Predigt im Reformationstagsgottesdienst

31. Oktober 2003, Kaiser-Wilhelm-Gedächtnis-Kirche Berlin

Wolfgang Huber

Das Kind hängt an der Mutter,
der Bauer an dem Land,
der Protestant an Luther,
das Ölbild an der Wand.

So hat es der bekannte Schauspieler und Komiker Heinz Erhard einmal gedichtet. Der Protestant hängt an Luther. Nicht einmal nur der Protestant. Heute schauen auch andere auf ihn, bewusst oder unbewusst. Vielleicht ist auch Ihnen in den letzten Tagen und Wochen der Reformator Martin Luther im Stadtbild Berlins begegnet.

Damit meine ich nicht nur das Lutherstandbild vor der Marienkirche auf dem Alexanderplatz, das den meisten wahrscheinlich gar nicht mehr auffällt. Die DDR-Oberen haben es seinerzeit auch aus der Sichtachse herausgenommen und auf einen unauffälligeren Platz gestellt. Aber das ist nicht der einzige Grund dafür, dass die meisten Berlinerinnen und Berliner die Frage, wo es denn in unserer Stadt ein Luther-Denkmal gibt, kaum beantworten könnten. Wichtiger ist: Auf alte Standbilder achten wir sowieso nicht, eher schon auf moderne Werbeträger. Aber auch in dieser Gestalt ist Luther derzeit unter uns. An Werbetafeln des ZDF ist derzeit Luthers Bild neben dem des Bundeskanzlers zu sehen. Kanzler oder Kanzel – so heißt die Frage, die  auf eine Sendung hinweist, in der die hundert wichtigsten Deutschen zu wählen sind. Wird der Reform-Kanzler oder die Kanzel des Reformators vorne liegen? Darauf darf man gespannt sein.

Aber auch auf einem weiteren Poster ist Luther derzeit zu sehen. Es weist an vielen Bushaltestellen und auf U-Bahnhöfen unserer Stadt auf einen Film hin, der gestern in die Kinos gekommen ist. Passenderweise war die Premiere auf den Vorabend des Reformationstages gelegt. Martin Luther, seine Zeit – das 16. Jahrhundert –, der Streit um den Ablass – wie wir ihn von den Schülerinnen und Schülern eben schon gehört haben – , die Auseinandersetzung auf dem Reichstag in Worms und schließlich die Anerkennung der Evangelischen auf dem Reichstag in Augsburg: all das wird den Kinobesucherinnen und Kinobesuchern mit den Mitteln heutiger Filmproduktion nahe gebracht.

Vieles wird anschaulich geschildert; manchmal wird die Anschaulichkeit sogar übertrieben. So werden die Auseinandersetzungen mit den radikalen Reformern in Wittenberg und der wenige Jahre später stattfindende Bauernkrieg so ineinander geschoben, dass der Eindruck entsteht, es sei Luthers Reformation gewesen, die ein Blutbad mit Hunderttausenden von Opfern ausgelöst habe. Schülerinnen und Schüler, die den Film schon sehen konnten, waren darüber richtig aufgebracht. Ich kann das gut verstehen.

Aber solche Einseitigkeiten eingeschlossen, macht uns ein derartiger Film Ereignisse bewusst, die wir nicht selbst erlebt haben und die uns auch nicht von Eltern oder Großeltern erzählt werden konnten. Luthers Lebensleistung war ohne Zweifel gewaltig. Ich meine das auch in einem ganz praktischen Sinn: Wenn ich im Verkehrsmuseum die Fortbewegungsmittel des 16. Jahrhunderts anschaue, dann bewundere ich allein schon den Einsatz, den Luthers Reisen von Wittenberg aus erforderten. Unglaublich primitiv waren die Pferdewagen; ungepflastert waren die Straßen. Luther litt übrigens unter Nierensteinen; wenn er Glück hatte, gingen diese Steine bei solchen Reisen ab; wenn er Pech hatte, litt er unter unerträglichen Schmerzen. Bei unserer Art, über Meere und Kontinente zu reisen, können wir uns diese äußeren Umstände kaum noch vorstellen.

II.

