Gemeinsames Wort aus Anlaß des 50. Jahrestages der Verkündung des Grundgesetzes der Bundesrepublik Deutschland

Vorsitzender der Deutschen Bischofskonferenz, Bischof Karl Lehmann, und EKD-Ratsvorsitzender, Präses Manfred Kock

20. Mai 1999

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Die Verkündung des Grundgesetzes vor 50 Jahren ist den Christen in Deutschland Anlaß zu Dankbarkeit und Verpflichtung.

Das Grundgesetz machte den Weg frei aus schuldbeladener Verstrickung während des Nationalsozialismus in eine neue Epoche deutscher Geschichte. Wir konnten zurückkehren in die Gemeinschaft der Völker. Heute lebt Deutschland in gefestigten und wachsenden internationalen Verbindungen. Bei der Wiederherstellung der staatlichen Einheit Deutschlands ist das Grundgesetz als Verfassung eines demokratischen Rechtsstaats mit guten Gründen bestätigt und erneuert worden.

Aber das Grundgesetz bürgt nicht von selbst für eine praktisch gelebte Freiheitsordnung. Wir müssen ihm als Bürger entsprechen und selbst in guter Verfassung sein. Darum sind wir alle zusammen in der Pflicht, die im Grundgesetz enthaltenen Überzeugungen zu bewahren, zu bewähren und im Bemühen um Gerechtigkeit zu festigen.

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Das Grundgesetz ist eine Verfassung der Freiheit. Sie gewährt dem einzelnen größtmöglichen Freiheitsspielraum und stärkt seine Initiative. Die grundrechtlichen Sicherungen der Freiheit haben in ihr besondere Bedeutung und konkrete Geltung erhalten.

Dabei schützt das Grundrecht der Religionsfreiheit der Bürger den christlichen Glauben und dessen öffentliches Bekenntnis. Es schützt aber ebenso die Freiheit anderer religiöser Bekenntnisse und die Freiheit des Unglaubens.

"Unter dem Grundgesetz" haben Christen gelernt, durch ihre gesellschaftliche Existenz im Gemeinwesen zu zeigen, daß mit ihren tätigen Überzeugungen zu rechnen ist und daß ihre Kirchen zu respektieren sind. Sie müssen als Christen einleuchtend machen, wofür sie eintreten. Nur so erhält die Praxis der Religionsfreiheit die Festigkeit eines den aktuellen Meinungsstreit überdauernden Verfassungsgrundsatzes.

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Das Grundgesetz schützt die unerläßlichen Voraussetzungen des Zusammenlebens. Es zieht der Freiheit Grenzen und verweist sie an Bindungen, ohne die sie keinen Bestand haben kann. Freiheit im Sinne des Grundgesetzes ist Freiheit in Verantwortung.

Grundlegende Maßstäbe der Verfassung sind die Würde jedes Menschen und sein Recht auf Leben und Unversehrtheit. Für die Zukunft unseres Staates hängt Entscheidendes davon ab, daß die Anerkennung der Menschenwürde und des Lebensrechts jeder Person in Anbetracht vieler Gefährdungen - nicht zuletzt im Bereich der Medizin und Biotechnik - bewahrt wird.

Das Grundgesetz hebt die Bedeutung von Ehe und Familie in besonderer Weise hervor. Wir begrüßen in diesem Zusammenhang die neueren Entscheidungen des Bundesverfassungsgerichts zur Ausgestaltung des Familienschutzes.

Die Verfassung will unseren Staat als Sozialstaat. Eigentum verpflichtet. Beides hat in Anbetracht der wirtschaftlichen Umbrüche im Zuge der Europäisierung und Globalisierung des Wirtschaftslebens hohe Bedeutung. In Notlagen haben Menschen Anspruch auf Hilfe. Daran darf und wird sich nichts ändern.

Die Einrichtungen der Diakonie und Caritas sind zu starken Pfeilern der sozialen Verantwortung des Gemeinwesens geworden. Im Gesundheitswesen, in der Sozialhilfe, in den Kindergärten oder in der Beratungsarbeit sind die Kirchen in einer Weise präsent, wie es dem Konzept der Subsidiarität entspricht. Sie unterstützen die Erfüllung der gesetzlichen Aufgaben des Sozialstaates. So sehen sich die Kirchen auch dazu aufgerufen, bei der nötigen Reform des sozialen Sicherungssystems darauf hinzuwirken, daß die Grundsätze sozialer Verantwortung für Schwache und Hilfsbedürftige gewahrt bleiben.

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Seit fast zehn Jahren hat das Grundgesetz Geltung in ganz Deutschland. Die föderale Ordnung des Staates hat sich in dieser Zeit als Stärke und Motor einer insgesamt guten Entwicklung erwiesen. Sie muß auch künftig in Recht und Realität lebendig sein.

