Festakt zum 300. Geburtstag von Nikolaus Reichsgraf von Zinzendorf

Grußwort des EKD-Ratsvorsitzenden, Präses Manfred Kock

26. Mai 2000

Es gilt das gesprochene Wort

Ich überbringe der Evangelischen Brüder-Unität die Grüße und Glückwünsche der Evangelischen Kirche in Deutschland zum 300. Geburtstag ihres Gründers Nikolaus Reichsgraf von Zinzendorf. Die Evangelische Brüder-Unität hat sich als eine Freikirche der Evangelischen Kirche in Deutschland vertraglich angegliedert. Dies ist eine Bereicherung für uns. Die Brüder-Unität ist, trotz ihrer kleinen Mitgliederzahl, ein wesentlicher Bestandteil der deutschen evangelischen Christenheit. Die Herrnhuter Brüdergemeine und die weltweite Brüder-Unität, die Herrnhuter Mission, die Diakonischen Werke und Gemeinden der Evangelischen Brüder-Unität sind Kennzeichen für die geistliche Lebendigkeit und für die institutionelle Vielfalt, die im deutschen Protestantismus gedeiht. Bis heute kommt die Wirksamkeit der Herrnhuter Frömmigkeit, die schon immer weit über die Grenzen der Unität hinausreichte, der Evangelischen Kirche in Deutschland und ihren Gliedkirchen, der Arbeitsgemeinschaft Christlicher Kirchen und dem Ökumenischen Rat der Kirchen, dem die Unität seit 1948 angehört, zugute.

Am bekanntesten hat das Losungsbüchlein die Brüdergemeine gemacht. Es erscheint heute in 46 Sprachen und in vielfacher Millionenauflage. Es ist sicherlich das verbreitetste Andachtsbuch evangelischer Christen, das in den unterschiedlichen protestantischen Kirchen genutzt wird. So ist es ein innerprotestantisches Band der Frömmigkeit geworden. Mein eigener Rhythmus des Tages ist auch durch das Lesen der Losung geprägt; eine zeitlang habe ich Losung und Lehrtext in der Ursprache gelesen. Ich weiß mich mit Millionen Menschen verbunden durch die Tageslosung. Das war nicht immer so. Ganz früher habe ich mich gesperrt gegen die Neigung einen Vers zu nutzen wie ein Orakel. Das wurde anders, seit ich den Zusammenhang mit bedenke. Jetzt freue ich mich über den Segen der Regelmäßigkeit und über den Trost, der darin ruht.

Der von Zinzendorf ausgehenden Erneuerung evangelischer Frömmigkeit und seiner Neugestaltung kirchlicher Gemeinschaft verdankt der Protestantismus, verdanken auch speziell die evangelischen Landeskirchen eine besondere und eigenständige Gestalt des Pietismus in ihrer Mitte. Bis heute ist sie eindrucksvoll in der unverkrampften Intensität des individuellen Glaubenslebens. Sie hat ihren Ausdruck gefunden in einem reichen, innigen und kraftvollen Liedgut. "Herz und Herz vereint zusammen sucht in Gottes Herzen Ruh. Lasset eure Liebesflammen lodern auf den Heiland zu. Er das Haupt, ihr seine Glieder, er das Licht und wir der Schein, er der Meister wir die Brüder, er ist unser, wir sind sein". Das ist nach wie vor eines der anrührendsten Lieder zum Gottesdienst, wie auch eines der beständigsten Kasuallieder von Zinzendorf stammt: "Jesu, geh voran auf der Lebensbahn! Und wir wollen nicht verweilen, dir getreulich nachzueilen; führ uns an der Hand bis ins Vaterland".

