Das gemeinsame Wort zur wirtschaftlichen und sozialen Lage als Beispiel ökumenischer Kooperation

Manfred Kock

25. Juni 1998, Bonn, Anläßlich der gemeinsamen Johannisfeier von Johannitern und Maltesern

Meine sehr geehrten Damen und Herren!

Dankbar bin ich, an diesem ökumenischen Ereignis teilnehmen zu können: Johanniter und Malteser bei ihrer gemeinsamen Feier. Die Realität ökumenischer Gemeinschaft wird durch diese Gemeinsamkeit unterstrichen. Es mag in der Tagesarbeit auch Wettbewerb geben zwischen den Hilfsorganisationen, in ihren Zielen und ihren Wurzeln aber ist die Verbindung stark.

Das mir gegebene Vortragsthema beschreibt ein anderes Beispiel ökumenischer Kooperation: Das gemeinsame Wort zur wirtschaftlichen und sozialen Lage mit dem Titel "Für eine Zukunft in Solidarität und Gerechtigkeit".

Für das kommende Jahrhundert wird die Fähigkeit der Kirchen zur Überwindung ihrer Trennungen von entscheidender Bedeutung sein.

Unsere plurale, gespaltene Gesellschaft braucht die Kirchen besonders insofern, als diese im Umgang mit ihrer Spaltung Beispiel für versöhntes Miteinander geben können. Unter uns muß eine gute Streitkultur entwickelt werden, damit diese Gesellschaft in den Wert- und Zielvorstellungen der christlichen Überlieferung Hoffnungszeichen inmitten der gesellschaftlichen Orientierungslosigkeit erkennt.

Würden wir Hoffnungszeichen durch Streit verdunkeln, wäre ein wesentlicher Teil unseres Auftrags versäumt.

Das Ziel der ökumenischen Bemühungen kann nicht Rückkehr oder organisatorische Uniformität sein. Das Ziel ist Gemeinschaft und Respekt voreinander in der Vielfalt unserer Herkünfte.

Dieses Ziel ist nicht utopisch. Wir haben vielmehr ganz entscheidende Schritte getan und gehen auf diesem Weg kontinuierlich weiter.

Die Zusammenarbeit Ihrer beiden Organisationen beweist das und eben auch das "Gemeinsame Wort", das ich unter diesem Anspruch der Gemeinsamkeit der Kirchen beschreiben will.

Das gemeinsame Wort der Kirchen zur wirtschaftlichen und sozialen Lage ist, wie der Journalist Jens Gundlach einmal geschrieben hat " ... eine gründliche Denkschrift zur Reform der sozialen Marktwirtschaft. Die Grobarchitektur des gesellschaftspolitischen Umbaus sieht vor, daß im renovierten Haus alle einen menschenwürdigen Platz finden. Die Denkschrift ist eine selbstbewußte Herausforderung an die gestaltenden Kräfte in Staat und Gesellschaft."

Inofern ist es ein Plädoyer für notwendige Veränderungen im Konsens, für einen neuen Gesellschaftsvertrag, für gemeinsame Anstrengungen bei der Bewältigung der gegenwärtigen Herausforderungen. Es ist ein Ruf, zu teilen und die Lasten gemeinsam zu tragen. Dieses Wort ist der Versuch einer Ermutigung der gestaltenden Kräfte der Gesellschaft, einer Ermutigung zu einem Umbau und einer Modernisierung des Sozialstaates. Es ist ein Plädoyer für eine soziale und ökologische Marktwirtschaft, in der der Mensch das Grundmaß ist und nicht allein der Markt. Es ist zugleich eine Absage an die fortschreitende Privatisierung aller sozialen Lebensrisiken, an eine Aushöhlung unserer bewährten sozialen Sicherungssysteme. Das Wort ist auch eine Absage an den Geist der Singularisierung, der Entsolidarisierung und der sozialen Kälte in unserem Land.

Das gemeinsame Wort ist - wie dies ein Unternehmer einmal formuliert hat - ein "Versuch der Kirchen zu zeigen, wie Gesellschaft funktioniert und was die Gesellschaft zusammenhält."

Reaktionen

Seit dem Tag der Veröffentlichung hat das Wort der Kirchen eine beispiellose Erfolgsgeschichte geschrieben, es hat aus nahezu allen gesellschaftlichen und politischen Lagern eine große, ja demonstrative Zustimmung bekommen. Es ist den Kirchen gelungen, eine breite Diskussion in Kirche, Gesellschaft und Politik anzustoßen über die tragenden Werte unserer Staats-, Wirtschafts- und Gesellschaftsordnung. Hinter der zustimmenden Reaktion wurden Erwartungen breiter Kreise der Bevölkerung deutlich, daß die solidarischen Strukturen unseres Gemeinwesens erhalten bleiben und am Konsensmodell Deutschland mit seinen bewährten Traditionen des gesellschaftlichen und politischen Miteinanders festgehalten wird.

