"Jedes Kind ist liebenswert - Leben annehmen statt auswählen"

Woche für das Leben 1997

Statement Bischof Dr. Karl Lehmann, Vorsitzender der DBK, 1. Juni 1997

1. Woche für das Leben 1997

"Jedes Kind ist liebenswert - Leben annehmen statt auswählen" - unter diesem Motto begehen wir in diesem Jahr zum siebten Mal in Folge die Woche für das Leben, die seit 1994 in ökumenischer Trägerschaft gemeinsam vom Rat der Evangelischen Kirche in Deutschland und der Deutschen Bischofskonferenz begangen wird.

Mit der diesjährigen Aktion wollen wir einen Problembereich ansprechen, der wie kaum ein anderer die gesamte Spannung, wie sie sich hinter dem medizinisch-technischen Fortschritt verbirgt, sichtbar werden läßt: Die Chancen und Gefahren der pränatalen Diagnostik. Am Sonntag, den 1. Juni 1997, werden wir die Woche für das Leben auf dem Marktplatz in Hannover eröffnen.

2. Chancen und Gefahren pränataler Diagnostik

In diesem Jahr wollen wir die Aufmerksamkeit wiederum auf den Beginn des Lebens richten, der zunehmend im Zeichen sich rasch entwickelnder technischer Möglichkeiten steht: die Diagnose erbkranken Nachwuchses in der pränatalen Diagnostik, die Genom-Analyse und die gesamte Bandbreite der pränatalen Diagnostik als einen Bereich der prädiktiven Medizin.

Wir stellen fest, daß die Medizin heute in zunehmendem Maße in der Lage ist, nicht nur Krankheiten, Erbschädigungen oder Behinderungen des vorgeburtlichen menschlichen Lebens zu diagnostizieren, sondern auch in Einzelfällen zu therapieren. So sind insbesondere auf dem Gebiet der Kinder- und Neurochirurgie erstaunliche Fortschritte in der operativen Versorgung von Kindern zu verzeichnen.

Auf der anderen Seite beobachten wir einen zunehmenden Trend, daß die überwiegende Anzahl der ungeborenen Kinder, bei denen aufgrund der unterschiedlichen Methoden pränataler Diagnostik, insbesondere aufgrund der erfolgten Fruchtwasserpunktion (Amniozentese) in der 13. bis 18. Schwangerschaftswoche, erbedingte Erkrankungen oder Behinderungen festgestellt werden, die Schwangerschaft abgebrochen wird. Am bekanntesten von allen genetisch bedingten Schädigungen ist das sogenannte Down-Syndrom, auch Trisomie 21, früher auch "Mongolismus" genannt.

Erfahrene Medizinerinnen und Mediziner verweisen darauf, daß bei pränatal diagnostizierten Down-Syndrom in über 90% der Fälle ein Schwangerschaftsabbruch vorgenommen wird. Ähnliches gilt auch bei der Spina bifida-Erkrankung. Auch hier weist die Statistik einen erheblichen Rückgang der Zahl der Erkrankungen auf, der allerdings nicht auf einer Abnahme des Krankheitsbildes beruht, sondern vielmehr mit der Zunahme der aufgrund der pränatal erfolgten Diagnostik vorgenommenen Schwangerschaftsabbrüche zu begründen ist (vgl. hierzu die Antwort der Bundesregierung auf die kleine Anfrage von Hüppe, MdB u.a., Drucksache 13/5364 v. 29.7.96).

3. Einstellungen und Anspruchshaltungen

Diese Entwicklung scheint mit den Einstellungen von Humangenetikern zu korrespondieren, die sich in zunehmendem Maße für die Option eines Schwangerschaftsabbruchs für betroffene Schwangere aussprechen.

