Grußwort zur Verabschiedung von Bischof Karl Ludwig Kohlwage im Dom zu Lübeck

EKD-Ratsvorsitzender, Präses Manfred Kock

31. März 2001

"Lass dein Brot über das Wasser fahren; denn du wirst es finden nach langer Zeit", so heißt es im 11. Kapitel des Predigers Salomo. Ein alttestamentarischer Imperativ ist das, der dazu auffordert unser Leben nicht an kurzfristigen Erfolgen auszurichten, sondern ihm eine nachhaltige Perspektive des Teilens, also des Gebens und Schenkens zu geben. Als Bischof zu Lübeck, als Vorsitzender des Diakonischen Rates, als Vorsitzender der 'Kommission für Ausländerfragen und ethnische Minderheiten' und in einer Fülle anderer Ämter sind Sie dieser solcher Einsicht der alttestamentlichen Weisheit gefolgt.
Boote fahren über das Wasser - und für viele Menschen in Lübeck, an der Ostsee und in der Kirche zwischen den Meeren sind Bootsbau, Schifffahrt, Fischfang und -verarbeitung und touristische Ausflüge Grundlage ihres Broterwerbs. Wenn uns der Prediger aber im Bild zuruft: 'unser Brot über das Wasser fahren zu lassen', dann ist das weit mehr als ein Wortspiel von "Brot" und "Boot", sondern die Einladung zu einer 'Kultur der Barmherzigkeit'.
Lieber Bruder Kohlwage, Sie haben in markanter Weise diese Kultur der Barmherzigkeit, der Solidarität und Gerechtigkeit in Verkündigung und Lehre, im seelsorgerischen wie diakonischen Auftrag verteidigt und vorgelebt.
Martin Luther hat in seinen Erklärungen zum ersten Artikel und zur vierten Bitte des Vaterunsers uns daran erinnert, was 'tägliches Brot' für unser Leben bedeutet. Es geht ihm dabei neben der Sorge um Schutz und Geborgenheit um eine gute weltliche und geistliche Obrigkeit, vor allem darum, Menschen gleichberechtigt Anteil zu geben an dem, was wir alle zum Leben an konkreten Grundbedürfnissen notwendig brauchen: "Kleider und Schuh, Essen und Trinken, Haus und Hof, Weib und Kind, Acker, Vieh und alle Güter ... ".
Sie haben unermüdlich dafür gekämpft, dass zu diesen Grundbedürfnissen auch das Menschenrecht auf Unversehrtheit und Würde, auf Schutz und Geborgenheit, auf Freiheit und Teilhabe, auf Religionsausübung und kulturelle Eigenständigkeit gehört. Der Mensch lebt nicht vom Brot allein, er benötigt die Rückbindung an den, der von sich sagen konnte, dass er das Brot des Lebens ist, Jesus Christus.
Das haben Sie immer wieder eingeschärft: Wer Glück und Wohlstand isoliert und egoistisch sucht, ohne den Blick auf den Nächsten und die Situation in der Welt, hat von der Freiheit und sozialen Gestaltungskraft unseres christlichen Glaubens wenig verstanden. Ohne soziale Verantwortung degeneriert der Kampf um den materiellen Wohlstand zum Tanz um das goldene Kalb. Leben hat eine größere Sehnsucht in sich, daran erinnert die prophetische und priesterliche Dimension des Bischofsamtes, die Sie vorgelebt haben. Weitblick und Mahnung, Trost und Versöhnung sind substantielle Bestandteile des Brotes zum Leben, das uns von Gott geschenkt wird.

Dieses Brot anderen weiterzureichen, eben 'das Brot über Wasser fahren zu lassen', ist gelebte Christlichkeit oder, um es mit den Worten Thomas Manns, dem großen Sohn dieser Stadt, literarisch-säkular auszudrücken: "geistige Lebensform".
Thomas Mann musste wie viele Lübecker, die die Aufmerksamkeit der Welt auf sich zogen, den Spott über seine Herkunft und über das Lübecker Marzipan über sich ergehen lassen. Er hat das selbstbewusst ertragen und sogar das Marzipan verteidigt, durch das er sich alles andere als gekränkt fühle, denn so schreibt er: "1. ist es eine sehr wohlschmeckende Substanz und 2. keine triviale, sondern eine geradezu merkwürdige, geheimnisvolle..." ..."Marci-pan" - so resümiert Thomas Mann, "das heißt ja offenbar, oder wenigstens nach meiner Theorie, 'panis Marci' - Brot des Marcus, des Heiligen Marcus, der der Schutzheilige von Venedig ist." Also ein Brot, das von Lübeck ausgeht über die Meere, nachdem es zuerst über die Meere nach Lübeck gekommen ist.
Austausch ist das Geheimnis der Weisheit. Sie haben empfangen, Bruder Kohlwage: Große Gaben des Geistes und haben aus dieser Kraft Bedrohung und Erschütterung getragen. Sie haben an Gottes Menschenfreundlichkeit festgehalten und haben aus dem Schutz Ihres Glaubens weitergegeben an Viele über die Grenzen Ihres Sprengels und unseres Landes hinaus.
Ich danke Ihnen im Namen der Evangelischen Kirche in Deutschland und ganz persönlich für Ihren Dienst in unserer Kirche. Unsere protestantische Landschaft hat durch ihr Wirken sehr an Ausstrahlung und Profil gewonnen - auch wenn wir in lutherischer Bescheidenheit konzedieren wollen, dass Gottes Segen zu unserem Tun 'ohn all unser Verdienst und Würdigkeit' gegeben wird.
Wir danken Ihnen für die Anstöße zum offenen Dialog mit den unterschiedlichen Gruppen unserer Gesellschaft. Sie waren in besonderer Weise Anwalt der Schwachen und der Modernisierungs-Verlierer. Kein schlechter Platz für einen Bischof: ein 'Mitbürger unter Mitbürgern' zu sein. Sich nicht hinter Kirchenmauern zurückzuziehen, sondern auf den Marktplatz zu gehen, dem Volk aufs Maul zu schauen und dabei mitzuhelfen, die Mauern in den Köpfen und Herzen der Menschen abzubauen.
In Ihren Auslegungen biblischer Texte haben Sie immer wieder überraschende und neue Perspektiven entfaltet, mit denen Sie die alte Botschaft ihren Zeitgenossen lebendig und alltagsnah erschlossen haben.
Lieber Bruder Kohlwage, Sie haben in Ihren langen Amtsjahren viel vom 'Brot des Marcus' - verschenkt! Die Menschen in der 'Kirche zwischen den Meeren' sind davon satt geworden. Ich wünsche Ihnen, dass Sie das 'Brot des Lebens' - in vielfältigen Formen und Gestalten wiederfinden. Gott schenke Ihnen dazu auch weiterhin seinen Segen.

Hannover/Lübeck, 31. März 2001
Pressestelle der EKD