Predigten

Predigt des Kulturbeauftragten des Rates der EKD zur seiner Amtseinführung in der St. Matthäus-Kirche Berlin

Johann Hinrich Claussen, Kulturbeauftragter der EKD

25. Februar 2016

Es gehört zur Kultur der Predigt, dass man diese besondere Sprechgelegenheit nutzt, aber nicht ausnutzt. Dass man sie nutzt, um sich als Prediger mit der Gemeinde vor Gott in ein Verhältnis zu setzen. Dass man sie nutzt, um sich wechselseitig und im Spiegel von Gottes Wort kennenzulernen. Dass man sie aber nicht benutzt für persönliche oder institutionelle Absichten höherer oder niederer Art, dass man sie nicht ausnutzt für kirchen- oder sonstwie politische Zwecke. So möchte ich die Predigt zu meiner Einführung nicht verzwecken - werde also kein Programm verkünden, kein Konzept präsentieren, keinen Maßnahmenkatalog vorstellen. Das alles habe ich ja auch noch gar nicht. Das möchte ich erst entwickeln und zwar nicht im homiletischen Monolog, sondern im Gespräch mit anderen.

„Kulturbeauftragter des Rates der Evangelischen Kirche in Deutschland“ – diesen nicht ganz unsperrigen Titel trage ich nun. Er löst zweierlei bei denen aus, mit denen ich mich so vorstelle. „Ah, Kultur, “ sagen sie mit einem Lächeln, „wie schön!“, um dann nach einer Höflichkeitspause zu fragen: „Und was machen Sie da so genau?“ Nun bin ich zum Glück das Tragen sperriger und unverständlicher Titel gewohnt. In Hamburg war ich „Propst“. Die meisten wussten nicht, was das ist: „Irgendetwas mit Verwaltung“, mutmaßten sie. Da ist „Irgendetwas mit Kultur“ schon besser.

Als Propst habe ich aber diese Erfahrung gemacht: Wenn Kollegialität gelingt, kann man viele Frage beantworten. Wenn unsere Kollegialität gelingt, dann werden wir gemeinsam bald sagen können, wozu ich als „Kulturbeauftragter“ gut bin. Deshalb bin ich so neugierig auf Sie, freue mich auf die Gespräche mit Ihnen und vielen, die heute nicht da sind und die ich noch gar nicht im Blick habe, mit denen wir im Kulturbüro gemeinsam das weite Feld von Kirche-Glaube-Kunst-Kultur erkunden und bestellen können. Heute wird einem ja eingeredet, dass Konkurrenz die beste Stimulanz ist, dass nur der Wettbewerb zu Höchstleistungen antreibt. Ich halte das für eine Lüge, zumindest in der Kirche und in der Kultur. Ich meine, dass es hier – bei Lichte betrachtet – gar keine Konkurrenzen gibt und alles abhängt von gelingender Kollegialität. Das also wünsche ich mir vor allem: eine gute Zusammenarbeit mit Ihnen!

Damit Sie mich in diesem Gottesdienst aber ein bisschen kennenlernen, will ich Ihnen etwas zeigen, was ich mitbringe und was zu meiner neuen Aufgabe gehört. Es ist etwas, das ich im vergangenen Jahr gefunden habe. Wenn es um Kultur geht, mag ich das große, allgemeine Reden nicht. Das mag ich auch nicht, wenn es um den Glauben geht. Der britische Literaturwissenschaftler Idris Parry hat einmal gesagt: „In der Kunst“ – und ich ergänze: im Glauben – „ geht es nicht um Abstraktionen, letzte Dinge, Unendlichkeit oder Ewigkeit. Kunst handelt von Knöpfen.“ Damit wollte er sagen, dass der Sinn der Kunst “ – und ich ergänze: der Sinn des Glaubens – sich nicht in allgemeinen Erörterungen erschließt, sondern in der Betrachtung eines individuellen Dings, in der Betrachtung einer konkreten Erfahrung.

Und dies ist nun mein Kunstglaubensknopf: Im vergangenen Sommer waren wir in San Francisco, dort gibt es „City Lights“, einen legendären Buchladen, der eine ganze Etage nur für Gedichte hat (ich bin gespannt, welche Buchhandlungen ich in Berlin entdecken werde), dort wäre ich gern den ganzen Tag geblieben, doch die kleinfamiliäre Reisegruppe ließ dies nicht zu, so griff ich zumindest nach einem besonders schön aussehenden Buch. Es sind die gesammelten Gedichte von Mark Strand. Dieser war ein halbes Jahr zuvor verstorben, das literarische Amerika war darüber aufrichtig traurig gewesen. Strand war ein großer Dichter und  ein – wie das Foto auf der Rückseite zeigt – schöner alter Mann. Zu seinen bekannteren Werken gehört ein Buch über Edward Hopper. Die Bilder von Hopper und die Gedichte von Strand haben viel gemeinsam: Sie besitzen eine kühle Wärme, sie strahlen eine lichte Melancholie aus, sie sind zugleich einfach und geheimnisvoll.

