Präsentation der "Diakoniedenkschrift"

Präses Manfred Kock, Vorsitzender des Rates der EKD

15. Oktober 1998

Wir stellen heute eine evangelische Denkschrift vor, die den Titel einer Kantate von Johann Sebastian Bach trägt: "Herz und Mund und Tat und Leben". Die Denkschrift beschreibt programmatisch "Grundlagen, Aufgaben und Zukunftsperspektiven der Diakonie". Die Evangelische Kirche in Deutschland und die Vereinigung Evangelischer Freikirchen gedenken mit dieser Schrift Johann Hinrich Wicherns und des für die Geschichte der diakonischen Arbeit in der Kirche folgenreichen Kirchentags von Wittenberg vor 150 Jahren. Damals, im September 1848, hat so vieles von dem, was heute unsere Diakonie ausmacht, seinen Anfang genommen und entscheidende Impulse empfangen.

Wichern hatte die Kirche an ihren Auftrag erinnert, den Menschen nicht nur das Wort von der Liebe Gottes zu predigen, sondern ihnen mit der konkreten Tat zu dienen. Die Denkschrift erinnert daran und unterstreicht, was das für den Dienst der Diakonie heute bedeutet. Die evangelischen Christen ziehen sich nicht in die "Innerlichkeit" zurück. Wir stehen nicht abseits von den Nöten der Menschen und der Gesellschaft in einem quasi unpolitischen Raum. Die evangelische Kirche will mit ihrer Diakonie hilfe- und ratsuchende Menschen auch unter den Bedingungen rasanter gesellschaftlicher Veränderungsprozesse weiterhin qualifiziert und partnerschaftlich unterstützen. Sie versteht sich auch als Anwalt der Benachteiligten und als Mund der Stummen. Wir bezeugen damit Christus nicht nur im sonntäglichen Glaubensbekenntnis mit "Herz und Mund", sondern vor allem im alltäglichen Glaubensbekenntnis mit "Tat und Leben". Die Diakonie tritt für menschengerechte Lebensbedingungen ein. Sie fordert diese nicht nur mit Worten, sondern entwickelt immer wieder selber Modelle für Verbesserungen. Damit setzt sie neue Maßstäbe, und ermutigt andere, diese zu übernehmen. Sie wirkt so mit anderen Wohlfahrtsverbänden und Hilfsorganisationen - so etwa mit der Caritas - zusammen, um "der Stadt Bestes" zu suchen.

Daß die kirchliche Diakonie heute als eine der Säulen des sozialen Gemeinwesens und des modernen Sozialstaates gilt, an dessen Gestaltung sie in der Vergangenheit mitgewirkt hat und weiterhin beteiligt ist, hängt entscheidend ab von der Motivation ihrer ehrenamtlichen und hauptamtlichen Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter. In deren konkreter Praxis gewinnt der Zusammenhang von Glaube und Liebe Gestalt. Das ist das Profil evangelischer Diakonie.

Ob wir es schaffen, die heute vor uns liegenden Aufgaben zu bewältigen, hängt in erster Linie davon ab, daß dieser Zusammenhang von "Herz und Hand" gewahrt bleibt.

Ich will zwei dieser Aufgaben benennen:
a) Die Bedingungen diakonischer Arbeit haben sich verändert. Der Umbau des Sozialstaates ist im Gange. Stärkung des Wettbewerbs und Deregulierung sind die politischen Vorgaben des Umbaus. Von der Diakonie wird erwartet, daß sie nicht nur Samariterdienste leistet, sondern dabei auch mit privatwirtschaftlichen Anbietern mithält. Auf der einen Seite wissen wir, Menschen, die Hilfe brauchen, Wohnungslose, Suchtkranke, Arbeitslose, sind keine "Kunden". Auf der anderen Seite ist uns deutlich, daß unsere diakonische Arbeit sich mit sozialer Arbeit anderer vergleichen kann und muß. Wo solcher Wettbewerb entsteht, müssen wir deutlich machen, was das Besondere und was die Stärke unseres Beitrags ist. Die Zukunft unseres sozialen Systems wird nicht vom niedrigsten Preis einer Dienstleistung bestimmt, sondern muß sich, wird sich an hohen Qualitätsstandards orientieren. Und für uns letztlich an der von Gott geschenkten Würde des Menschen.

b) Eine weitere Aufgabe, die ich herausgreife, ist der Beitrag der Diakonie zu einem solidarischen und gerechten Gemeinwesen. Das wohlhabende Deutschland ist von sozialen Problemen gezeichnet. Es steckt in einem gesellschaftlichen Übergangsprozeß, der für viele Menschen den Verlust vertrauter Lebens- und Arbeitsbedingungen mit sich bringt. Bevor neue Strukturen sich als tragfähig erweisen, leiden Menschen, die die Entwicklungen nicht überschauen, unter großen Verunsicherungen. Die Zahl der unspezifischen Beschwerden nimmt dramatisch zu. Seelischer Druck findet immer häufiger körperlichen Ausdruck in Krankheiten. Die Probleme der Allgemeinheit spiegeln sich in den einzelnen Lebensschicksalen. Die Notwendigkeit, Einzelnen, Familien, ja ganzen Bevölkerungsgruppen beizustehen, Hilfsstrukturen aufzubauen und zu verbessern, hat zugenommen. Die Denkschrift nimmt nicht von ungefähr die Arbeitslosigkeit in den Blick, die trotz leichter Besserungen auf dem Stellenmarkt einen immer noch sehr hohen Stand hat. Außerdem nimmt die Zahl der alleinerziehenden Mütter, der sozialhilfebedürftigen jungen Menschen, der geistig behinderten Alten, der Hochbetagten zu. Die evangelische Diakonie leistet hier ihre unverzichtbaren Beiträge. Sie berät, klärt auf, unterstützt und entlastet Einzelne und Familien und hält die Erinnerung an unerledigte soziale Aufgaben in der öffentlichen Diskussion wach.

Unsere Diakonie braucht den Wettbewerb nicht zu scheuen. Aber - so heißt es in der Denkschrift: "Dieses Besondere der Diakonie (...) muß im Wettbewerb gewahrt werden, ja es muß als Chance und geradezu als 'Wettbewerbsvorteil' betont werden. Letztlich geht es um mehr als nur um ein Mithalten im Wettbewerb ..." (Ziff. 99)

Ich hoffe, daß es im Jubiläumsjahr der Diakonie zu einer engagierten und weiterführenden Diskussion über diese Schrift kommt. In dieser Diskussion sollte deutlich sein, daß es letztlich nicht um uns, um unsere Arbeit geht, und schon gar nicht um die "Diakonie an sich", sondern um die Menschen, die Hilfe brauchen, und um die gute Botschaft des Evangeliums, die Barmherzigkeit und Gerechtigkeit verheißt.

Hannover/Bonn, 15. Oktober 1998
Pressestelle der EKD