Predigt für den 10. Sonntag nach Trinitatis über Römer 9, 1-5

Manfred Kock in in Johannesburg

27. August 2000

Liebe Gemeinde,
Grüße der Evangelischen Kirche in Deutschland

in unserer Evangelischen Kirche in Deutschland wird an diesem 10. Sonntag nach Trinitatis besonders an das Volk der Juden gedacht.
Ich habe zunächst gezögert, ob ich dieses Predigtthema hier in Johannesburg aufgreifen soll. Ich habe es aber doch getan, denn diese Thematik ist eine umfassende. Sie ist von einer großen ökumenischen Bedeutung.
Wir Christen, das verbindet uns mit allen Kirchen in der ganzen Welt, haben unsere Herkunft: Der Mann aus Nazareth, Jesus Christus, nach dem wir uns Christen nennen, ist von einer jüdischen Mutter geboren und im Umfeld seines Volkes aufgewachsen.
Nichts von seinem Denken wäre erklärbar, wenn nicht Gottes Bund mit den Vätern und Müttern Israels, der Bund mit Mose am Berg Sinai als Prägung dahinter erkannt und verstanden wird. „Ich bin der Herr, dein Gott, ich habe dich aus Ägypten, aus der Sklaverei geführt - du sollst keine anderen Götter neben mir haben." Dieser Gott, der Befreier, der Erlöser ist uns von Jesus anvertraut.
Wir können in der weltweiten Ökumene diesen Dienst immer wieder tun: hinweisen auf unsere gemeinsame Herkunft. So gewiss wir unsere Mütter und Väter auch in unserer eigenen Kirche haben, so gewiss die Mütter und Väter durch die Mission in der Welt auch unmittelbare Wirkung hatten, hinter allem steht eben auch die Herkunft aus der jüdischen Tradition.

I.

Unser Gott ist der Gott Israels.
Das Volk der Juden ist Gottes Volk. Kirche und Israel gehören gemeinsam in die befreiende, erlösende, barmherzige Liebe Gottes hinein. Das haben Christen in ihrer Geschichte immer wieder vergessen. Das Volk des Herrn Jesus wurde religiös missverstanden und verachtet. Daraus folgte immer wieder gesellschaftliche Ächtung, daraus folgte immer wieder rassistische Verfolgung, und schließlich wurden sie zur Vernichtung bestimmt. Es gab kein Halten mehr.
In unserem Land, in Deutschland, ist das gerade 55 Jahre her. Selbst Juden, die getauft waren, wurden in die rassistische Verfolgung einbezogen. Christliche Verkündigung, welche die Juden verachtet, hatte eine schreckliche Wirkungsgeschichte. Es gibt diese abschüssige Bahn, Verachtung - Ächtung - Verfolgung - Vernichtung. Wir kennen diese abschüssige Bahn übrigens, nicht nur im Blick auf Israel. Sie ist die Versuchung in jeder Generation und in jedem Volk, im Blick auf andere Völker, Minderheiten, Schwache. Verachtung – Ächtung – Verfolgung - Vernichtung.

Der Apostel Paulus will uns in den drei Kapiteln des Römerbriefes in dem Kapitel 9-11 einschärfen:

  1. Der Gott Israels ist sich nicht untreu, sondern sein Wort wird sich erfüllen, wenn er einer Gemeinde aus Juden und Heiden durch das Christusgeschehen Anteil am messianischen Heile schenkt. Der freie Gott hat es so gewollt.
          
  2. Warum das jüdische Volk am Christuszeugnis scheitert, obwohl es für Gott eifert, das rührt nach Paulus daher, dass das Evangelium unter die Völker soll. Ungehorsam und Unglauben bewirkt trotzdem Segen Gottes für die Völker. Gott schenkt jetzt den Glaubenden Gerechtigkeit. Das Ende des Gesetzes ist Christus, zur Gerechtigkeit für jeden. Der Satz darf nicht auseinander gerissen werden. Nicht das Ende des Gesetzes an sich, sondern Gott schenkt von sich aus allen, die glauben, Anteil am Leben in seinem messianischen Bund.
    Das Gesetz behält seine Wirkung für Israel, behält seine vormessianische Funktion. Es bleibt Gottes Wegweisung, bis Israel als Ganzes ans Ziel kommt und Jesus erkennt als den Messias.
    Gott hat sein Volk nicht verstoßen. Die Erwählung bleibt.
          