Was war der Antrieb für einen so ungeheuren Einsatz? Er lag nicht in einem besonderen Geltungsdrang. Sondern er lag in einer Glaubenseinsicht, die Luther aus seiner Beschäftigung mit der Bibel erwachsen war. Im Römerbrief des Apostels Paulus hatte er gelesen, und dabei war es ihm wie Schuppen von den Augen gefallen:

Nun aber ist ohne Zutun des Gesetzes die Gerechtigkeit, die vor Gott gilt, offenbart, bezeugt durch das Gesetz und die Propheten. Ich rede aber von der Gerechtigkeit vor Gott, die da kommt durch den Glauben an Jesus Christus zu allen, die glauben. Denn es ist hier kein Unterschied: sie sind allesamt Sünder und ermangeln des Ruhmes, den sie bei Gott haben sollten, und werden ohne Verdienst gerecht aus seiner Gnade durch die Erlösung, die durch Christus Jesus geschehen ist. Den hat Gott für den Glauben hingestellt als Sühne in seinem Blut zum Erweis seiner Gerechtigkeit, indem er die Sünden vergibt, die früher begangen wurden in der Zeit seiner Geduld, um nun in dieser Zeit seine Gerechtigkeit zu erweisen, dass er selbst gerecht ist und gerecht macht den, der da ist aus dem Glauben an Jesus. Wo bleibt nun das Rühmen? Es ist ausgeschlossen. Durch welches Gesetz? Durch das Gesetz der Werke? Nein, sondern durch das Gesetz des Glaubens. So halten wir nun dafür, dass der Mensch gerecht wird ohne des Gesetzes Werke, allein durch den Glauben.


Ohne des Gesetzes Werke werden wir gerecht. Unser Ansehen begründet sich nicht in unserer Leistung. So heißt die Behauptung des Paulus, die Luther sich zu eigen macht. Sie ist sehr befremdlich und sehr aktuell.

Denn in der Regel gehen wir anders vor: Auf überprüfbare Leistungen kommt es an. Wer etwas zu Stande bringt, wird geachtet. Wenn Bilanz gezogen wird, steht das Geleistete meistens an erster Stelle. Jeder kennt das: im Beruf oder in der Schule, in der Familie oder auf dem Sportplatz: Leistung zählt. Das berechtigte Interesse an Bewährung und Erfolg wird überdreht: Der Mensch ist nur noch so viel wert, wie er selbst zustande bringt. Sein Tun bestimmt sein Sein.

In mehr oder weniger zweifelhaften Sprichwörtern kommt diese Lebenshaltung zum Ausdruck: „Im Leben wird dir nichts geschenkt.“ Oder: „Jeder ist seines Glückes Schmied.“ Schließlich: „Glück hat nur der Tüchtige.“ Wer so etwas sagt, kann mit allgemeiner Zustimmung rechnen. Hinter solchen Sprichwörtern steckt die bittere Erfahrung, dass überall nach Leistung gefragt und der Leistung entsprechend gemessen wird. Und weil es so ist, möchten wir eines unter allen Umständen vermeiden:  wir möchten keine Fehler machen. Weder in der Schule noch in unseren Berufen, weder im Freundeskreis noch in der Familie. Wir möchten unser Leben nicht verfehlen. Wir möchten es recht machen: Leistung erbringen, den Erwartungen von Eltern wie von Lehrerinnen und Lehrern entsprechen, dem Chef oder der Kollegin gerecht werden. Unser Leben soll Sinn haben und sich lohnen. Die Kehrseite ist, dass wir funktionieren wollen wie Fahrpläne oder Bedienungsanleitungen. Denn was einer besonders gut kann, ist nicht Begabung - also Gabe - , sondern eigene Leistung.

Eine Haltung entwickelt sich, die schließlich in den Satz mündet: „Im Leben wird dir nichts geschenkt“. Dieser Satz ist nicht nur deprimierend, sondern er ist vor allem unzutreffend, ja unmenschlich. Er spricht vom Leben, aber er leugnet es in Wahrheit. Denn vom Leben müssten wir doch zu allererst sagen: „Das Leben wird dir geschenkt.“ Hinzuzufügen wäre: Nicht einmal unser Misslingen hat das letzte Wort. Und wenn uns etwas gelingt, verdanken wir es in Wahrheit nicht uns selbst. Paulus hat das einmal ganz kurz gesagt: „Aus Gottes Gnade bin ich, was ich bin.“

III.

Martin Luther, an dessen Thesenanschlag im Jahre 1517 dieser Reformationstag erinnert, kämpfte nicht darum, unter die hundert bedeutendsten Deutschen zu kommen. Er kämpfte nicht um die eigene Ehre. Er wollte dem Gott der Gnade und der Liebe die Ehre geben.

