tempi - Bildung im Zeitalter der Beschleunigung

Thesen zur Bildungsdebatte

16. November 2000

Wissen braucht Maß - Lernen braucht Ziele - Bildung braucht Zeit

Thesen zum Bildungskongress der Deutschen Bischofskonferenz und der Evangelischen Kirche in Deutschland am 16. November 2000 in Berlin

1. These:
Weltzeit und Lebenszeit
sind auf dramatische Weise ungleich groß.


Halten wir unsere "siebenzig, wenn's hoch kömmt achtzig Jahr' " vor den unermesslichen Hintergrund kosmischer Zeit, erscheint die eigene Lebenszeit beeindruckend kurz. So ergibt sich ein Antriebsmoment, das Leben durch Beschleunigung und Erlebnisfülle zu intensivieren. Auf das Lebenszeit-Weltzeit-Dilemma (Hans Blumenberg) als elementare Koordinate menschlichen Bewusstseins gibt die Religion eine Antwort, welche die Zeitangst beseitigen und auch den Beschleunigungsdruck wegnehmen kann. Die Verabschiedung religiöser Antworten erzeugt ihn wieder neu.

2. These:
Weltwissen und Lebenswissen
sind auf dramatische Weise ungleich groß.


Durch Mythen und Legenden konnten archaische Gesellschaften das Ganze der Welt summarisch ergreifen. Praktisches Wissen erstreckte sich auf den eigenen überschaubaren Lebensraum und seine Nachbarschaften. So entstand das Gefühl: Alles, was es zu wissen gibt, kann auch gewusst werden. Von dieser Überzeugung haben wir schon seit Jahrhunderten Abschied genommen. Die Menge des Wissbaren hat sich kontinuierlich vergrößert. Die neuen Kommunikationstechnologien jedoch führen zu einem Quantensprung, der die Menge des Wissbaren ins nahezu Unermessliche steigert. So tritt neben das Weltzeit-Lebenszeit-Dilemma ein neues: das Dilemma Weltwissen-Lebenswissen.

3. These:
Das Kriterium neuen Lernens: Aus Weltwissen muss Lebenswissen werden.


Das Internet ist zum neuen Symbol des Weltwissens geworden. Es bietet eine unübersehbare Datenfülle. Aber Daten sind noch kein Wissen. Wo alles gewusst werden könnte, kommt es vielmehr auf die Klärung der Frage an, was wir wissen wollen sollen.

Computer und Internet sind nützliche und effiziente Werkzeuge. Sie sind Hilfsmittel und weniger Gegenstand des Lernens. Schulen und andere Bildungsinstitutionen können dazu beitragen, dass die Kompetenz, sie zu nutzen, als eine dem Lesen, Schreiben und Rechnen vergleichbare Kulturtechnik möglichst allen zur Verfügung steht. Aber die Bereitstellung technischer Mittel und die Schulung, sie zu bedienen, sichern noch nicht den Lernerfolg. Der zentrale Bildungsauftrag muss lauten: Lernen, aus der unermesslichen Menge verfügbarer Daten diejenigen herauszugreifen, die lebensdienlich sind.

Die Suche nach dem rechten Wissen ist aber mehr als die Frage nach einer möglichst sachgerechten und effizienten Auswahl und Begrenzung. Weil wir mehr sind, als wir gelernt haben und jemals lernen können, brauchen wir weiter reichende Maßstäbe zur Beurteilung des Wissens. Die alte Unterscheidung zwischen Wissen und Weisheit erhält eine neue Aktualität.

4. These:
Die neuen Kommunikationstechnologien machen alles effizienter und schneller.


Der Computer ist ein super-tool. Durch seine immer größeren Berechnungskapazitäten ist er geeignet, schlechterdings alles, was in einem funktionalen Zusammenhang steht, zu strukturieren und zu optimieren. So werden ganze Kontinente neuer Gestaltungsmöglich-
keiten erschlossen (Gentechnik, Nanotechnik etc.). Nicht nur Wissenschaft und Technologie profitieren von dem neuen Medium. Alle Arten von Logistik in Politik und Verwaltung, Militär- und Finanzwesen werden durch das neue Super-Werkzeug optimiert und beschleunigt. Die Auswirkungen auf die Wissenschaft und ihre Anwendungen führen zu einer rasanten Beschleunigung. Wissen und Machen sind untrennbar verbunden. Junge Menschen müssen dazu ausgebildet werden, in dieser Welt der neuen Technologie gut zu bestehen - sie müssen so gut gebildet sein, dass sie sie beherrschen können.

