierenden Religionsunterrichts, der Fragen des Lebensgestaltung in den Mittelpunkt stellt und sich darin im Grunde nicht von LER unterscheidet. Beides trifft nicht zu, wie aktuelle evangelische und katholische Untersuchungen auf empirischer Basis deutlich belegen.
In den neuen Bundesländern finden sich im evangelischen Religionsunterricht vielfach in der Mehrzahl Schülerinnen und Schüler, die keiner Konfession angehören. Der Vorwurf, die Kirchen kümmerten sich nicht um die religiöse Bildung der konfessionslosen Kinder und Jugendlichen, ist haltlos.

Religionsunterricht hat seine Stärke darin, dass er als Teil eine modernen Schule gerade denen, die in unterschiedlicher Nähe oder Distanz zur religiösen Tradition stehen, einen Lernort bietet, der eine lebendige Auseinandersetzung ermöglicht.
Dazu sind viele Schülerinnen und Schüler bereit. Selbst solche, die sich religiös eher indifferent verhalten, suchen in existenziellen Grenzsituationen, wie etwa der plötzliche Tod eines nahestehenden Menschen, den Dialog im Religionsunterricht.
Oft wird der falsche Eindruck vermittelt, ein konfessioneller Religionsunterricht habe nur geringe oder keine Bedeutung für junge Menschen. Das Gegenteil ist richtig, vor allem, wenn sich - wie in den meisten Fällen - die „Konfession“ als authentische, sich mitteilende und öffnende Ausprägung des Glaubens darstellt.

Der Religionsunterricht ist also keine Dublette des Ethikunterrichts. Allerdings werden beide Fächer von der Gesetzgebung her mit Recht aufeinander bezogen. Daraus folgt, dass weder der Ethikunterricht zugunsten des Religionsunterrichts schul- und bildungstheoretisch herabgesetzt werden, noch eine wissenschaftliche und institutionelle Abwertung des Religionsunterrichts zugunsten des Ethikunterrichts stattfinden darf.

Der Blick in die Mehrzahl der anderen westlichen wie östlichen Bundesländer zeigt, dass sich die Regelungen von Art. 7 Abs. 3 GG und ihre interpretative Fortentwicklung - auch durch die Rechtsprechung - bewährt und in hohem Maße als zukunftsoffen und pluralismusfähig erwiesen haben. Sie eröffnen eine Bandbreite, die es erlaubt, den Religions- und Ethikunterricht auf dem Hintergrund der jeweiligen pädagogischen und religiös-weltanschaulichen Voraussetzungen in den Regionen in einer Weise zu gestalten, die die positive und negative Religionsfreiheit in der Schule am besten zum Ausgleich bringt, und Minderheiten - gleich in welcher Richtung - schützt und integriert. Das betrifft gerade auch die Regionen in Deutschland, in denen die Schülerinnen und Schüler mehrheitlich keiner Konfession oder Religion angehören.

Die Erfahrungen mit den Regelungen im Bundesland Brandenburg und ebenso in den Bundesländern Berlin und Bremen sind im Vergleich durchweg schlechter. Der Art. 141 GG, der seitens der Väter und Mütter unserer Verfassung auf eine besondere historisch gewachsene Situation in Bremen Rücksicht nimmt, liefert jetzt und in Zukunft kein Modell für eine angemessene Gestaltung des Religions- und Ethikunterrichts in anderen Regionen, die den Intentionen unserer Verfassung entspricht.

Karlsruhe/Hannover, den 26. Juni 2001
Pressestelle der EKD

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