Der Text der Schrift ist bisher 500.000 Mal verteilt und in der Zwischenzeit in vier Sprachen übersetzt worden.

Die Gesamtzahl der Veranstaltungen allein zum Gemeinsamen Wort wird heute auf etwa 4000 geschätzt. Es wurden Arbeitshilfen, Kurzfassungen, Infobriefe und unterschiedliche kirchliche Publikationen mit dem Inhalt des Gemeinsamen Wortes vorgestellt und auch multipliziert.

Die Zielrichtung bei all diesen Initiativen ist: das Eintreten gegen Arbeitslosigkeit und Armut, die Erhaltung des Sozialstaates, die Erhaltung und Förderung des regionalen Standortes, das Engagement für Obdachlose, für Übersiedler, für die benachteiligten Jugendlichen, für soziale Gerechtigkeit und wirtschaftliche Verantwortung.

Einige neoliberale Kreisen der Wirtschaft haben sich längst auf das Papier eingeschossen und sprechen unvorsichtigerweise von der Inkompetenz der Kirche in wirtschaftlichen Fragen, von "Widersprüchen" bei den Aussagen, von der Überbetonung des Verteilungsgedankens, von dem Fixiertsein auf "Sozialarbeiterthemen" (wie z.B. die Armut), von dem "Schüren des Sozialneides". Diese Kritik scheint mir wichtig, denn die sie äußern, lassen oft ein monistisches Wirtschaftsverständnis erkennen: Die Wirtschaft sei der Bereich, der alles regele und bestimme; man dürfe sie nicht stören, nicht belasten und ihr nicht dreinreden; sie würde die Probleme schon lösen.

Beide Kirchen hingegen vertreten ein kooperatives Verständnis von Wirtschaft: Ökonomie, Gesellschaft, Kultur und auch Ökologie gehören zusammen. Die Wirtschaft ist für den Menschen da und nicht der Mensch für die Wirtschaft.

Im Verlauf des Konsultationsprozesses ist ein hohes Maß an Solidarität und Anteilnahme mit dem Schicksal von Arbeitslosen zutage getreten. Es haben sich Initiativen und Gruppen gebildet, die einen wirksamen Beitrag der praktischen Unterstützung und Solidarität leisten wollen, und es ist eine Vielzahl konkreter, auch unkonventioneller Maßnahmen der Hilfe und Unterstützung bis hin zu persönlichen materiellen Verzichtsleistungen in Gang gekommen."

Vieles hat sich leider auch nicht bewegt, auch in den Kirchen selbst, aber die vielen Initiativen, die zahllosen Diskussionveranstaltungen, die Aktivitäten, sie sind immerhin beachtlich und jede neue Initiative ist ermutigend.

Beispiel ökumenischer Kooperation

Wollte ich sagen, die Vorbereitung des Konsultationsprozesses, seine Durchführung, die Erarbeitung des gemeinsamen Wortes und seine Diskussion seien ein gutes Beispiel für eine gelungene ökumenische Zusammenarbeit gewesen, so wäre dies eine Untertreibung. Der gemeinsame Konsultationsprozeß mit der katholischen Kirche, das gemeinsame Ringen um ein sozialethisches und gesellschaftliches Profil, dies dürfte für das Miteinander der Kirchen im Nachkriegsdeutschland einzigartig sein. Es sind nicht nur gemeinsame Initiativen zustande gekommen und nicht nur Freundschaften entstanden und neue "Traditionen ökumenischer Kooperation" begründet worden, es hat auch eine Bewegung in den theologisch ethischen Kernfragen gegeben. Wir sind zu gemeinsamen Aussagen gekommen, die vor etwa zehn Jahren in dieser Form für ein gemeinsames Wort noch undenkbar gewesen wären.

Zu den wirtschafts- und sozialpolitischen Streitfragen gibt es nicht die evangelische Position im Unterschied zur katholischen. Das macht Mut, auch auf anderen Gebieten zu entdecken, daß uns viel mehr verbindet als uns trennt.

Natürlich war nicht alles von Anfang an reine Harmonie. Es ist kein Geheimnis, daß es bei der Vorbereitung der Diskussionsgrundlage in dem evangelisch-katholischen Ausschuß heftige Kontroversen gegeben hat.

Die Tradition der katholischen Soziallehre argumentiert in schöpfungstheologisch-naturrechtlich geprägten Kategorien, während die dem überweigend lutherischem Erbe verpflichtete EKD von Luthers Rechtfertigungs- und Zwei-Reiche-Lehre her denkt.