Die Erfahrungen nach der Wiederherstellung der staatlichen Einheit haben gezeigt, welch große Bedeutung es für die Zukunft Deutschlands hat, ob die Grundentscheidungen der Verfassungsordnung - insbesondere ihr Freiheitsverständnis - in der Bevölkerung akzeptiert und aus Überzeugung mitgetragen werden. Unter den Bedingungen des Umbruchs, den wir in vielen Bereichen erleben, ist solche Akzeptanz keine Selbstverständlichkeit. Wir müssen nach Kräften dazu beitragen, um in öffentlicher Rede, in Erziehung und praktischer Hilfe der sozialen Freiheitsidee des Grundgesetzes zur Geltung zu verhelfen. Die Kirchen werden sich auch weiterhin zum Anwalt einer angemessenen Bewahrung und Bewährung unserer Verfassungsordnung machen.

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Das Grundgesetz hat einen verläßlichen Rahmen geschaffen für ein Zusammenleben von Staat und Kirche, das von gegenseitigem Respekt und klarer Erkenntnis der Unterscheidung getragen ist. Das für Deutschland maßgebliche Staatskirchenrecht hat sich in einem langen historischen Prozeß aus der Sorge um den Frieden zwischen den Konfessionen gebildet. Diese Regelungen sind ins Grundgesetz eingegangen und zu einem unentbehrlichen Element der öffentlichen Ordnung geworden. Sie wurden in der Bundesrepublik Deutschland in vielfachen Formen der Kooperation konkretisiert.

Allerdings weisen die Erwartungen an die Kirchen oft in ganz verschiedene Richtungen: Ein moralisches Hüter- und Wächteramt wird den Kirchen nicht nur zugestanden, sondern geradezu abverlangt. Gleichzeitig treten in der öffentlichen Meinung Stimmen hervor, die heftige, oft maßlose Kirchenkritik äußern und alle Formen institutioneller kirchlicher Öffentlichkeit, das Staatskirchenrecht, die bewährte Praxis der Kirchensteuererhebung oder die Mitwirkungsrechte der Kirchen im erzieherischen, sozialen, publizistischen Handeln in Frage stellen.

In diesen gegensätzlichen Äußerungen von Erwartungen und Widerspruch meldet sich ein tieferliegendes Problem. In unserer offenen, demokratisch verfaßten, pluralistischen Gesellschaft geht es um die Balance zwischen individueller Freiheit und tragenden fundamentalen Werten. Sie kann nicht vom Staat allein gewährleistet werden. Hier sind alle zu persönlicher und öffentlicher Stellungnahme herausgefordert. Das gilt auch für die Kirchen. Weder die Tendenz, die Kirchen aus der Öffentlichkeit und dem Alltag ins Private zu verdrängen, noch die Vorstellung, sie als Rückversicherung für Krisenzeiten in Reserve zu halten, werden der gebotenen Beziehung von Kirche und Gesellschaft gerecht. Zu Unrecht sagen manche, in der heutigen säkularisierten Gesellschaft gebe es keine Möglichkeit mehr, kollektive Verbindlichkeiten auf eine allgemein geteilte religiöse Tradition zu stützen und aufzubauen. Auch in Zukunft bleibt das kulturelle und ethische Erbe des Christentums ein Garant für die Werteordnung des Grundgesetzes.

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Unser Dank richtet sich an diesem 50. Jahrestag der Verkündung des Grundgesetzes an alle, die bis heute in den Verfassungsorganen dafür Mitsorge trugen, daß freiheitliche Demokratie und sozialer Rechtsstaat unseren Staat prägen. Wir beziehen diesen Dank gerade auch auf den Bereich der Freiheit von Glaube und Kirche. Wir hoffen auf das verläßliche Engagement aller auch in der Zukunft. Eine Verfassung ist kein ein für allemal abgeschlossenes Rechtsdokument. Der Anspruch der Verfassung muß in ständiger Auseinandersetzung mit widersprüchlichen Interessen und sich wandelnden gesellschaftlichen Verhältnissen eingelöst werden. Demokratie und sozialer Rechtsstaat werden im beharrlichen Eintreten für ihre bestmögliche Verwirklichung lebendig erhalten.

Das Grundgesetz verpflichtet die Politik auf eine klare Orientierung an der Würde jedes Menschen. Es hat den Weg nach Europa gebahnt. Als Garant einer Ordnung sozialer Freiheit ist es eine bleibende Herausforderung.

Hannover, Bonn, den 20. Mai 1999

Pressestelle der EKD

Pressestelle der Deutschen Bischofskonferenz