Ökumenischer Rat der Kirchen, Dekade zur Überwindung von Gewalt, Tötung von Rindern, therapeutisches Klonen

Wolfgang Huber und SWR 2 - Interview der Woche

28. Januar 2001 (12:45 - 13:00 Uhr)

SWR: Die protestantischen Kirchen beginnen am kommenden Wochenende in Berlin weltweit die Dekade zur Überwindung von Gewalt. Zudem tagt ab heute abend der Zentralausschuss des Ökumenischen Rates der Kirchen in Potsdam. Bischof Huber, was soll diese Dekade zur Überwindung von Gewalt überhaupt bewirken?

W.H.: Dekade heißt ja zehn Jahre, in denen im Zentrum des gemeinsamen christlichen Engagement nicht nur von evangelischen, sondern hoffentlich auch von vielen orthodoxen Christen, aber doch auch unter Beteiligung anderer christlicher Kirchen und Gemeinschaften, der Abbau von Gewalt im Geist der Versöhnung, dieses Eintreten für gewaltfreies Zusammenleben, einen wichtigen Akzent bildet. Zehn Jahre, das zeigt zugleich, niemand von uns denkt in einer blauäugigen Weise, dass man Gewalt leichthin überwinden kann. Sie bleibt eine beständige Bedrohung des menschlichen Zusammenlebens. Aber es ist unsere Verantwortung dazu beizutragen, dass Gewalt abgebaut wird, dass ihr auch jede Legitimität entzogen wird, und dass wir auch versuchen andere Wege des Zusammenlebens zu finden.

SWR: Das Thema "Kirchen und Gewalt" ist kein einfaches. Pfarrerinnen und Pfarrer, Bischöfe haben Waffen gesegnet zu früheren Zeiten. Der ÖRK hat teilweise Befreiungsbewegungen in Afrika unterstützt. Kann die Kirche wirklich ein Zeugnis der Gewaltfreiheit uneingeschränkt geben?

W.H.: Wir wissen selber, dass es Situationen der Gewalt gibt, in denen Christen auch sehr ernsthaft vor der Frage der Gegengewalt stehen. Es hat sich ja so ergeben, dass die Eröffnung der "Dekade zur Überwindung von Gewalt" genau am 95. Geburtstag Dietrich Bonhoeffers stattfindet. Der ist auf der einen Seite, im Bereich unserer Kirche die wichtigste Informationsquelle für den Gedanken der Gewaltfreiheit. Dieser Dietrich Bonhoeffer, der um sein Leben gerne zu Gandhi nach Indien gefahren wäre. Trotzdem stand er dann vor der Situation, dass angesichts der Verbrechen des Naziregimes Untätigkeit selber, ihn nur tiefer in die Schuld hineingezogen hätte, so dass er sich dazu entschloss, sich an der Veschwörung gegen Hitler zu beteiligen. Also sieht man daran, es gibt Situationen, in denen es nicht darum gehen kann, selber saubere Hände zu behalten, sondern etwas Wirksames zu tun, um der Gewalt ein Ende zu machen. Das gehört mit zum Nachdenken über die Frage: "Wie Gewalt überwunden werden kann?"

SWR: Heißt das schlussendlich: "Die Gewalt ist ein Mittel zur Überwindung von Gewalt. Ein letztes, allerletztes Mittel?"

W.H.: Man kann nicht ausschließen, dass es Situationen gibt, in denen dies als äußerstes Mittel eingesetzt werden muss. Aber die vorrangige Aufgabe von Christen besteht darin, Beiträge dazu zu leisten, dass es so weit nicht kommt.

SWR: Um welche Konflikte soll es denn beispielsweise konkret in den nächsten zehn Jahren gehen?