  3. Christus ist des Gesetzes Ende.
    Dieser wunderschöne befreiende Satz wurde zum Fallstrick für die Juden. Sie galten als die Verfehler. Man konnte bald allen Hass auf sie schütten, auch alle eigenen Fehler und Minderwertigkeit. Sie waren die bequeme Ursache aller Schändlichkeiten. Das ihnen zugefügte Leid galt als eine gerechte Strafe.
    Von hinten her gesehen - von heute – sagt man zurecht: gewollt hat das kein einigermaßen Anständiger.
    Aber es geschah. Im Anfang hätte man wohl noch etwas ändern können. Darum ist es heute so wichtig, den Anfängen zu wehren. Wir erleben in Deutschland gerade wieder eine Welle von Ausschreitungen gegen Fremde, gegen Farbige, gegen Behinderte. Die Irregeleiteten bedienen sich wieder antijüdischer Vorurteile. Anders als in der Nazizeit steht die Mehrheit gegen diese Erscheinungen. Und die Behinderten, die Juden, die Fremden, die Farbigen haben das Recht und die Polizei auf ihrer Seite. Aber wir müssen den Anfängen wehren, die Folgen könnten wieder schrecklich werden.
          
    Der Apostel Paulus schreibt in den Kapiteln 9-11 des Römerbriefes, um uns Israels Erwählung und unsere christliche Berufung vor Augen zu stellen. Wir müssen uns diese Grundlagen immer wieder vor Augen führen.


II.

Die Kirche ist nicht die Gemeinde der Endzeit.
Die Gedanken des Paulus werden oft benutzt, einen Qualitätsunterschied zwischen Juden und Christen zu belegen und zu erklären. Dabei verkennt man aber einen wichtigen entscheidenden Punkt: Unsere Kirche ist nicht die von Paulus gemeinte und verkündete Endzeitkirche aus Juden und Heiden in Christus. Keine Kirche ist das. Nicht nur nicht, weil Juden das anders sehen, sondern auch, weil wir von der Erlösung noch weit entfernt sind.
Was Paulus an seinen jüdischen Brüdern und Schwestern bemängelt, ist auch unser Mangel. Gerechtigkeit als Gottes Geschenk, wo nehme wir es denn an? Pharisäer sind nicht nur eine jüdische Gruppe, es sind auch unsere Möglichkeiten, pharisäisch zu sein.
Auch wir neigen dazu, uns über andere zu erheben. Auch wir stellen unsere Leistungen, unsere sozialen und religiösen Leistungen, unsere Anständigkeit in den Mittelpunkt. Wir suchen, uns selbst in ein besseres Licht zu stellen.

Wir sind nicht die Endzeitkirche.
Wir leben in einer Zwischengeschichte. Das wurde immer wieder vergessen. Die Folgen sind für Juden qualvoll, für Christen schmachvoll.
Das rückt uns heran an die von Paulus gemeinten Juden. Sein Abschnitt kann uns in unserer Zwischengeschichte davor bewahren, uns für fertig und besser und für wissender zu halten als andere.

III.

Jesus und Paulus waren Juden und wollten es sein. Sie sind nicht ehemalige Juden, sondern sie sind Juden im Gehorsam gegen diese Berufung, wie sie sie verstanden.

