Evangelische Kirche gegen Ökonomisierung des Sozialen

EKD und Freikirchen veröffentlichen Diakonie-Denkschrift

15. Oktober 1998

Gegen eine "reine Ökonomisierung sozialer und diakonischer Arbeit" sprechen sich die Evangelische Kirche in Deutschland (EKD) und die Vereinigung Evangelischer Freikirchen (VEF) in ihrer heute (15. Oktober 1998) in Bonn veröffentlichten Diakonie-Denkschrift aus. Schwache und Hilfsbedürftige "dürfen nicht zu bloßen 'Kunden' degradiert, Hilfe und Zuwendung zu Bedürftigen dürfen nicht zu bloßen 'Markenartikeln' umfunktioniert werden", heißt es in dem Text mit dem Titel "Herz und Mund und Tat und Leben". Die Kirchen betonen darin: Hilfe für Menschen in Not kann sich nicht auf das beschränken, was "sich rechnet". Sie bejahen ausdrücklich einen Wettbewerb auch im Sozialen, fordern aber, daß dies ein "Wettbewerb um mehr Menschlichkeit" und eine gute Hilfe für Bedürftige sein muß. Auch die Standards des Wettbewerbs müßten sich an dem orientieren, was Menschen in Not wirklich brauchen.

Die Diakonie-Denkschrift wurde vom Rat der EKD und dem Präsidium der VEF verabschiedet. Anlaß für ihre Erarbeitung ist das 150jährige Jubiläum der Diakonie. Die evangelischen Christen feiern in diesem Jahr die Erinnerung an Johann Hinrich Wichern und den Wittenberger Kirchentag von 1848, der für die diakonische Arbeit der evangelischen Kirche und den späteren Aufbau der Diakonischen Werke entscheidende Bedeutung hatte.

"Die sozialen Probleme in Deutschland haben erheblich zugenommen", heißt es in der Denkschrift. Der Beratungs- und Hilfebedarf steigt aufgrund der entstandenen Notlagen erheblich an. Gleichzeitig sind die Möglichkeiten zur Hilfe schwerer geworden. "Wir brauchen heute nicht weniger Dienst am Mitmenschen und nicht weniger Solidarität und Gerechtigkeit in der Gesellschaft, sondern mehr", heißt es in dem Vorwort von Präses Manfred Kock (Vorsitzender des Rates der EKD) und Bischof Dr. Walter Klaiber (Vorsitzender des Präsidiums der VEF). "Wir brauchen ein verstärktes diakonisches Engagement als entschlossene Antwort auf die Nöte unserer Zeit und tatkräftige Hilfe zu ihrer Überwindung." Die Denkschrift geht auch auf die Bedeutung der Diakonie für eine solidarische Ordnung des Gemeinwesens ein. So heißt es etwa, die Diakonie müsse sich "für die verantwortliche Gestaltung eines solidarischen und gerechten Gemeinwesens mit guten Lebensbedingungen für alle einsetzen und gegen die Entsolidarisierung und die Erosion der sozialen Sicherungen in Staat und Gesellschaft sowie gegen die Bürokratisierung und Lebensferne im System eintreten." Die Diakonie soll "kritische Mahnerin" sein im Blick auf Trends der Entsolidarisierung und Singularisierung in der Gesellschaft, sowie im "im Blick auf Fehlentwicklungen in der Politik." Sie müsse eine Vordenker- und Vorreiterrolle einnehmen und innovative Modelle der Hilfe fördern. Die kirchliche Diakonie sei heute "eine der tragenden Säulen des sozialen Gemeinwesens und des modernen Sozialstaats." Auf die veränderte Lage in der modernen Gesellschaft mit ihren tiefgreifenden Umbrüchen müsse sich die Diakonie "mit zukunftsweisenden Ansätzen einstellen, sie muß Bewährtes erhalten und fördern, Neues erproben und Veränderungen wagen."

Große Bedeutung messen die evangelischen Kirchen den ehrenamtlichen Mitarbeiterinnen und Mitarbeitern bei. "Soziale Arbeit kann und muß heute eine Mobilisierung von Solidarität bewirken", stellen sie in ihrem Text fest. Es gebe viele Menschen, die sich engagieren wollen. In der Diakonie sind es allein 400.000 Ehrenamtliche. "Freiwillige setzen ein Zeichen für ein menschliches Miteinander in unserer Gesellschaft." Schon deshalb sollte gerade die Diakonie einen Auftrag darin sehen, in Zukunft noch verstärkt Freiwillige zu gewinnen und zu ermutigen. Auch ein diakonisches Lernen müsse in der Gesellschaft angestoßen werden. Dabei geht es "um soziale Einstellungen und christliche Orientierungen wie etwa Achtung und Respekt vor anderen Menschen, Gerechtigkeit und Fairneß, um Hilfsbereitschaft und Toleranz sowie um persönliche und gesellschaftliche Verantwortung".

In weiten Teilen der Denkschrift werden die Kirchen selbst und die Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter in der Diakonie angesprochen. Dabei geht es nicht zuletzt um eine verbesserte Verankerung der Diakonie in Kirchengemeinden. Wichtig sei ein gutes Miteinander der Kirche und ihrer Diakonie und von Hauptamtlichen und Ehrenamtlichen. Entscheidend sei der hilfesuchende Mensch und seine Würde. Ihm müsse die Diakonie Orte zum Leben anbieten und Menschen nach Möglichkeit in ihrer angestammten Lebenswelt fördern. "Aus Betroffenen müssen Beteiligte werden." Wichtige Herausforderungen für das diakonische Engagement werden in Beispielen beschrieben.

Die Diakonie wird in der evangelischen Denkschrift als ein bedeutsamer Bestandteil der missionarischen Arbeit der Kirche charakterisiert. Der Text stellt auch an dieser Stelle die Aufgaben der Diakonie in die Tradition Johann Hinrich Wicherns. "Wichern wollte gewiß die unmittelbare Not beheben - aber doch auch durch 'Taten der Liebe' die 'Offenbarungen des Glaubens' bezeugen, ja, ihnen den Weg überhaupt erst bereiten". Mit anderen Worten: Menschen sollen durch das diakonische Handeln auch für die Verkündigung des Evangeliums geöffnet werden.

Die Denkschrift ist von einer ad-hoc-Kommission im Auftrag des Rates der EKD erarbeitet worden. Ihr gehörten unter dem Vorsitz des Diakoniewissenschaftlers Prof. Dr. Dr. Theodor Strohm (Heidelberg) und dem stellvertretenden Vorsitz von Landesbischof Christian Krause (Braunschweig) u.a. folgende Sachverständige an: Direktor Dr. Gysbert Boer (Driebergen/Niederlande), Pfarrerin Cornelia Coenen-Marx (Düsseldorf), Präsident Jürgen Gohde (Stuttgart), Bischof Dr. Walter Klaiber (Frankfurt/M.), Diakonisse Hanna Lachenmann (Frankfurt/M.), Dr. Britta von Schubert (Neckargemünd), Prof. Dr. Reinhard Turre (Magdeburg) und Direktor Dr. Rudolf Weth (Neukirchen-Vluyn)

Hannover/Bonn, den 15. Oktober 1998
Pressestelle der EKD

Die Denkschrift ist im Buchhandel zum Preise von 9,80 DM erhältlich.