Gemeinsame Erklärung zum "Sozialwort" der Kirchen

Aus Anlaß des ersten Jahrestages der Veröffentlichung des gemeinsamen Wortes

Präses Manfred Kock (EKD) / Bischof Dr. Karl Lehmann (DBK) - 25. Februar 1998

1. Am 28. Februar 1998 ist seit der Veröffentlichung des gemeinsamen Wortes der Kirchen zur wirtschaftlichen und sozialen Lage in Deutschland "Für eine Zukunft in Solidarität und Gerechtigkeit" ein Jahr vergangen. Dieses Datum ist Anlaß, Bilanz zu ziehen, zu fragen, was wir bisher mit dem Wort bewirken konnten und wie seine Anliegen zum Tragen gebracht werden können.

2. Anlaß des gemeinsamen Wortes sind die tiefgreifenden wirtschaftlichen und sozialen Herausforderungen, die Verschärfung des weltweiten wirtschaftlichen Wettbewerbs ebenso wie die hohe Arbeitslosigkeit, die Zunahme der Armut, die Schwierigkeiten und Probleme bei der Konsolidierung des Sozialstaates. Heute sind diese Herausforderungen nicht geringer geworden. Die wirtschaftlichen Anpassungsprozesse und die Härte des Wettbewerbs haben sich eher weiter verschärft. Die Arbeitslosigkeit hat einen neuen erschreckenden Höchststand erreicht. Die Perspektiven für nicht wenige Teile der Jugend haben sich weiter verschlechtert. Ihre soziale Lage ist anhaltend schwierig. Es ist zu ersten Demonstrationen von Arbeitslosen gekommen, die damit auf ihre Situation hinweisen und auf eine Verbesserung der Beschäftigungsbedingungen drängen. Das gemeinsame Wort hat in seinen Grundaussagen keineswegs an Aktualität verloren. Im Gegenteil. Die Mahnung und Ermutigung zu einem Miteinander in Wirtschaft, Gesellschaft und Politik bei der Bewältigung der anstehenden Schwierigkeiten ist heute dringlicher als noch vor einem Jahr.

3. Das gemeinsame Wort der Kirchen hat aus nahezu allen gesellschaftlichen und politischen Lagern eine große, ja demonstrative Zustimmung erhalten. Es ist gelungen, über den eigenen Bereich hinaus eine breite Diskussion in Politik, Wirtschaft und Gesellschaft über die tragenden Werte und Zukunftsperspektiven unserer Staats-, Wirtschafts- und Gesellschaftsordnung anzustoßen. Freilich wurde diese Diskussion nicht intensiv und gründlich fortgesetzt. Hinter der zustimmenden Reaktion wurden Erwartungen weiter Kreise der Bevölkerung deutlich, daß die solidarischen Strukturen unseres Gemeinwesens erhalten bleiben und am Konsensmodell Deutschland mit seinen bewährten Traditionen des gesellschaftlichen und politischen Miteinanders festgehalten werden soll. Wichtige Reformvorhaben wie die dringend nötige Steuerreform sind an Gruppeninteressen und Verweigerungsstrategien gescheitert. Der "Reformstau" zeigt den Mangel an Entscheidungsfähigkeit in unserem gegenwärtigen politischen System, nicht zuletzt im Verhältnis der Parteien untereinander, aber auch im Verhältnis von Bund und Ländern.

4. Der notwendige Konsens über gemeinsame Schritte zur Überwindung der hohen Arbeitslosigkeit in Deutschland kam nicht zustande. Es kommt auf eine sozial ausgewogene wirtschaftliche Entwicklung an. Wir teilen die Meinung von Fachleuten, die die Massenarbeitslosigkeit in Deutschland nicht als unbeeinflußbares und letztlich international bedingtes "Verhängnis" ansehen und die eine deutliche Reduzierung der hohen Arbeitslosenzahlen durch entsprechende gemeinsame Maßnahmen durchaus für möglich halten. Die hohe Arbeitslosigkeit ist als solche eine ernste Bedrohung für das gesamte Gemeinwesen. Sie ist in dem jetzigen hohen Ausmaß inakzeptabel. Wir erinnern an unsere Vorschläge in dem gemeinsamen Wort und appellieren an die Verantwortungsträger in Wirtschaft und Politik, eine neue wirksame gemeinsame Aktion für Arbeit zu beschließen und konkrete Ziele in einem begrenzten Zeitraum anzustreben.

