Gottesdienst mit besonderem Gedenken der Opfer der Terroranschläge in dieser Woche in New York, NY, bei Pittsburgh, PA, und in Washington, D.C. (Römer 8, 31 - 39, Matthäus 5, 1- 10)

Ulrich Wolf-Barnett

16. September 2001

Liebe Gemeinde
Worte des Psalm 102, den wir miteinander gebetet haben,
Worte aus dem Römerbrief und die Seligpreisungen aus der Bergpredigt,
die wir in den Lesungen gehört haben,
auch sie vermögen das unermessliche Leid, das in dieser Woche so viele Menschen getroffen hat, nicht zu erklären.

Wohl jeder und jede von uns wird gespürt haben, wie sehr diese Anschläge des Schreckens und das Leid, das sie ausgelöst haben,
uns aus dem Gleichgewicht unseres Lebens gedrängt haben.

Wir erleben es hier an dem Ort, an dem so viel Macht und Kontrolle konzentriert sind. Der Schrecken kann trotzdem nicht einfach umgeschaltet und gelöst werden.

Die Worte des Apostels Paulus aus der 1. Lesung sind für mich durchzogen von der Erfahrung, zu welcher zerstörerischen, zu welch grausamer Gewalt Menschen fähig sind:
„Trübsal, Angst, Verfolgung, Hunger, Blöße, Gefahr oder Schwert…“ -
so viele Menschen in unserer unmittelbaren Umgebung haben das erschütternd in diesen Tagen erfahren.
Das Leid ist von Menschen ausgegangen ist, die durch Hass und unsagbare Kälte getrieben sein müssen,
von Menschen, die ihr Leben mit all den ihnen gegebenen Gaben aufs schlimmste missbraucht und andere Menschen mit ihnen in tödliches Leid gestürzt haben.

Die Worte von Paulus, die diese Verwundbarkeit und Gefährdung des Menschen ansprechen, rücken zugleich in unseren Blick,
was wir von Gott suchen und finden können:
Diese Worte halten die unermessliche Kraft einer Liebe fest,
die auch durch den Terror letztlich nicht zugeschüttet werden kann.

Diese Liebe gilt denen, die am Dienstag hineingezogen wurden in das Erstarren darüber, wie viel Brutalität von Menschen ausgeht.

Paulus bestärkt in dem Sehnen danach,
solche Liebe Gott im Angesicht auch solchen Leids zuzutrauen,
Liebe, die bis in den Tod hinein gilt,
Liebe die durch den Tod hindurch aushält und trägt.

Paulus kann in der Sehnsucht danach und in dem Vertrauen darauf bestärken, weil er auf Jesus Christus verweisen kann, den Sohn Gottes, der die bittere Brutalität durch Menschenhand am Kreuz durchlitten hat.
In allem Bangen mögen wir an dieser unausschöpflichen Liebe Gottes durch Jesus Christus festhalten.

Ist sie nicht auch inmitten des Leidens und Sterbens dieser Tage durchgekommen?:
etwa dort, wo Menschen im Augenblick des Sterbens neben einem anderen ausgehalten haben!

Kommt sie nicht auch durch dort, wo Menschen auch jetzt noch alles geben, damit diejenigen, die mit dem Tod ringen, überleben,
um diejenigen, die um ihr Leben gebracht wurden, aus Schutt und Asche zu graben, und ihr Leben, das so jäh abgebrochen ist, zu würdigen,
um Angehörige zu stützen, auf denen nun die Last der Trauer und des Verlassenseins drückt?!

Ist die Liebe Gottes nicht auch darin durchgekommen,
wie andere in der Ferne sich Sorgen gemacht haben und den Sorgen nachgegangen sind -
Sorgen auch über uns hier in unserer Gemeinde -
und wie sie damit aus der Ferne an eine Lebenskraft gerührt haben,
die hier so bedeckt und gelähmt war.

In wie vielen kleinen Zeichen von Betroffenheit, Sorge und Anteilnahme ist über den Augenblick hinaus Wegweisendes zu entdecken:

Hören Sie mit mir auf nur einige dieser Zeichen:

Vorgestern, so erzählte mir eine Bekannte aus New York am Telefon,
hat jemand auf verschiedenen Bürgersteigen in Manhattan ein Wort aufgemalt hat, das mancher schon einmal gehört haben mag:
„An eye for an eye leaves the whole world blind“
(Auge um Auge macht die ganze Welt blind).

Liebe Gemeinde,
das bewegt mich vor allem deshalb, weil es nicht irgendwo fern des Geschehens als „weiser“ Ratschlag gegeben wurde,
sondern weil es mittendrin wie ein „Ausrufezeichen“ gesetzt wurde.
Es kommt von jemandem, der oder die das unermessliche Leid buchstäblich vor Augen hatte.