Die Fragestellung "Angenommen, es stünde ein sicherer, verläßlicher und kostengünstiger Test technisch zur Verfügung, um die folgenden Störungen zu diagnostizieren - bei welchem Test würden Sie es gerne sehen, wenn er zusammen mit der Option eines Schwangerschaftsabbruchs für betroffene Schwangere verfügbar wäre"?, wurde für Down-Syndrom von 53% und für Spina bifida aperta von 74% der deutschen Humangenetiker bejaht. Die Frage, ob sie selbst eine Abtreibung vornehmen lassen würden, hätte ihr eigenes ungeborenes Kind eine schwere offene Spina bifida, bejahten 90% (genau: 90,4%) der Humangenetiker, beim Down-Syndrom waren es noch 70% (genau: 69,6%) (Nippert, I; Horst, J.: Die Anwendungsproblematik der pränatalen Diagnose aus der Sicht von Beraterinnen und Beratern unter besonderer Berücksichtigung der derzeitigen und zukünftig möglichen Nutzung genetischer Tests, TAB Hintergrundpapier Nr. 2, Gutachten im Auftrag des Büros für Technikfolgen-Abschätzung beim Deutschen Bundestag, Januar 1994. Hier Tab. 11 auf Seite 112).

Bejahten 1985 in einer Umfrage 2% der deutschen Humangenetiker die Frage, ob das Geschlecht des Fötus ein Grund zum Schwangerschaftsabbruch sein könnte, mit "Ja", so wurde im Jahr 1994 dieselbe Frage bereits von 18 % der Humangenetiker bejaht. Dies unterstreicht die Notwendigkeit eines Verbots der Geschlechtswahl durch Abtreibung. Ein solches Verbot fehlt immer noch, obwohl es vom Bundesverfassungsgericht unmißverständlich eingefordert wurde: "Außerdem muß die Verpflichtung, ... keine Mitteilungen über das Geschlecht des zu erwartenden Kindes zu machen, strafbewehrt sein", (Urteil vom 28.5.1993, Gründe DV 2c). Aus der jüngsten Diskussion in den Niederlanden können wir die Brisanz dieser Fragestellung ersehen.

Die hier angesprochenen Beispiele belegen, daß anscheinend eine latente Bereitschaft zu pränataler Selektion durch Abtreibung sowohl in der Durchschnittsbevölkerung als auch bei einer wachsenden Zahl von Fachvertretern (Humangenetiker, Mediziner) besteht.

4. Spannungsverhältnis von Fortschritt und Ethik

Ein altbekanntes Sprichwort besagt: "Wissen ist macht". Schon immer hat die Wissenschaft die Welt und die jeweilige Epoche tiefgreifend geprägt, indem sie fortlaufend verändert hat. Während jedoch bis zur Mitte des vorigen Jahrhunderts die wachsende Fülle von Ergebnissen der Wissenschaft dem Leben diente und die Zivilisation förderte, ist hier - wenigstens in unserem Bewußtsein - ein Wandel eingetreten. Zwar erkannte man auch schon früher nachteilige Folgen, aber sie erschienen noch eher als geringfügig. In den letzten Jahrzehnten hat die wissenschaftlich-technische Entwicklung in zunehmendem Maß ein Problembewußtsein hervorgerufen: Neben den unbestreitbaren Segnungen für den Fortbestand und die Weiterentwicklung der menschlichen Kultur ist nicht zu übersehen, daß diese Fortschritte auch dazu führen können, daß unsere Welt unumkehrbar geschädigt und alles menschliche Leben auf ihr zutiefst gefährdet wird.

Von diesen Veränderungen des Menschen durch den Menschen ist vor allem die Medizin erfaßt. Wo früher oft nur noch Schicksalsergebenheit die Antwort auf schwerste Erkrankungen darstellte, ist heute in zunehmendem Maße die Rettung von Menschenleben auch dann möglich geworden, wenn sie allem Anschein nach fast aussichtslos erscheint. Die Intensivmedizin vermag Menschen in erstaunlicher Weise zum Überleben zu verhelfen. Wir haben uns im vergangenen Jahr mit den schwierigen Fragen in diesem Kontext befaßt, als es um die Frage des Lebensendes und die Würde des Sterbens ging.