W.H.: Das ganze Spektrum von Gewaltsituationen soll im Blick sein. Gewalt in unseren Städten ist ein Ausgangspunkt. Das ist übrigens auch ein Thema, zu dem ökumenische Initiativen in verschiedenen Kontinenten unter der Überschrift "Frieden in der Stadt" schon gearbeitet haben. Rechtsextreme Gewalt, Gewalt gegen Minderheiten ist ein Problem, mit dem wir uns gerade hier sehr intensiv auseinandersetzen müssen. Da wissen wir, wie hautnah das Thema ist. Gewalt gegen Frauen, Gewalt gegen Kinder, ist ein Thema das in den Blick treten muss. D. h. man darf nicht nur auf die Frage der Gewalt in bewaffneten Konflikten schauen, so wichtig und bedrängend dieses Thema auch wieder geworden ist. Und es werden sicher auch in den verschiedenen Regionen der Weltchristenheit unterschiedliche Schwerpunkte gesetzt werden. Die einen werden mehr auf die Gewalt im Nahbereich achten, die anderen mehr auf diese Frage "Wie können wir internationale Konflikte ohne Gewalteinsatz regeln?" Jeder muss da auch seinen eigenen Zugang finden. Der Ausgangspunkt ist, wer unsere Welt im Licht der Versöhnung anschaut, kann nicht schweigen und nicht untätig sein überall dort, wo auch die Menschenwürde selber angegriffen wird, dadurch dass Gewalt gegen Menschen verübt wird.

SWR: Wenn Sie auf Deutschland schauen, die Bundesrepublik, zehn Jahre und mehr zusammen gewachsenes Deutschland. Sie sitzen in Ostdeutschland und bekommen die Entwicklung hautnah mit. Woran denken Sie bezogen auf unser Land, auf unseren Staat, wenn es um die Überwindung von Gewalt geht, jetzt in dieser Zeit?

W.H.: Ich denke in der Tat in unserer Situation ganz besonders an die Gewalt gegen Minderheiten, an die Gewalt gegen Fremde unter uns. Das ist bedrängender Weise Tag für Tag ein Problem. Es ist das Thema, das auch in unserer Kirche am meisten Nachdenken ausgelöst hat in letzter Zeit. Aber wir haben zugleich wichtige Initiativen zur Frage gegen Gewalt gegen Frauen, die auch verstärkt werden müssen und es ist eines der Gewaltphänomene, die uns ja in den letzten Jahren besonders zum Bewusstsein gekommen sind. Das Letzte, ich glaube, dass wir in Deutschland eine besondere Verantwortung dafür haben, Beiträge dazu zu leisten, dass Bürgerkriege, internationale Konflikte nicht einfach in eine Gewalteskalation hineinführen. Unsere Berlin-Brandenburgische Kirche hat Anfang der 90er Jahre als erste Kirche das "Konzept des Zivilen Friedensdienst" entwickelt und ist dafür eingetreten. Das bleibt für mich auch ein sehr wichtiges Thema.

SWR: Ist denn nicht gesamtgesellschaftlich eher die Lage und der Eindruck, die Gesellschaft, die Lage wird gewalttätiger und eigentlich kann man dagegen gar nichts machen?

W.H.: Nein, dass man gar nichts dagegen machen kann, diese Auffassung teile ich nicht. Gewalt ruft immer auch danach, dass mit den Mitteln der Polizei dagegen vorgegangen wird. Nicht weil ich einen Polizeistaat will, sondern weil ich weiß, bestimmte Formen von Gewalt kann man nicht mit Zivilcourage einfach bekämpfen, sondern es muss dabei auch das Gewaltmonopol des Staates eingesetzt werden. Es gibt Gegenden, in der Tat, in unseren Städten, da muss das auch konsequenter passieren. Aber die generelle Beschreibung "es würde alles immer gewalttätiger", die würde ich für unsere Gesellschaft insgesamt nicht gelten lassen, auch nicht für den Osten Deutschlands.

SWR: In den ÖRK-Papieren, also den Papieren des Ökumensichen Rates der Kirchen, gerade zur Vorbereitung der Dekade, werden Kichengemeinden aufgerufen auch Gewalttäter zu benennen. Ich sage es mal mit meinen Worten: zu brandmarken. Ist das eine angemessene Weise für Christen, mit diesem Problem umzugehen?

W.H.: Gewalttaten muss man benennen und brandmarken und dabei Menschen auch haftbar machen für das, was sie tun. Aber niemals soll man Menschen total mit ihren Taten identifizieren. Es gibt immer eine Unterscheidung zwischen der Person und ihren Taten, dewegen ist ein Brandmarken von Menschen nicht der Weg. Man muss sich ja immer daran erinnern, man sagt dann "es würde jemandem das Kainsmal auf die Stirn gebrennt", dadurch würde er gebrandmarkt. Dem Kain wurde das als ein Schutzzeichen auf die Stirn gebrand, obwohl er ein Mörder war. Und insofern müssen wir aufpassen, dass wir zwar unzweideutig, auch unnachgiebig darin sind, dass Gewalt unter uns keine Chance haben darf, und dass Menschen, die das tun, es auch wissen müssen. Wir müssen auch aufhören, gerade bei jugendlichen Gewalttätern, mit der so genannten akzeptierenden Sozialarbeit vorzugehen, die scheinbar ohne eigene Position, ohne ein klares Votum zu den Gewalttaten operiert und müssen jungen Menschen klare Positionen entgegenhalten. Aber das tun wir doch genau deswegen, weil wir sie herausholen wollen aus dem Gewaltmilieu, in dem sie sich eingenistet haben. Ich weiß wie schwer das ist, aber den Versuch, sie dort herauszuholen, dürfen wir nie aufgeben.

