"Jedes Kind ist liebenswert - Leben annehmen statt auswählen"

Woche für das Leben 1997

Statement Landesbischof Dr. Klaus Engelhardt, Vorsitzender des Rates der EKD, 1. Juni 1997

Die Woche für das Leben widmet sich dieses Jahr einem Thema, das in immer stärkerem Maße teil hat an der Ambivalenz des modernen medizinischen Forschritts: der pränatalen Diagnostik als einem Teilbereich der prädiktiven Medizin. Das gleiche Wissen, das neues Leben ermöglicht, weil es Ängste zunichte macht, gewinnt lebensbedrohendes Gewicht, wenn ihm keine therapeutischen Möglichkeiten entsprechen. Wissen kann aus lähmender Ungewißheit befreien, wenn es neue Möglichkeiten eröffnet; Wissen kann aber umgekehrt zu Verzweiflung führen, wenn ihm keine Handlungsmöglichkeiten folgen.
Das Wissen aus Pränataldiagnostik ist in den meisten Fällen befreiendes Wissen: In rund 97% der Fälle können die Eltern von einer monatewährenden Angst befreit werden, ein Kind mit einer Chromosomenstörung zu bekommen. Auch kann die pränatale Diagnostik durch Ausschluß einer Verdachtsdiagnose dazu beitragen, daß Schwangerschaften nicht aufgrund bloß befürchteter Schädigungen des ungeborenen Kindes abgebrochen werden.

Darüber hinaus aber bleiben Fragen. Den Möglichkeiten dieser Diagnostik stehen Gefahren gegenüber, die ausführlich im diesjährigen Materialheft "Impulse für Praxis und Gottesdienst" dargestellt sind: von den medizinischen, juristischen und ethischen Aspekten zur Pränataldiagnostik über die Darstellung des Beratungsangebotes der Kirchen bis hin zu Ratschlägen für die praktische Gestaltung der Woche für das Leben in den Gemeinden. Mich hat beim Lesen dieses Heftes sehr nachdenklich gestimmt, wieviel detailliertes Wissen und - vor allem - Entscheidungskompetenz den Frauen und Paaren, die ein Kind erwarten, heute zugemutet und abverlangt wird.

Wie letztes Jahr wird das Materialheft zur Woche für das Leben ergänzt um ein Gemeinsames Wort der Kirchen, das in der Reihe "Gemeinsame Texte" als Heft 11 erscheint: "Wieviel Wissen tut uns gut? Chancen und Risiken der voraussagenden Medizin". Schon der Titel will darauf aufmerksam machen: Nicht jedes Wissen ist hilfreich; es gibt Grenzen des Wissens, die wir Menschen um unserer selbst willen markieren müssen. Vier kurze Kapitel entfalten die Problematik des Zuwachses von medizinischem voraussagenden Wissen, für das - jedenfalls bis jetzt - in den meisten Fällen noch keine Therapien zur Verfügung stehen. Das Gemeinsame Wort weitet also die Thematik der pränatalen Diagnostik auf die sog. prädiktive Diagnostik aus, d.h. auf die Vorhersage von Erkrankungen bei Erwachsenen, die erst im späteren Leben Einfluß gewinnen.

Mit dem Ausmaß des Zuwachses an Wissen wächst auch die Verantwortung für den Gebrauch von Wissen und für den Umgang mit Wissen. Denn ein höheres Maß an Wissen über die eigene zukünftige Krankengeschichte erweitert die Möglichkeiten der Wahl und macht Entscheidungen nötig, wo vorher keine möglich waren. Deshalb ist es unbedingt erforderlich, bei jeder Voraussage über künftige Erkrankungen und Risiken folgende Prinzipien zu beachten: die Freiwilligkeit der Inanspruchnahme einer genetischen Diagnostik, das "Recht auf Nichtwissen" der eigenen genetischen Ausstattung und damit auch das Recht auf Selbstbestimmung, welche genetischen Daten über mich selbst erhoben werden, sowie die Berücksichtigung der besonderen psychischen Situation, wenn eine Person ein Krankheitsrisiko befürchtet. Die prädiktive Diagnostik darf deshalb nicht als klinische Routinediagnostik, sondern nur dann durchgeführt werden, wenn eine ausreichende Vor- und Nachbetreuung mit umfassender Beratung gewährleistet ist. Der Schutz der Privatsphäre und das "informationelle Selbstbestimmungsrecht" der individuellen Person sind dabei zu wahren und zu schützen. Es gibt kein Recht, das erlaubt, daß jeder alles über jeden weiß, von dem er etwas wissen möchte. Niemals dürfen deshalb Staat und Gesellschaft Zwang und Druck zu prädiktiver Diagnostik und genetischen Tests ausüben. Unerläßlich ist ebenfalls die Wahrung der Vertraulichkeit von Diagnosen und der Schutz genetischer Daten gegenüber Dritten.

Das Gemeinsame Wort hat sich in einem Anhang mit einer neuen Methode der Pränataldiagnostik auseinandergesetzt: der Präimplantationsdiagnostik, d.h. der genetischen Untersuchung von im Reagenzglas entstandenen Embryonen, bevor sie in die Gebärmutter eingesetzt werden. Da die medizinischen, rechtlichen und auch ethischen Aspekte dieser Methode, die in Deutschland nicht erlaubt ist (in England, Italien, Spanien und Belgien aber bereits praktiziert wird), höchst umstritten sind, hat sich der Rat der EKD und die Deutsche Bischofskonferenz damit kritisch auseinandergesetzt und einige Abwägungskriterien aufgeführt. Das Ziel der Präimplantationsdiagnostik besteht darin, genetisch defekte Embryonen zu erkennen, und genau darin unterscheidet sie sich von den anderen vorgeburtlichen Untersuchungsmethoden. Sie haben nicht ausschließlich das Ziel, Embryonen mit einer genetischen Krankheit abzutreiben, sondern dienen vor allem lebenserhaltenden Motivationen, wie ich oben darstellte.

Die Voraussetzung der Präimplantationsdiagnostik besteht in der In-Vitro-Fertilisation. Sie wurde entwickelt, um kinderlosen Eltern den Wunsch nach einem Kind zu erfüllen. In Verbindung mit der genetischen Diagnostik kann sie nun den Wunsch nach einem bestimmten Kind erfüllen. Es ist überhaupt nicht vorauszusehen, ob künftig bei jeder In-Vitro-Fertilisation eine ganze Reihe von Tests durchgeführt wird und sich auf diesem Wege einschleicht, daß nicht nur schwere genetisch bedingte Erkrankungen, sondern alle möglichen Abweichungen ausgeschlossen werden. Hier ist zu fragen: Bahnt sich nicht eine neue Eugenik an, bei der nur noch Menschen nach bestimmten Vorstellungen zur Welt kommen dürfen?

Auf diese Entwicklung aufmerksam zu machen und ihr entschieden entgegen zu steuern, ist die Aufgabe der Kirche. Wenn Menschen nicht mehr Geschöpf sein wollen, sondern sich selbst zum Schöpfer machen, dann überschreiten sie die ihnen als Geschöpf gesetzten Grenzen und verlieren dadurch das Unterscheidungsvermögen zwischen Gut und Böse. Diese biblische Wahrheit gilt für alles menschliche Wissen und Tun. Als Christen glauben wir, daß Gott uns nach seinem Bild geeschaffen hat. Und als Ebenbild Gottes ist jeder Mensch - wie immer er auch ausgestattet ist - von Gott gewollt, bejaht und angenommen.

Hannover, 1. Juni 1997
Pressestelle der EKD