Von Gottes Gnade ist die Rede. Von einem Gott ist zu sprechen, der sich auf das Vergleichen nicht einlässt. Da ist keiner durch seine Werke gerecht, da steht keiner glänzend da, nur weil er eine Menge einbringt. Auch die Gesetzestreuen und diejenigen, die besonders oft  in den Gottesdienst gehen, haben dadurch kein Mittel, um sich die Gnade Gottes, seine Nähe in unserem Leben zu erkaufen. Keine Herkunft, keine Zertifikate, keine Zeugnisse zählen vor Gott.

Luther empörte sich gegen ein Glaubensverständnis in seiner Zeit, nach dem aus dem Gesetz, aus der Einhaltung äußerlicher Gebote das Ansehen vor Gott abgeleitet wurde. Auch noch für verstorbene Angehörige konnte man etwas erwirken, wenn man auf den Knien die Stufen zum Petersdom in Rom heraufrutschte und auf jeder Stufe ein Vaterunser betete. Im Lutherfilm ist auch das zu sehen. Doch die Barmherzigkeit Gottes, wie sie sich in Jesus für alle zeigt, wurde mit solchen Verhaltensweisen gerade geleugnet. Den Glauben an diese Barmherzigkeit wollte Luther erneuern. Auf sie sind wir auch heute angewiesen.

Martin Luther wäre mit seiner Reformation sicher gescheitert, wenn er sich nur an der Auseinandersetzung mit dem Ablasshandel festgebissen hätte. Es ging ihm ja nicht nur darum, dass man mit Geld nicht seine Seele freikaufen kann; es ging ihm um die Veränderung der Seele und des Herzens selbst. Es ging ihm um eine Grundhaltung, die Fjodor Dostojewski einmal so ausgedrückt hat: Liebe heißt, einen Menschen so sehen, wie ihn Gott gemeint hat. Den Nächsten anzunehmen, weil Gott ihn annimmt, seine sonderbaren Züge eingeschlossen; damit fängt die Menschlichkeit an. Nur wenn wir zu diesem Schritt bereit sind, teilen wir unsere Mitmenschen nicht in Menschen erster und zweiter Klasse ein: in Inländer und Ausländer, Kluge und Dumme, Reiche und Arme und so fort. Es hat mit der Glaubenseinsicht Martin Luthers zu tun, wenn wir lernen, unseren Mitmenschen so anzunehmen, dass er sich auch selbst bejahen kann.

IV.

Der Protestant hängt an Luther, sagt Heinz Erhardt. Ich würde lieber sagen: Er schaut auf Luther. Aber er schaut auf Luther nur, weil er selbst auf einen anderen schaut: auf Jesus selbst. Viele Künstler stellen den Reformator Luther so dar, dass er – die Bibel in der Hand – entschlossen auf das Kreuz Christi, den menschgewordenen Gott zeigt. Aber was hat es nun auf sich mit dem menschgewordenen Gott? Der menschgewordene Gott, der in Jesus Christus sichtbar wurde, hat sich eingelassen auf unsere Geschichte. Er nimmt teil an unserer Freude und an unserer Not. Er ist sich nicht zu schade, in unserem Alltag ein guter Begleiter und Tröster zu sein.

Für diesen Gott protestierte Luther. Für diesen Gott legte er Zeugnis ab. Nicht Angst und Furcht sollen unser Leben bestimmen, nicht Gesetzlichkeit und nicht der Anspruch, aus unseren Leistungen und guten Werken unser Gottvertrauen ableiten zu können. Luther rückt ins Zentrum das Vertrauen auf Gott, die Zuversicht, die unerschütterlich ist, weil sie sich allein auf Gottes Gnade stützt. Diesen Halt hat aber nur, wer Gott in seinem Alttag nicht zu kurz kommen lässt. Deshalb heißt im Sinne Luthers protestantischer Christ sein: Wächter sein. Darüber zu wachen, dass der Wille Gottes in unserem Lebensalltag nicht zu kurz kommt. Wächter darüber zu bleiben, dass das Geschenk der Gnade in unserem Leben Raum behält.

Gott wird nach seinem Maß Gnade walten lassen über uns. Darauf können wir vertrauen. In diesem Vertrauen werden wir aber nicht untätig bleiben, sondern zur Tat schreiten und sichtbar unseren Glauben, unser Vertrauen leben. Wächter sein. Amen.