Mit großer Erleichterung dürfen wir heute feststellen, daß die Kirchen bei ihren historischen Prägungen nicht stehen geblieben sind, sondern große Schritte aufeinander zu gegangen sind, von einander gelernt haben und in einer letztlich verblüffenden Weise Gemeinsamkeit gewagt haben.

Das "Gemeinsame Wort" entfaltet auf der gemeinsamen theologischen Grundlage fünf Orientierungen:

  • das Doppelgebot der Gottes- und Nächstenliebe (Ziff. 103/106),
  • die vorrangige Option für die Armen, Schwachen und Benachteiligten (Ziff. 105-107) als zentrale Konkretion der Einheit von Gottes- und Nächstenliebe,
  • soziale Gerechtigkeit (Ziff. 108-114) als ein übergeordnetes Leitbild.
  • Solidarität und Subsidiarität (Ziff. 115-121) als tragende Prinzipien, die für die Beziehung zwischen Individuen und Gruppen ebenso gelten wie für die internationalen Beziehungen.      
  • Nachhaltigkeit (Ziff. 122-125) als die Solidarität mit den zukünftigen Generationen.


Auf der Basis dieser fünf ethischen Orientierungen benennt das Sozialwort den gesellschaftlichen Grundkonsens, der zu bekräftigen und zu erneuern ist.

Grundkonsens meint nicht Harmonie, sondern ein ausreichendes Maß an Übereinstimmung trotz verbleibender Gegensätze (Ziff. 127).

Im einzelnen werden sechs Elemente eines solchen Grundkonsenses entwickelt:

  • die universale Achtung der Menschenrecht (Ziff. 130-135),
  • das Verständnis der Bundesrepublik als freiheitlich-soziale Demokratie (Ziff. 136-141),     
  • die ökologisch-soziale Marktwirtschaft (Ziff. 142-150) als ökonomische Rahmenordnung,   
  • das nicht juristisch einklagbare, aber moralische Menschenrecht auf Arbeit (Ziff. 151-155) und ein sich daraus ergebendes neues Verständnis von Arbeit und Arbeitsteilung,     
  • neue Formen von Solidarität und Sozialkultur (Ziff. 156-160),     
  • Wahrnehmung internationaler Verantwortung (Ziff. 161-165) und ihre strukturelle Umsetzung.

Die breite Zustimmung in Öffentlichkeit und Politik hat über die unter den Kirchen gewonnene Gemeinsamkeit hinaus gezeigt, daß es dem Wort der Kirchen gelungen ist, den Grundkonsens in der Gesellschaft zu befestigen oder, wo das nötig war, neu zu stiften. Man darf die breite Zustimmung nicht vorschnell unter Verdacht stellen. Der Vorrat an gemeinsamen Überzeugungen, die eine Gesellschaft zusammenhalten und ihr Orientierung geben, ist nicht sehr groß. Er muß immer wieder aufgefüllt und erneuert werden. Wir leben in einer Zeit, in der kaum noch etwas selbstverständlich gilt. Auch das scheinbar Selbstverständliche bedarf fortwährend der Vergewisserung.

Das Wort zur wirtschaftlichen und sozialen Lage hat einen wirkungsvollen Beitrag dazu geliefert, daß die Kirchen wahrgenommen werden als Schutzmacht von Solidarität und Gerechtigkeit und als Fürsprecher der Armen und Benachteiligten. Auf dem Boden der biblischen Texte kann und darf die Kirche nichts anderes sein und sein wollen als dies.

So ist dieses Beispiel der ökumenischen Kooperation ein Hoffnungszeichen, das den Menschen vermittelt, was Kirchen sein können:

  • Orte der Orientierung, an denen aus dem christlichen Glauben heraus das Fragen nach Sinn und Ziel des menschlichen Lebens und des Lebens der Gesellschaft wachgehalten wird;
  • Orte der Wahrheit und der realistischen Sicht des Menschen, wo Ängste, Versagen und Schuld nicht vertuscht werden müssen, weil um Christi willen immer wieder Vergebung und Neuanfang geschehen;
  • Orte der Umkehr und Erneuerung, an denen Menschen sich verändern, auf ihre Mitmenschen und ihre Nöte aufmerksam werden und alte Verhaltensweisen ablegen;
  • Orte der Solidarität und Nächstenliebe, an denen untereinander und für andere die je eigene Verantwortung bejaht und praktiziert wird;
  • Orte der Freiheit, an denen erfahren werden kann, daß Freiheit und Bindung, Selbstentfaltung und Verbindlichkeit nicht Gegensätze sind, sondern sich gegenseitig bedingen;
  • Orte der Hoffnung, an denen Perspektiven gesucht werden für eine sinnvolle Gestaltung gesellschaftlichen Zusammenlebens und an denen bei dieser Suche der Blick über das Heute hinaus geöffnet wird.