Erbarmen als "Verfassungsgebot" im Sozialstaat - Gegen verfrühte Rückführung der Bosnien-Flüchtlinge

Ohne Solidarität keine Zukunft für Soziale Marktwirtschaft

3. November 1996 (7. Tagung der 8. Synode der EKD)

Den Beistand für Flüchtlinge und Asylsuchende würdigte Landesbischof Engelhardt als "Zeichen der Hoffnung". Die Gesellschaft neige dazu, wegen der Unlösbarkeit des Gesamtproblems auch die mögliche Hilfe im Einzelfall zu versäumen. Der Ratsvorsitzende wandte sich gegen eine "verfrühte Rückführung" bosnischer Flüchtlinge. Dadurch verschärften sich die Konflikte vor Ort und gefährdeten den Frieden zusätzlich. Eine freiwillige Rückkehr sei auf jede mögliche Art zu unterstützen, sagte Engelhardt. In den Winter hinein solle von Deutschland aus aber niemand zur Rückkehr gezwungen werden.

Der Landesbischof wandte sich gegen "eine falsche Alternative" von Erbarmen und Gerechtigkeit. Schwache, Arme und Elende sollten "nicht bloß ein paar Brosamen erhalten, die nebenher abfallen". "Sie sollen mit Verläßlichkeit Erbarmen erfahren, im modernen Sozialstaat wird Erbarmen zum Verfassungsgebot." Es gehe um eine "Kultur des Erbarmens und damit um die Herstellung von mehr Gerechtigkeit".

In diesem Zusammenhang sprach Engelhardt auch den "Konsultationsprozeß zur wirtschaftlichen und sozialen Lage" an, den die evangelische und katholische Kirche vor zwei Jahren mit einem Diskussionspapier angestoßen hatten. Nach der Auswertung der vielfältigen Reaktionen aus Kirche und Gesellschaft beraten die kirchlichen Leitungsgremien nun über ein gemeinsames Wort zur wirtschaftlichen und sozialen Lage, das im Frühjahr 1997 fertig werden soll.

Der Ratsvorsitzende sagte, Sozialstaat und Soziale Marktwirtschaft seien nicht zukunftsfähig, wenn nicht alle zur Solidarität fähig und bereit seien. Der Sozialstaat diene dem sozialen Ausgleich. "Der Staat belastet darum die Stärkeren zugunsten der Schwächeren." Die Veränderungen und Anpassungen des Sozialstaates dürfen nach Auffassung Engelhardts nicht vor allem zu Lasten der geringer Verdienenden, der Arbeitslosen und der Sozialhilfeempfänger gehen. "Der zutreffende Grundsatz, daß Leistung sich im wirtschaftlichen Bereich lohnen muß, kann nicht dafür herhalten, Besserverdienende von ihren Beiträgen zum sozialen Ausgleich zu entlasten."

Engelhardt wandte sich gegen ein "schlechtreden" des Standortes Deutschland. Der soziale Friede sei ein "enormer Standortvorteil". Es dürfe aber auch nicht von vornherein "sozialer Abbau" angeprangert werden, wenn der hohe Standard, auf dem in Deutschland viele lebten, "so nicht gehalten werden" könne.

Der Ratsvorsitzende setzte sich für Initiativen der Kirchengemeinden mit Arbeitslosen, Armen und sozial Schwachen ein. Diakonische Gemeindearbeit, Besuchsdienstkreise und Treffpunkte für Arbeitslose seien Ansatzpunkte dafür, die soziale Kompetenz der Gemeinden zu erhöhen. In dem Maße, wie Gemeinden, kirchliche Gruppen und Einrichtungen "mit den Augen des Erbarmens" sowohl die Schwachen als auch die Politiker sehen, die Entscheidungen zu fällen haben, "können sie in der gesellschaftlichen Öffentlichkeit und den politischen Entscheidungsorganen Aufmerksamkeit finden", so Engelhardt.

Borkum, 3. November 1996
Pressestelle der EKD