5. These:
Die Verbindung von Marktwirtschaft und neuen Medien bewirkt eine Beschleunigung der Beschleunigung.


Seit dem Kollaps des machtgestützten planwirtschaftlichen Ökonomismus hat sich die Marktwirtschaft global durchgesetzt. Als System von Wettbewerb, Innovation und Wachstum belohnt sie die Schnellsten. Marktwirtschaft beschleunigt. In den neuen Kommunikationstechnologien steht ihr ein Motor von bisher nicht gekannter Kraft zur Verfügung. Es kommt zu einer Beschleunigung der Beschleunigung. Warenumlauf und Produktionszyklen werden immer kürzer. Die so ablaufenden Prozesse scheinen sich selbst zu organisieren. Adam Smith hat dafür die Metapher von der "unsichtbaren Hand" gefunden. Die "unsichtbare Hand" aber hat keinen Kopf.

6. These:
Ein Totalitarismus neuen Typs: Der subjektlose Funktionalismus erobert alle Lebensbereiche.


Das klassische Feld der Ökonomie beschränkte sich auf Warenverkehr und Dienstleistungen. Immer mehr kommt es zu Übersprungeffekten, die nahezu alle Lebensbereiche erfassen. Der Gegensatz von Arbeit und Feierabend verschwimmt. Tourismus, Freizeit und Unterhaltung sind industrialisiert. Sport, Kultur- und Kunstbetrieb sind kommerzialisiert. Selbst in die Privatsphäre dringt die funktionalistische Frage ein: Was habe ich davon? Es droht eine "Kolonialisierung" (Jürgen Habermas) und Industrialisierung der Lebenswelt als ganzer. Nun steht die Industrialisierung der Bildungsinstitutionen auf der Tagesordnung.

7. These:
Der biblische Monotheismus widerspricht jedem Totalitarismus.


Die Frage wird unabweisbar: Gibt es gegenüber dem allgegenwärtigen Funktionalismus überhaupt noch ein Außerhalb? Die Antwort: Der Gott der Bibel ist das Andere des Funktionalismus.

Die jüdische Aufklärung des Alten Testaments war eine Religionskritik an den selbst gemachten Göttern des Polytheismus. Diese Götter wurden erkannt als Verlängerungen menschlicher Bedürfnisse und Interessen. An ihre Stelle tritt ein Gott, der nicht ausgerechnet und manipuliert werden kann. Gegen alle Ideologien der totalen Erklärbarkeit und Machbarkeit stellt er seinen Vorbehalt, dass die letzten Dinge ihm gehören und nicht den Menschen. So sorgt der Gott der Juden und Christen für Offenheit und schützt das Subjekt.

8. These:
Das Sabbatparadox: Zeit hergeben heißt Zukunft gewinnen.


Arbeiten heißt: Zwecke verfolgen. Die Einsetzung des Sabbats unterbricht und suspendiert das Kontinuum des funktionalen Nutzens. Er ist ein Zeichen des göttlichen Vorbehalts: Weil wir die letzten Zwecke nicht kennen können, dürfen wir nicht alles machen wollen. Der Sabbat übt die Abstinenz vom Machen-Müssen ein. Der Sabbat und der Sonntag, der ihn beerbt, entschleunigen. Als Zeitzeichen Gottes nehmen Sonntag und Sabbat den Gläubigen Zeit- und Lebensangst. Der Mensch muss nicht der verantwortliche Besitzer aller Zeit sein und alles machen.

Neben dem religiösen haben Sabbat und Sonntag aber auch ein säkulares Gesicht: Der kurze Horizont des gebückten Arbeiters weitet sich zum Gesichtsfeld des Müßigen, der nun Zeit hat, sich und seine Sachen zu bedenken. Der Sabbat installiert die Reflexion. In fast 3000 Jahren hat er bewiesen, dass er "übernützlich" (Thomas Mann) ist. So wird er zur Quelle kulturellen Lebens, sozialer und technischer Errungenschaften. Darin liegt ein trans-funktionalistisches Paradox: Die Aufhebung des Zwangs zur Arbeit gibt dem Nutzenkalkül ein positives Vorzeichen. Sie ermöglicht die Frage nach dem Nutzen des Nutzens und eröffnet die lange Perspektive. Die Pointe: Wissenschaft, Technik und Wirtschaft profitieren vom Sabbat.