Paulus beginnt in dem Abschnitt mit der Beschreibung jener unbegreiflichen Liebeserklärung. Seine Zuneigung gilt zwar allen Menschen als Kinder des einen Gottes, darum ist er ein Missionar der Völker geworden. Aber er schämt sich nicht, seine Vorliebe für Israel anzusprechen.
Wie Moses kann Paulus mit diesem Volk schimpfen, aber immer nur unter dem Vorzeichen: Gott steht zu seiner Wahl. Erst die spätere Geschichte hat die verletzte Liebesrede des Paulus in Hasstiraden umgedeutet.
Die Römer, an die Paulus schreibt, mochten wohl im jüdischen NEIN zum Messias mit einer Verneinung Israels reagiert haben. Dem gegenüber stellt Paulus fest, alle biblisch zugesagten Rechte sind auch nach Christus bleibende Rechte des Volkes.

Sie bleiben Söhne und Töchter Gottes.
Sie sind und bleiben berufen zu seiner Herrlichkeit.
Sie bleiben in Gottes Bund.

Die Gebote sind weiterhin gültige Offenbarung des Gotteswillen. Die Juden lassen sich beglücken durch Gottes Gegenwart im Gottesdienst, und sie dürfen der Erfüllung aller Verheißungen mit Zuversicht entgegen gehen als die Erben der Väter.

Zu WEM und zu WAS wollten Christen Juden noch bekehren?
Was gar könnte der Grund sein, sie zu verachten, die mit solchen Geschenken ausgestattet sind?
Rechtfertigung aus Gott jedenfalls gibt es dafür nicht und hat es nie gegeben.

IV.

Das Ende des Gesetzes? Christus ist das Ende des Gesetzes für die, die an ihn glauben. Scheinbar zeigt sich also doch ein großer Mangel Israels.
Entscheidend ist zu beachten: Dieser Satz ist nicht gegen Israel gekehrt, sondern gegen jeden, der Gnade besitzen und durch Leistung verdienen möchte.
Christus hat das Gesetz nicht abgeschafft, im Gegenteil. Er hat die Gebote in einer Weise radikalisiert, die jede Beschränkung des Glaubens auf bloße Innerlichkeit verbietet. Ein Erlebnis in Namibia: Aus verschiedenen Kirchen sind an diesem Wochenende Menschen an die Nordgrenze gefahren, nach Rundu. Der Bürgerkrieg schwappt von Angola immer wieder ins Land. Menschen werden erschossen, von Landminen zerfetzt. Christen wollen dort sein und beten. Sie bitten uns darum, sie in unser Gebet einzuschließen.
Tun des Willens Gottes ist die Konsequenz des Glaubens. Himmel und Erde werden vergehen, aber kein Jota vom Gesetz wird vergehen.
Aber Christus zeigt uns, an Gottes Barmherzigkeit teilzunehmen ist nicht durch Leistung zu erreichen, sondern ist Geschenk und wird den Glaubenden als Befreiung zugesagt.

Wir Christen sind im Reiche Gottes keine geschlossene Gesellschaft. Juden und Christen haben auf verschiedene Weise teil am gemeinsamen Bund und Auftrag.

Für Juden ist der Weg der Thora der Weg der Gesetzestreue - ihr Weg. Auch dieser Weg ist nicht der Weg der Leistungen, sondern es ist ein Weg im Geschenk.
Verbunden sind wir mit den Juden, weil so viele Verheißungen noch ausstehen. Ich bin sicher, Gott wird uns auf überraschende Weise deutlich machen, dass wir unterwegs sind. Wir werden uns noch wundern, wenn wir einst Gott schauen, wer dann in seiner Nähe ist und wer nicht. Religiöse Verachtung jedenfalls hat eine schreckliche Wirkungsgeschichte. Im Blick auf die Juden leben wir immer noch voller Scham. Wir gedenken dessen heute in diesem Gottesdienst am 10. Sonntag nach Trinitatis. Gedenken und Erinnern ist nicht Pflichtübung; wir sollten wirklich umkehren.
Das bewährt sich und erfährt seine Glaubwürdigkeit darin, wie wir heute mit anders aussehenden und anders denkenden Menschen umgehen.

Sie leben unter uns.
Sie leben vor unseren Türen.
Sie leben in unseren Städten.

Gott segne und behüte uns.

Amen