Ökumenischer Gottesdienst in Frankfurt (Dom) zur bundesweiten Eröffnung „Woche für das Leben 2010“ - Einführung ins Thema : „Gesunde Verhältnisse“

Landesbischof Dr. Ulrich Fischer

17. April 2010

„Ich meine, dass die Krankheiten Schlüssel sind, die uns Türen öffnen, die anderenverschlossen bleiben“, hat Andre Gide einmal geschrieben. Und wer von uns hat nicht schon diese Erfahrung gemacht: Das Gefühl für die alltäglichen Schönheiten des Lebens stellt sich oft erst dann ein, wenn wir vermeintlich große Vorhaben abschreiben müssen. Nach einer durchwachten Nacht hören wir die Vögel singen. In einer längeren Krankheit lernen wir los zu lassen. In Krisenzeiten wächst das Vertrauen zu unseren Nächsten. Und plötzlich spüren wir ganz körperlich: Wir sind geliebt, so wie wir sind. „Gesund oder krank - von Gott geliebt“, so heißt ja auch der Dreijahrestitel unserer „Woche für das Leben“, die in diesem Jahr ihr 20jähriges Jubiläum feiert.

„Wir waren in jenem Grenzbereich zwischen dem Bekannten und dem Unbekannten, in dem wir nur zuhören und abwarten konnten“, heißt es in einem Dokument des Ökumenischen Rates der Kirchen, das von behinderten und nicht behinderten Menschen gemeinsam geschrieben wurde. „Wir hatten Angst und den Tod vor Augen und kennen nun unsere eigene Verwundbarkeit. Wir sind Gott in jener leeren Dunkelheit begegnet, in der uns bewusst wurde, dass wir die Kontrolle über uns verloren haben, und wir haben gelernt, auf Gottes Gegenwart und Fürsorge zu vertrauen. Wir haben gelernt, bereitwillig anzunehmen, mit Freude zu geben, und dankbar für den Augenblick zu sein. Wir haben gelernt, Neuland zu gewinnen und einen neuen Weg für unser Leben zu finden, der uns noch nicht vertraut ist. Wir wissen, was es bedeutet, im Zwiespalt und inmitten von Paradoxien zu leben, und wir wissen, dass einfache Antworten und Sicherheiten uns nicht tragen.“

Das sind Erfahrungen, die nicht nur behinderte Menschen machen. Vielen anderen geht es ähnlich - in Krankheiten, in Lebenskrisen, in Todesnähe. Aber es ist eben so, dass viele von uns nicht wagen auszusprechen, wie es hinter den verschlossenen Türen aussieht - in Kranken- und Sterbezimmern, in Altenhilfeeinrichtungen und in Wohngruppen für Schwerstbehinderte. Wir ziehen die glatte Fassade vor. Wir wünschen uns noch immer eine Welt, in der möglichst alle jung, gesund und leistungsstark sind.

Aber das passt so gar nicht zur Kirche des gekreuzigten Christus. Weil Christus gelitten hat, weil er misshandelt und verkrüppelt wurde und ganz leibliche Schmerzen erlitt, darum gehören auch unsere Schmerzen und Leiden zum Leib Christi, also zur Kirche, zur Gemeinde Gottes dazu. Wer also kranke, gebrechliche oder behinderte Menschen aus der Gemeinde ausgrenzt, der verleugnet die leibliche Wirklichkeit unseres Gottes. Das Dokument des ÖRK, aus dem ich eben die wunderbaren Sätze zitiert habe, heißt deshalb auch „Kirche aller“: Denn ohne die Integration von behinderten Menschen, ohne die Erfahrung von kranken Menschen kann die Kirche nicht für sich in Anspruch nehmen, Leib Christi zu sein. Die Kirche ist Leib Christ, wenn ihre Türen offen stehen. Wenn auch Traurigkeit und Einsamkeit beim Namen genannt werden dürfen. Wenn klar ist: Jeder und jede hier ist von Gott geliebt.

Was damit gemeint ist, sehen wir wiederum am besten an Jesus selbst - nämlich an den von ihm gewirkten Heilungswundern. Die Heilungen Jesu sind oft mit Sündenvergebungen verbunden. Lange hat sich auch bei uns die Vorstellung gehalten, dass Krankheit und Schuld der Einzelnen eng verknüpft sind - und sie hält sich bis heute, wenn wir etwa an die Stigmatisierungen denken, die Aidskranke erfahren, oder an die leichten Vorwürfe, die Mütter mit behinderten Kindern ertragen müssen. Jesus aber wollte diese Stigmata gerade aufheben. Ihm ging es darum, Menschen wieder vollständig in die Gemeinschaft hinein zu holen. Den Gedanken, dass Krankheit und Behinderung selbst ein Ausdruck von Schuld sind, weist er sogar ausdrücklich zurück. Wenn im Zusammenhang seiner Heilungswunder oft von Sündenvergebung die Rede ist, dann wird vielmehr verdeutlicht, dass es mit der Behebung körperlicher Störungen nicht getan ist, wenn wir von Heilung und Gesundheit reden. Dann wird verdeutlicht, dass von einem ganzheitlichen Gesundheitsverständnis her Heilung an Leib und Seele sowie Integration in gesunde mitmenschliche Verhältnisse unlösbar miteinander verbunden sind.

Krankheit und Behinderung gehören zur Normalität unseres verletzlichen, begrenzten und verwundeten Lebens, auch wenn wir nicht verstehen, warum die gute Schöpfung Gottes so gestört ist. Aber die Brüche, unter denen wir leiden, die Begrenzungen, die wir erleben, sollen uns nicht von Gott und von anderen Menschen wegreißen, sie müssen uns nicht einsam machen. Im Gegenteil: Gerade in unseren Krisen spüren wir, dass wir einander und Gott brauchen. Wir sind Beziehungsmenschen. In der Pflege und Fürsorge füreinander, wo wir Leiden teilen, wo wir Türen zu andern aufmachen, lernen wir auch, unser eigenes Leben besser zu verstehen. Auch in diesem Sinne können die Krankheiten Türen öffnen: Sie können uns menschlicher und gemeinschaftsfähiger machen. Sie halten unsere Gemeinschaft gesund.

Das gilt über die engen Kreise von Familie und Freundschaft, über die Kirche hinaus für die gesamte Gesellschaft. Gesunde Verhältnisse bestehen da, wo wir mit unseren Grenzen und Begrenztheiten rechnen und wissen, dass Krankheiten zur Normalität des Lebens gehören. Denn dann werden wir unsere Versicherungssysteme solidarisch ausstatten, werden die sozialen Einrichtungen lebenswert gestalten und auch als Gesunde unseren finanziellen Beitrag dazu geben. Wir werden uns dafür einsetzen, dass auch in Politik und Gesellschaft die Türen für alle Menschen offen bleiben – seien sie krank, behindert oder gesund. Eine solche Gesellschaft mit geöffneten Türen lebt in „gesunden Verhältnissen