„Lass dich nicht vom Bösen überwinden, sondern überwinde das Böse mit Gutem“ (Rm. 12,21)

Wolfgang Huber

21. Oktober 2001, Beit Jala

Es gibt biblische Worte, die packen dich plötzlich. Sie treten Dir entgegen, so dass Du nicht ausweichen kannst. Sie springen Dich an, dass Du sie nicht abschütteln kannst. Sie nehmen Dich bei der Hand. So ist es mir in den letzten Wochen mit diesem Wort des Apostels Paulus gegangen. Es hat mich genötigt, verschiedene Situationen, die ich erlebt habe und die mich aufgewühlt haben, immer wieder von dieser Seite anzuschauen: „Lass dich nicht vom Bösen überwinden, sondern überwinde das Böse mit Gutem.“

Mit diesem Wort komme ich nun nach Beit Jala. Nicht zum ersten Mal bin ich hier. Aber noch nie war mir das Herz so schwer. Tag für Tag hat die sinnlose Gewalt Todesopfer gefordert. Kinder und Jugendliche wurden ihren Familien entrissen. Schüsse haben die Worte     übertönt, Panzer den Weg verstellt. Verzweiflung hat viele Menschen ergriffen und wir fühlen mit ihnen – wir, die wir am heutigen Tag für die Evangelische  Kirche in Deutschland unter ihnen sind. Sie sollen wissen: Was hier geschieht, wird von vielen Menschen wahrgenommen und verfolgt: Beit Jala, Beit Sahour, Bethlehem, Ramalla: Wir nehmen wahr, was in diesen Orten vor sich geht. Uns ist es wichtig, ob die Kinder zur Schule gehen können; wir leiden mit, wenn Menschen ihre Arbeitsstelle nicht erreichen können; wir bringen unsere Klage über die Toten vor Gott und trauern um den Hinterbliebenen.

Mit Ihnen zusammen fragen wir nach einer Lösung. Sie ist nicht von heute auf morgen zu finden. Schwere Rückschläge haben wir in den letzten Wochen und in den letzten Tagen erlebt. Unserem Suchen und Fragen stellt sich das Wort des Apostels Paulus in den Weg: „Lass dich nicht vom Bösen überwinden, sondern überwinde das Böse mit Gutem.“

Diese Aufforderung will uns nicht leicht in den Sinn. Wir stemmen uns dagegen. Aber ihrer Wahrheit können wir uns nicht entziehen. Wir sehen ja den Teufelskreis der Gewalt, wenn Böses mit Bösem vergolten wird. Bald weiß niemand mehr, wie alles angefangen hat. Denn alle sind in diesem Teufelskreis gefangen. Niemand wagt den ersten Schritt. Jeder fürchtet, dass es auf diesen Schritt keine gute Antwort gibt. Jeder fürchtet, dass die eigene Bereitschaft zum Einlenken missbraucht wird. Doch diese Angst führt nur tiefer ins Unglück. Opfer dieses Unglücks sind ganz besonders Sie, die Menschen in Beit Jala – so wie es auch auf der anderen Seite Menschen gab, die dem Teufelskreis der Gewalt zum Opfer fielen.

Gibt es einen Weg heraus aus der Gewalt? Die Bibel gibt uns zwei Antworten. Die erste Antwort findet sich beim Apostel Paulus direkt nach dem Wort, das uns heute morgen so sehr beschäftigt. Dort, im 13. Kapitel des Römerbriefs, erinnert er an die Aufgabe des Staates. Dem Bösen zu wehren, nicht das Böse zu verüben, ist die Aufgabe des Staates. Er soll der Gewalt ein Ende setzen, statt sie zu steigern: dazu hat Gott die staatliche Gewalt eingesetzt. Dass es eine solche staatliche Autorität gibt, das ist der dringende Wunsch für Palästinenser und Israelis. Nur dann können sie koexistieren, nur dann kann Frieden zwischen ihnen werden.

Aber die zweite Antwort der Bibel geht noch weiter: Widersteht dem Bösen nicht, sagt Jesus. Und er meint damit: Zahlt es nicht mit gleicher Münze zurück. Drei Beispiele nennt Jesus

in der Bergpredigt dafür, dass man nicht mit gleicher Münze zurückzahlen soll. Wenn dich einer auf die rechte Wange schlägt, halte ihm auch die linke hin. Die Rede ist von jemand, der einen besonders entehrenden Schlag bekommt: mit dem Handrücken auf die rechte Backe. Wenn du mich schon schlägst, antwortet er, sei offen und ehrlich, tu es mit offener Hand, nicht hinterrücks.

Wenn einer mit dir rechten will und dir deinen Rock nehmen, dem lass auch noch den Mantel. Ein unbarmherziger Gläubiger ist in diesem Beispiel gemeint, der dem Schuldner das letzte Hemd wegnimmt. Gib ihm auch den Mantel, heißt der Rat. Ihn darf niemand als Pfand nehmen, denn er wird zugleich als Decke gebraucht. Stell denjenigen bloß, der so erbarmungslos ist.

Und schließlich: Wenn einer dich nötigt, eine Meile mit ihm zu gehen, geh zwei Meilen mit. Da stellt man sich einen Soldaten vor, der einen anderen zwingt, sein Gepäck zu tragen. Überrasche ihn, so heißt der Rat Jesu, indem du länger mit ihm gehst, als er denkt. Wir wollen Möglichkeiten suchen, die Feindschaft zu durchbrechen, nicht den Graben vertiefen: das ist der Rat, den Jesus uns gibt.

Wie das heute und morgen in Beit Jala aussehen kann, weiß ich nicht. Ich weiß nur: Zeugen für diese bessere Wirklichkeit können nur Menschen sein, die hier bleiben, die aushalten und auf bessere Zeiten hoffen. Unsere Solidarität verdienen ganz besonders die, die standhalten und nicht ausweichen. Vom Gebot Jesu lassen sich heute ganz besonders die bestimmen, die an der Hoffnung auf Frieden festhalten. Der Friede aber ist eine Frucht der Gerechtigkeit. So heißt es beim Propheten Jesaja. Wir alle hoffen darauf, dass Friede und Gerechtigkeit sich küssen. So heißt es im 85. Psalm.

Nur Menschen, die an dieser Hoffnung festhalten, können das für den Frieden tun, was jetzt möglich ist. Jesus ermahnt uns dazu, darin nicht nachzulassen. Denn er ist unser Friede. Das gilt in Beit Jala wie in Berlin oder in Bethlehem wie in New York. Keine Enttäuschung, die wir erleben, keine Gewalt, die wir beklagen, soll uns davon abbringen, dass wir auf diesen Frieden vertrauen. Gerade jetzt bleiben wir verbunden im Gebet für den Frieden. Sie hier in Beit Jala können sich darauf verlassen, dass für Sie gebetet wird – am Morgen und am Abend; an keinem Abend verstummt das Gebet. Es läuft um den Globus. Das ist nötig – gerade heute.

Und der Friede Gottes, der höher ist als all unsere Vernunft, bewahre unsere Herzen und Sinne in Christus Jesus. Amen