In diesem Band seiner gesammelten Gedichte bin ich weit am Ende auf etwas gestoßen, das ich von diesem Autor nie erwartet hätte: einen Zyklus zu den sieben letzten Worten Jesu am Kreuz. Für diesen Gottesdienst habe ich versucht, sie zu übersetzen. Denn für mich zeigen sie, warum der Glaube die Kunst braucht und inwiefern auch die Kunst vom Glauben nicht loskommt. Zugleich, dachte ich, passen diese Gedichte in diesen Gottesdienst, der ja auch eine Passionsandacht ist – und für jede Passionsandacht ist stets eins der sieben Worte am Kreuz vorgesehen. Und schließlich, so hoffe ich, passen die beiden Gedichte, die ich gleich lesen werde, zu diesem Raum, der Matthäus-Kirche mit den Fotogemälden von Christopher Thomas aus den Passionsspielen von Oberammergau. Wenn ich nun das erste Gedicht lese, lassen Sie gern den Blick schweifen.

III.

Die Geschichte über das Ende, über das letzte Wort

vom Ende, ist eine Geschichte, die niemals endet.

Wir erzählen sie, erzählen sie wieder – ein Wort, dann noch eins,

bis es scheint, dass kein letztes Wort möglich ist,

dass keins zu ertragen wäre. Also, wenn der Held

der Geschichte zu sich sagt, als spräche er zu jemandem weit entfernt,

„Vergib ihnen, denn sie wissen nicht, was sie tun“,

könnten wir das Gefühl haben, dass er für uns bittet, dass wir

das geheime Leben der Geschichte sind und dass wir, so lange

seine Bitte ohne Antwort bleibt, verschont werden. Also geht

die Geschichte weiter. Also geht es mit uns weiter. Und das Ende,

noch einmal, wird das nächste und übernächste.

Was auffällt, ist zunächst das, was fehlt: all die bekannten Wörter der kirchlichen Tradition – Kreuz, Leiden, Jesus, Gott. Es sind andere, eigenständige Worte. Sie sind einfach, aber nicht leicht zu entschlüsseln. Sie lassen sich nicht zuordnen, weder einem Theismus noch einem Atheismus. Sie klingen dunkel-düster, aber in ihnen lebt auch ein Staunen, eine Art Ehrfurcht. Sie scheinen sich vor den alten Worten zu verneigen, sind darin aber ganz frei, sie schreiben sie ins Freie hinaus, machen aus ihnen etwas Neues, Eigenes. Dabei deuten und erklären sie nichts, vielmehr schweben sie und bringen ins Schweben. Dadurch aber nehmen sie den Leser hinein in diese Geschichte, deren geheimes Leben vielleicht gerade sie, die Leser, sind, dieser Geschichte über das Ende, die kein Ende haben wird. So hören wir sie, so erzählen sie in schwebender Ratlosigkeit weiter – ohne die rettende Auflösung in der Hand zu haben. Wir erzählen sie weiter, weil sie unsere Geschichte ist, deren Ende wir nicht kennen. Und ein Ende stößt das nächste an und das übernächste.

IV.

Für den heutigen, dritten Mittwoch ist das dritte Wort Jesu am Kreuz vorgesehen. Es hat Mark Strand zu diesen Versen inspiriert.

Irgendwann wird irgendjemand eine Geschichte schreiben,

die unter anderem von einem Abschied erzählt von Mutter

und Sohn, wie sie davon ging, wie er sich in Luft auflöste.

Aber bevor das geschieht, wird sie beschreiben,

wie ihre Gesichter leuchteten mit einem schwachen Licht, und wie

es den Sohn drängte zu sagen, „Frau, siehe, das ist dein Sohn“,

dann zu einem Freund in der Nähe, „Sohn, siehe, das ist deine Mutter“.

An dieser Stelle wird der Schriftsteller seinen Stift hinlegen

und sich vorstellen, dass – während diese Worte gesprochen wurden –

irgendetwas anderes geschieht, irgendetwas Ungewöhnliches wie

wenn eine Absicht offenbart, ein Geheimnis ausgetauscht wird,

eine Wahrheit, an die beide, Mutter und Sohn, gebunden wären, aber

worin sie bestand, würde keiner wissen. Nicht einmal der Schriftsteller.

Dieses letzte Wort ist kein letztes Wort. Es ist kein Wort, das abschließt, sondern eines, das eröffnet. Es nimmt nicht Abschied, es bricht auf, es setzt einen Anfang. Worin dieser besteht, ist nicht zu sagen. Es geht um einen Menschen, der zwei andere so miteinander verbindet, dass etwas entsteht: ein geteiltes Geheimnis, eine Wahrheit, die beide verbindet und bindet – worin sie besteht, aber weiß nicht einmal der Schriftsteller, auch der Prediger weiß es nicht. Aber gemeinsam sind sie berufen, sind sie gelockt, diese Wahrheit zu suchen und zu erfahren, sie zu ergründen und zu genießen. Denn dieser Abschied ist ein Aufbruch. Also geht die Geschichte weiter.

Es gilt das gesprochene Wort!