SWR: Sie sitzen in der Bundesregierung in der Hauptstadt Berlin. Merken Sie, sehen Sie, nehmen Sie wahr, dass die Bundesregierung genügend gegen rechte, gegen linke Gewalt, gegen Gewalt in der Gesellschaft überhaupt tut?

W.H.: Man wird nie sagen können, dass genug getan wird. Ich bin auch der Meinung, dass die Kombination, die Verknüpfung zwischen dem, was auch die gesellschaftlichen Kräfte tun müssen und dem, was politisch an Initiative, an Unterstützung passieren muss, dass diese Verknüpfung noch nicht zureichend passiert ist. Aber auch der Bundesregierung unterstelle ich, dass sie die Ernsthaftigkeit der Situation verstanden hat.

SWR: Die Politik diskutiert in diesen Tagen, ob Steinewerfer oder rechtradikale Minister sein können, bleiben können. Können Sie sich vorstellen, dass junge Gewalttäter später ein Ministeramt ausüben können, wenn sie sich bekehrt haben von ihren alten Taten?

W.H.: Das sind zwei Stufen, die man voneinander trennen muss. Die eine Stufe heißt: Auch einem heutigen rechtsextremen Gewalttäter traue ich zu, dass er lernt. Ich hoffe das auch dringend. Wenn wir uns auch anstrengen, ihm bei diesem Lernen zu helfen. Auch durch klare Konfrontation und klaren Widerspruch. Ob dabei einer mit seiner eigenen Vergangenheit so umgegangen ist, dass er sogar eine politische Verantwortung übernehmen kann, das mag sein. Das im Vorhinein anzukündigen, sich vorzustellen, das geht zu weit. Aber die Diskussion, die wir in diesen Tagen darüber gehabt haben ist deswegen so verkehrt, weil die einen sozusagen ein Zeichen setzen, dass sie sagen "Das kommt unter keinen Umständen in Frage" und den anderen, nämlich Wolfgang Thierse, der vollkommen zurecht darauf hingewiesen hat, dass wir auch jemandem aus der rechtsextremen Szene einen Prozess des Lernens, der Umkehr, des Neubeginns zutrauen müssen. Der ist ganz zu Unrrecht dabei in die Ecke gestellt worden, er hat vollkommen Recht.

SWR: Wenn Joschka Fischer, Jürgen Trittin angegriffen werden wegen ihrer spät-68er Taten, Gedanken, Äußerungen, ist das auch eine Ausübung von indirekter Gewalt?

W.H.: Wenn diese Frage politisch instrumentalisiert wird, dann ist das einfach schlechter Stil im Blick auf ein wichtiges Thema, denn ich halte die Diskussion über den Lebensweg von Leuten wie Joschka Fischer für dringend notwendig. Hilfreich übrigens auch Lehrern. Ich glaube, wenn nichts Neues über seine Zeit als Mitglied der Frannkfurter Spontiszene herauskommt, ist sein Lebensweg auch ein Beispiel dafür, dass man neu anfangen, dass man lernen, dass man aus dem Gelernten Konsequenzen ziehen kann. Aber es setzt voraus, dass er auch sein eigenes Handeln in der damaligen Zeit sich wirklich zu eigen macht - dazu - steht, und dass Entschuldigungen nicht leichthin aus taktischen Gründen dahingesagt sind, sondern tatsächlich ernsthaft gemeint sind. Da bin ich an manchen Stellen ziemlich kritisch mit dem, was sowohl Joschka Fischer, als auch Jürgen Trittin in der letzten Zeit gesagt haben. Ich finde insbesondere, dass die Äußerung von Trittin gegenüber Professor Buback im Zug sehr überrascht war, absolut überflüssig und unbedacht und schnodderig gewesen ist. Und man soll nicht so schnodderig mit seiner eigenen Vergangenheit umgehen und mit anderen Menschen erstrecht nicht.