5. Das Evangelium vom Leben

Papst Johannes Paul II. Betont in seiner Enzyklika "Evangelium vitae" vom 25. März 1995, daß die vorgeburtliche Diagnostik aber nur dann sittlich erlaubt ist, wenn sie ohne unverhältnismäßige Gefahren für das Kind und für die Mutter erfolgt und zum Ziel hat, eine frühzeitige Therapie zu ermöglichen oder auch eine gefaßte und bewußte Annahme des Ungeborenen zu begünstigen (Nr. 63). Gleichzeitig weist er darauf hin, daß die Behandlungsmöglichkeiten vor der Geburt derzeit noch sehr begrenzt sind und daß es daher nicht selten vorkomme, "daß diese Verfahren in den Dienst einer Eugenetik-Mentalität gestellt werden, die die selektive Abtreibung in Kauf nimmt, um die Geburt von Kindern zu verhindern, die von Mißbildungen und Krankheiten verschiedener Art betroffen sind" (Nr. 63).

Die Kirchen in Deutschland leisten mit ihren zahlreichen Einrichtungen der Ehe-, Familien- und Lebensberatung sowie in der Schwangerschafts- und Schwangerschaftskonfliktberatung einen wertvollen Beitrag, wenn es darum geht, den zuvor benannten Tendenzen wirksam zu begegnen. Allen Männern und Frauen, die sich in den genannten Einrichtungen, aber auch in den Arztpraxen, in den genetischen Beratungsstellen, Krankenhäusern und Kliniken für den Schutz des ungeborenen behinderten Kindes einsetzen, schulden wir unseren aufrichtigen Dank.

6. Recht auf Nichtwissen

In der neueren Diskussion ist vermehrt die Rede vom "Recht auf Nichtwissen" des Menschen, das auch die Kirchen im Kontext der diesjährigen Woche für das Leben betonen. Mit Hilfe von Analysen und Prognosen kann der Mensch heute viele Rätsel des menschlichen Lebens entschleiern. Es ist nicht bestritten, daß damit auch viele belastende Ängste von Menschen genommen werden. Dies gilt z.B. für Risikopatientinnen bei der Schwangerschaftsüberwachung im Zusammenhang mit der pränatalen Diagnostik. Bei mehr als 97% dieser Frauen kann ein Verdacht positiv ausgeräumt werden. Wir dürfen diese Chancen nicht übersehen.

Zugleich müssen die damit verbundenen Gefahren nüchtern gesehen werden. Dabei geht es hier - so wichtig dies ist - nicht nur um die Versuchung zur Abtreibung oder zu einer vollkommen negativen Einschätzung von Menschen mit Behinderungen, sondern grundsätzlich um die Entschlüsselung der Zukunft des menschlichen Lebens. Man darf, wie gesagt, das Nicht-Wissen nicht verherrlichen, man muß jedoch auch die Last eines geheimnislosen Lebens sehen. Dies fängt schon an beim - verhältnismäßig harmlosen - Feststellen des Geschlechts eines zu erwartenden Kindes durch Ultraschall vor der Geburt. Die Probleme münden schließlich in die voraussagbare Risikobelastung von Arbeitnehmern durch Genomanalyse. Nimmt man dem Menschen nicht sein Geheimnis, wenn man ihn bis zur letzten Transparenz durchleuchtet? Lebt er wirklich leichter, wenn er um alle verborgenen Risiken seines Lebens weiß? Kann er Gefährdungen tragen, die man noch nicht oder überhaupt nicht abwenden bzw. in den Griff bekommen kann? Was mutet der Mensch sich hier zu?

Es ist nicht zu verkennen, daß die hier behandelten Fragen immer tiefer zum Rätsel des menschlichen Lebens überhaupt führen: Was ist der Mensch? Wir werden die gegenwärtigen Gefährdungen nur dann bestehen können, wenn wir zugleich tiefer das Wesen und das Geheimnis des Menschen verstehen lernen. Das Wissen allein, so unentbehrlich es ist, genügt hier wie anderswo nicht. Die Notwendigkeit von so etwas wie Weisheit wird einsichtig. Wenn die Weisheit Gottes und die Weisheit der Welt einander neu begegnen, könnte die Stunde der Bedrohung zu einer Chance der Rettung werden. - Die diesjährige Woche für das Leben will hierzu einen Beitrag leisten.

Hannover, 1. Juni 1997