Ist dieses Ausrufezeichen nicht ein eindrückliches und ernstzunehmendes Zeugnis gegen die im Land zugenommenen Rufe nach Rache und Vergeltung, mit denen die Spirale der Gewalt weitergetrieben würde?

Dass die für diesen Terror Verantwortlichen zur Rechenschaft gezogen und bestraft werden müssen, steht wohl für niemanden mit einem menschlich gesund empfindenden Herzen außer Frage.
Doch unser Glaube lässt keinen Zweifel daran,
dass Rache nicht Sache der Menschen ist, sondern Gottes allein.
Vielleicht hören wir wegen unserer Gefährdung und Anfälligkeit des Menschen dafür schon so früh in den Grundschriften unseres Glaubens,
in der Hebräischen Bibel, unserem Alten Testament:
Rache, davon lasst eure Finger, das ist nicht eure Sache,
das ist Gottes Sache und Mass.

Die tieferliegenden Ursachen von Gewalt und Hass anzusprechen und das Blockierende zu lösen, damit die Anschläge nicht weitergehen:
diese Aufgabe, die viel Vorstellungskraft fordert, bleibt eine nicht zu übersehende Aufgabe für uns Menschen: hier wie in anderen Ländern.
„An eye for an eye leaves the whole world blind“:
Ich bin sicher: Jesus würde diese Ausrufezeichen auf den Bürgersteigen in New York unterstreichen.

Am selben Tag höre ich in Arlington, dass ein Lehrer, der seit vielen Jahren an einer Highschool unterrichtet, am Freitag nicht zur Schule gekommen ist.
Er ist muslimischen Glaubens.
Die Furcht vor Vorverurteilungen, aufgrund seines Glaubens sei er automatisch mitverantwortlich für den Terror, treffen ihn hautnah.
Was Präses Kock, der Ratsvorsitzende der EKD bei dem ökumenischen Gedenkgottesdienst für die Opfer der Terroranschläge am selben Tag in Düsseldorf sagte, trägt auch eine Botschaft für das Land hier:

„Mag es sehr wahrscheinlich sein, dass Kräfte hinter den Anschlägen stehen, die vorgeben im Namen ihrer Religion einen heiligen Krieg zu führen,
wir sind hier, um um die Kraft zu bitten, allen Versuchen zu widerstehen,
den Islam als Weltreligion für diese Terroranschläge verantwortlich zu machen.
Vor allem bitten wir Gott, dass in unserem Land nicht Vorurteile gegen die muslimischen Bürger wachsen. “
Hier sind nicht zuletzt auch die Kirchen - hier im Land wie in Deutschland -um deutliches Engagement gefragt.

Noch ein Zeichen der Anteilnahme, das, so meine ich, Wegweisung über den Augenblick hinaus in sich trägt, möchte ich Ihnen weitergeben:
Ein Student aus Kolumbien, der zur Zeit hier in der Region an einer Universität forscht, schreibt am vergangenen Mittwoch an seine Seminargruppe:

„As somebody who knows what it means to live with terrorism your everyday life, I express my deepest sorrow and solidarity.
The papers say that „America lost her innocence yesterday“.
I humblely feel in the position to ask you something:
do not let them take away the best thing you have.
That „innocence“ means to me,
to remain able to trust others,
to believe in peaceful ways,
to share someone else’s pain and joy,
to remain free of making assumptions of any kind, free of fears.
I am not asking for an eyes shut,
on contrary, I am asking for awareness.“

Liebe Gemeinde,
die Klage um Menschen, die um ihr Leben gebracht wurden,
muss und kann nicht einfach verstummen.

Die Worte des Paulus und die Worte Jesu:
sie geben Raum zur Klage,
sie lassen benennen, was Menschen einander so Gewaltsames antun.

Sie möchten zugleich im Glauben stärken,
dass uns dieses nicht zu trennen vermag von der Liebe Gottes, die in Jesus Christus ist,
dass Menschen, die unsägliches Leid durchmachen, getröstet werden,
dass die, die sanftmütig sind, das Erdreich besitzen werden,
dass die, die hungern und dürsten nach Gerechtigkeit, satt werden,
und die, die Frieden stiften, Gottes Kinder heißen,

Lassen Sie sich von dieser unermesslichen und heilsamen Kraft Gottes
an der Hand nehmen, stärken und leiten.
Sie ist uns zugesprochen - in kleinen und großen Zeichen:
für uns - und zum Verbreiten, dort wo wir leben:
hier - und überall in der Welt.
Amen.

Kanzelsegen

Ankündigen der Kollekte: zur Unterstützung der Opfer und ihrer Angehörigen.
Dazu hat die Deutsche Botschaft hier einen Solidaritätsfonds eingerichtet.
Näheres dazu durch Herrn Botschafter Ischinger.

Der Autor ist der Pfarrer der Deutschen Ev. Kirchengemeinde Washington, D.C.