SWR: Wenn es um die Überwindung von Gewalt geht, muss dann nicht die Christenheit heute auch stärker sich wieder für die Schöfpung einsetzen, wenn die Abschlachtung von zwei Millionen Rindern geplant ist, um beispielsweise bestimmte Preise und Wirtschaftsmechanismen zu erhalten? Muss dann nicht von den Kirchen viel stärker etwas gesagt werden?

W.H.: Es ist ja seit den 80er Jahren klar, dass für uns als Christen und als Kirchen, Gerechtigkeit, Frieden, die Bewahrung der Schöpfung, und ich füge immer hinzu, die gleichen Menschenrechte für alle, vier Dimensionen sind, die unmittelbar zusammengehören. Und da läßt sich die Verantwortung für die Bewahrung der Natur, auch der Abbau von Gewalt im Verhältnis zur Schöpfung, nicht herauslösen, sondern er gehört tatsächlich dazu.Sie haben es richtig beschrieben. Wir kriegen da mit einer neuen Intensität Probleme, auch im eigenen Land. Der Rinderwahn, der ja vielleicht zu erheblichen Teilen ein Menschenwahn ist, weil es jetzt zurückgeht auf menschliche Interventionen. Ja, die Rinder sind ja nicht selber von BSE befallen worden, sondern unsere Art der industrialisierten Landwirtschaft hat dazu geführt, dass das so ist. Es spricht ja eine deutliche Sprache und die Tatsache, dass wir dann mit massenhaften Tierschlachtungen darauf reagieren, ist etwas, was man nur als sehr, sehr bedrückend bezeichnen kann.

SWR: England hat in dieser Woche das therapeutische Klonen von Embriozellen erlaubt. Müssen Sie nicht befürchten, dass jetzt auch Dämme, bei allen Beteuerungen, in der Bundesrepublik brechen?

W.H.: Befürchten muss man, dass das passiert. Das bedeutet aber, dass man alles tun muss, um das zu verhindern. Es bedeutet ja nicht, dass man gleichgültig gegenüber den Heilungshoffnungen wäre, die sich mit dem therapeutischen Klonen verbinden. Aber wir müssen diese Hoffnung auf Heilung auf anderem Weg näher kommen. Nämlich indem wir den Versuch machen, mit Erwachsenenstammzellen, mit adulten Stammzellen, therapeutische Konzepte zu entwickeln.

SWR: Müssen Sie aber nicht befürchten, dass die Kirchen in Deutschland, in Europa, die letzten Bedenkenträger sind und sein werden, die von der Wirtschaft und von der öffentlichen Meinung einfach an die Seite gedrängt werden, zumal in einer zunehmenden säkularen Gesellschaft?

W.H.: Es ist nicht an dem, dass die Kirchen deswegen ihre Stimme erheben, weil sie Bedenkenträger sind. Es ist nicht an dem, dass wir deswegen uns äußern, weil wir wissenschaftliche Fortschritte gering schätzen. Sondern hier geht es um ein Grundelement unserer Verfassungsordnung, zu deren Verständnis und zu deren Deutung wir als Kirchen und als Christen wichtiges beizutragen haben. Aber das Eintreten für die Menschenwürde ist nicht etwas, was nur die Kirchen tun. Wir haben da ein viel breiteres auch, gesellschaftliches Bündnis. Es gibt klare, verfassungsgerichtliche Rechtsprechung, die den Weg des therapeutischen Klonens schlechterdings unmöglich macht. Dass menschliches Leben mit der Verbindung von Eizelle und Samenzelle beginnt, ist durch das Verfassungsgericht ganz klar festgelegt. Wenn man daran anknüpft und das zu Ende denkt, dann weiß man deswegen schon, dass das therapeutische Klonen kein möglicher Weg ist. Insofern ist das aktive Einbringen unserer Stimme in diese Diskussion der richtige Weg, und nicht zu denken, ach wir sind ja die letzten Bedenkenträger, da ziehen wir uns gleich zurück. Der gesellschaftliche Konsens in der Bundesrepublik Deutschland ist glücklicherweise anders, als Sie es in Ihrer Frage beschrieben haben. Unsere Verantwortung ist, dass dieser Konsens erhalten bleibt, dass er nicht bröckelt, dass die britische Entscheidung nicht, sozusagen, einen Dominoeffekt auch für uns hätte.

Quelle: Südwestrundfunk SWR