Auch in den Gottesdienstformen hat Zinzendorf originelle und erlebnisstarke Neuprägungen geschaffen wie das Liebesmahl. Die von Zinzendorf mit großer Energie auf den Weg gebrachte pädagogische, diakonische und missionarische Arbeit der Brüdergemeine ist nicht nur wegen ihrer weitreichenden sozialen, geistigen und geistlichen Wirkung von großem kulturellen Gewicht - sie ist in vielem bis heute vorbildlich! Es war Zinzendorf, der die vom Halleschen Pietismus ausgehenden pädagogischen Aktivitäten auf die Eigenart und Entwicklung wirklich von Kindern ausrichtete. Er verschaffte der Kindgemäßheit, der Natürlichkeit des Aufwachsens und der Psychologie des Entwicklungsalters den ihnen gebührenden Stellenwert, statt das Kindesalters lediglich als eine Defizitärephase des Menschseins zu betrachten, das erst im Erwachsenen vollkommen würde. Friedrich Schleiermacher, der große Theologe des Neuprotestantismus, der auch als Pädagoge überragende Bedeutung erlangte, hat sich stets zu seiner Erziehung im Herrnhutischen Niesky bekannt.

Es war auch Zinzendorf, der die christliche Mission klar und bewusst von politischen Machtansprüchen und von kultureller Arroganz gegenüber den "Wilden" befreit hat. So wurde Mission als schlichtes Glaubenszeugnis umso wirksamer zur Geltung gebracht. Seither ist klar, dass christliche Mission nur im Zusammenhang mit kultureller und religiöser Toleranz möglich ist.

Damit hängt zusammen, dass Mission die Akzeptanz der Verschiedenheit christlicher Konfessionen zur Voraussetzung hat. So hat die Brüdergemeine eine besondere ökumenische Offenheit gewonnen. Es begann mit der Aufnahme der böhmischen Brüder im lutherischen Territoriums Sachsens und dokumentiert sich bis heute in konfessionsübergreifenden Doppelmitgliedschaften und Sozietäten.

Zinzendorfs Entscheidung für die freikirchliche und synodale Kirchenverfassung hat sich weltweit als vorbildlich und sogar innerhalb der durch die Tradition des landesherrlichen Kirchenregiments geprägten deutschen evangelischen Landeskirchen zu verankernde Form erwiesen.

Nikolaus von Zinzendorf ist es gelungen, durch die Verknüpfung seiner ganz persönlichen, ja intimen Jesusliebe mit der Orientierung am reformatorischen Bekenntnis und seiner Treue zur Heiligen Schrift, den Herausforderungen neuzeitlichem Denkens und Empfindens in der aufklärerischen Moderne aus der Mitte des Christusglaubens heraus zu begegnen. Wie seine Zeitgenossen Swedenborg und Hamann hat auch er seine spezifische Erlebnisfrömmigkeit in London ausgebildet, das damals ein Kulturzentrum der modernen Subjektivität gewesen ist. Die Echtheit und Authentizität seines zeitgenössischen, aber nicht anpasserischen Christentums ist zu Recht auch von Kritikern der Kirche seit Johann Wolfgang von Goethe und Gotthold Ephraim Lessing immer wieder anerkannt und bewundert worden.

Der emotionalen Stärke und Gefühlstiefe Zinzendorfs, seiner intellektuellen Phantasie, seiner begnadeten, geradezu charismatischen Fähigkeit zur Freundschaft und nicht zuletzt seinem Mut zum Experiment verdanken wir eine enorme Bereicherung der religiösen Kultur. Gerade darum ist Zinzendorf für unsere Zeit von großer Bedeutung. Befreiung der Theologie aus der Verengung rationalistischer Bemühen und Öffnung für persönliche Erfahrung, das ist von Zinzendorf zu lernen für unsere Gegenwart.

Damit ist nicht jene esoterische Verfremdung gemeint, die auch unter Zinzendorf gelockt hat. Es geht vielmehr um die Erfahrung, die an die Überlieferung in Schrift und Bekenntnis rückgebunden ist. Seine Subjektivität, in der er der Moderne zugehört, fand klare Grenzen in der Bindung an die Gemeinde. Zinzendorf weist einen Glauben zurück, der persönliche Frömmigkeit als individuellen Seelenfrieden missversteht. Dafür steht sein vielzitiertes Diktum "Ich statuiere: kein Christentum ohne Gemeinschaft!"

Ich wünsche, dass diese Kraft des Zinzendorfschen Vermächtnisses uns heute vor Religion nach dem Muster der Warenhäuser, aber auch vor Dogmatismus und Rechthaberei bewahrt. Die Vielgestaltigkeit des Zeugnisses, auf die Christusmitte bezogen, ist heute wichtiger denn je.

Hannover, 26. Mai 2000
Pressestelle der EKD