5. Am Jahrestag der Veröffentlichung wollen wir die Anliegen des gemeinsamen Wortes noch einmal in Erinnerung rufen: Dieses Wort ist ein Plädoyer für notwendige Veränderungen im Konsens. Eine Wirtschaftsordnung, die marktbetont ist, muß zugleich eine angemessene Ordnung sozialer Strukturen enthalten, sie kann nicht erst in einem zweiten Schritt sozial "nachgebessert" werden. Die Probleme können jedoch nicht durch ein Festhalten an alten Lösungsmodellen geklärt werden. Es kommt zunächst auf die Stärkung gemeinsamer Grundhaltungen an. Unser Wort ist ein Ruf zum Teilen und zum gemeinsamen Tragen der Lasten. Dieses Wort ist der Versuch einer Ermutigung der gestaltenden Kräfte der Gesellschaft. Dazu gehört ein Erstarken der Eigenverantwortung, die nicht nur den einzelnen und gesellschaftliche Gruppen, sondern auch gesellschaftliche und politische Institutionen betrifft. Die Gefahren liegen auf der Hand, denn Wettbewerb und erst recht Globalisierung schwächen die innere Bindekraft des Sozialstaates und die ethischen Spielregeln. Hier und gerade im Einsatz für die wirklich Schwachen und Benachteiligten liegt eine unaufgebbare Aufgabe der Kirche, an die zu erinnern sicher manchem unbequem ist. Nur wenn wir diese Schwächen überwinden, läßt sich wieder überzeugend die Überlegenheit unseres sozialstaatlichen Modells neu bewähren und festigen. Das gemeinsame Wort ist ein Plädoyer für eine soziale und ökologische Marktwirtschaft, in der der Mensch das Grundmaß ist und nicht allein der Markt. Es ist zugleich aber auch eine Absage: eine Absage an eine gefährliche Aushöhlung der bewährten sozialen Sicherungssysteme, eine Absage an eine Umverteilung der Lasten vorwiegend nach unten. Das Wort ist auch eine Absage an den Geist rücksichtsloser Verfolgung individueller Interessen, der Entsolidarisierung und auch einer mangelnden sozialen Sensibilität in unserem Land. Das Prinzip einer sozial und ökologisch verpflichteten Marktwirtschaft, die sich dem Gemeinwesen, den Belangen der Menschen und der Bewahrung der Schöpfung verpflichtet weiß, ist unentbehrlich.

6. Es ist dringend nötig, daß es in Deutschland zu den erforderlichen Veränderungen und gesamtgesellschaftlichen Anpassungsleistungen kommt. Es ist unverzichtbar, daß gemeinsame Wege, die wirklich allen Seiten notwendige Opfer und Beiträge abverlangen, neu beschritten werden; die Kirchen wollen sich gerne an solchen Initiativen beteiligen. Es ist wichtig, daß es zu mehr Engagement vor Ort kommt, zu mehr Gemeinsinn, zu größerer Hilfsbereitschaft im Bereich der Familien, Nachbarn und Freunde. Eigenverantwortung und Verantwortung müssen auf allen Ebenen, gerade auch den kleinen sozialen Einheiten gestärkt werden.

7. Das gemeinsame Wort nimmt auch die Kirchen selbst in die Pflicht. Es gibt intensive Bemühungen der Kirchen, mit den Schwierigkeiten so umzugehen, daß bedrohte Stellen möglichst erhalten werden können oder doch zumindest sozialverträgliche Alternativen gefunden werden. Es geht darum, daß Solidarität in den eigenen Reihen praktiziert wird.

Hannover/Bonn/Duisburg, den 25. Februar 1998

Pressestelle der
Evangelischen Kirche in Deutschland

Pressestelle der
Deutschen Bischofskonferenz

Diese Erklärung wird zeitgleich von beiden Pressestellen veröffentlicht