9. These:
Bildungsgesellschaft statt Wissensgesellschaft: Im Zeitalter der Beschleunigung ist verstärkt die Sonntagsperspektive zu nutzen.


Wissen und Lernen sind Funktionsbegriffe. Wissen wird zunehmend als ökonomische Ressource der "New Economy" betrachtet. Ein nur an Zeit und Geld gekoppeltes Lernen kann inhaltlich indifferent werden und Maßlosigkeit produzieren. Bildung dagegen fragt nach Inhalt und Maß. Sie stellt den Menschen in den Mittelpunkt und ist mehr als die Produktion von Humankapital. Das letzte Kriterium der Ökonomie ist der Gewinn. Das oberste Kriterium der Bildung aber ist das gute Leben.

Der Mensch als Ressource der Wirtschaft soll mobil sein und disponibel. Doch er braucht Wurzeln und Beheimatung. Sein Tempo ist nicht automatisch das der beschleunigten Ökonomie. Der Warenumlauf mag schneller und schneller werden. Deswegen wird niemand schneller erwachsen. Die hohe Wandlungsgeschwindigkeit der Arbeitswelt macht eine Orientierung am Status quo der Wirtschaft fragwürdig. Die notwendige Beachtung der unterschiedlichen Tempi von Leben und Ökonomie gibt den nachhaltigen Erziehungszielen und Schlüsselqualifikationen eine deutliche Priorität.

10. These:
Tempi - Jedes Ding hat seine Zeit.
Jeder Mensch braucht seine Zeit.


Die Forderung nach einer Reform des Ausbildungssystems für die neuen Bedürfnisse des sich wandelnden Beschäftigungssystems ist legitim. Das kann bedeuten, Zeit zu sparen und Unwesentliches aus Lehrplänen und Studienordnungen zu streichen. Das kann gleichzeitig bedeuten, bleibenden Bildungsinhalten mehr Zeit als bisher einzuräumen. Beide Gesichtspunkte müssen in die Debatte über Schul- und Studiendauer einfließen. Wer jungen Menschen die Gelegenheit gibt, früh Verantwortung zu übernehmen, dient nicht nur ihnen, sondern der gesamten Gesellschaft.

Die Wirtschaft ist die funktionale Basis unseres Lebens, aber sie ist nicht das ganze Leben. Daher dürfen Ziele und Inhalte der Bildung nicht allein nach Nützlichkeitskriterien für die Wirtschaft bestimmt werden. In der Schule darf es keinen Verdrängungskampf der "harten" gegen die "weichen" Fächer geben, noch immer haben sich diese angeblich weichen Fächer als die bestandskräftigsten in der Bildungsgeschichte erwiesen.

Bildungsinstitutionen, welche die Subjektwerdung des Menschen fördern sollen, müssen Frei- und Spielräume bereitstellen. Sie müssen zum Lernen einladen. Zeit zum Lernen ist geschenkte Zeit. Aber auch geschenkte Zeit kostet und verpflichtet.

Die Lehrenden müssen Motivation und Freude am Lehren bewahren können. Eine plurale Bildungslandschaft ist zu fördern, in der nicht nur um den effektivsten Wissensbesitz konkurriert wird, sondern auch um die Entfaltungsmöglichkeiten eines jeden Lernenden in allen Zeitaltern seines Lebens.

In Zeiten der Beschleunigung werden stabilisierende, allgemein geltende Orientierungen und Maßstäbe zum knappen Gut und daher wertvoll. So müssen Bildungsinstitutionen "übernützliche" Inhalte im Blick haben, die der kollektiven Erinnerung und dem kulturellen Zusammenhalt dienen.

Es muss Sonntagsinseln und Sabbaträume geben. Das Bewusstsein für Zeit und Zeiten ermöglicht den weiten Blick auf die Zukunft: auf die nächsten Dinge ebenso wie auf die übernächsten und die letzten.

Immer gilt: Tempi - Jedes Ding hat seine Zeit, jeder Mensch braucht seine Zeit.

Zu beziehen über:
Zentralstelle Bildung der Deutschen Bischofskonferenz,
Kaiserstraße 163, 53113 Bonn
Abteilung Bildung im Kirchenamt der Evangelischen Kirche in Deutschland,
Herrenhäuser Straße 12, 30419 Hannover

Hannover, 16. November 2000
Pressestelle der EKD