Zu den aktuellen Ereignissen in Tschetschenien

Präses Manfred Kock (EKD) und Bischof Karl Lehmann (DBK)

10. Dezember 1999

Den drohenden Massenmord in Grosny verhindern

Seit Wochen wendet die russische Regierung in Tschetschenien in großem Ausmaß Gewalt an, deren Folgen in erster Linie die Zivilbevölkerung zu erleiden hat. Die russische Führung begründet dieses Vorgehen mit der Notwendigkeit, dem Terrorismus Einhalt zu gebieten.

Die jüngsten Entwicklungen geben uns Anlaß, eindringlich in Erinnerung zu rufen, daß die Anwendung von Gewalt, auch wenn sie der Terrorismusbekämpfung dienen sollte, niemals die Form eines rücksichtslosen Krieges gegen die Zivilbevölkerung annehmen darf. Nach allem, was wir über die Kämpfe in Tschetschenien wissen, steht außer Frage, daß der russische Militäreinsatz das Prinzip der Angemessenheit der Mittel in menschenverachtender Weise mißachtet. Die Berufung auf die staatliche Souveränität und auf die Notwendigkeit der Bekämpfung des Terrorismus gibt keine Rechtfertigung dafür, Stellungen von Bewaffneten und Wohnviertel der Bevölkerung unterschiedslos zu bombardieren, Dörfer und Städte zu zerstören und Hunderttausende von Menschen in die Flucht zu treiben. Ein solches Vorgehen widerspricht den elementaren Geboten der Menschlichkeit ebenso wie internationalem Recht.

Mit Bestürzung nehmen wir zur Kenntnis, daß die russische Militärführung eine ultimative Aufforderung an die Bevölkerung im bereits weitgehend zerstörten Grosny gerichtet hat, die Stadt binnen weniger Tage zu verlassen. Wer sich danach noch dort aufhält, soll als Terrorist behandelt und getötet werden. Die russische Seite versucht offenbar auf diese Weise, sich den Anschein einer Legitimation dafür zu verschaffen, daß die unterschiedslose Weise ihrer Gewaltanwendung noch weiter eskaliert. Ein Großteil der in Grosny eingeschlossenen, unter Hunger und Kälte leidenden Bevölkerung, insbesondere alte, kranke und gebrechliche Personen, deren Zahl russischen Quellen zufolge noch auf bis zu 45.000 Menschen beziffert wird, hat schon wegen fehlender Transportmöglichkeiten kaum noch eine reale Chance, die Stadt rechtzeitig zu verlassen. Alle uns bekannten Einzelheiten lassen daher befürchten, daß der angedrohte intensivierte Waffeneinsatz primär die in Grosny verbliebenen Zivilisten treffen wird. Es droht ein Massenmord an der Bevölkerung von Grosny.

Wir unterstützen die Haltung des Patriarchen der Russischen Orthodoxen Kirche, Alexij II., der sich in seiner Erklärung vom 12. 11. 1999 von den Übergriffen der Armee auf die Zivilbevölkerung distanziert, vor allen Versuchen warnt, den Krieg in Tschetschenien zu mißbrauchen, um die Beziehungen zwischen Muslimen und Christen zu zerstören und dazu aufruft, die Gesellschaft genau und vertrauenswürdig über die Vorgänge in Tschetschenien zu informieren.

Wir appellieren mit aller Dringlichkeit an die russische Regierung und ihre Militärführung, von der Durchführung der Vernichtungsangriffe gegen Grosny Abstand zu nehmen und in Tschetschenien zur Achtung der elementaren Menschenrechte zurückzukehren.

Ebenso appellieren wir angesichts des heute beginnenden EU-Gipfels in Helsinki an die Bundesregierung und alle Regierungen der EU-Staaten, energisch auf die russische Regierung einzuwirken, um diese von dem angedrohten Vorgehen in Grosny abzubringen. Alle internationalen politischen Zusammenschlüsse fordern wir auf, die mit der russischen Mitgliedschaft gegebenen Möglichkeiten einer mäßigenden Einflußnahme aktiv zu nutzen.

Die Glaubwürdigkeit des Einsatzes der demokratischen Staaten für die Menschenrechte hängt jetzt und für die Zukunft davon ab, ob auch gegenüber einem bedeutenden Land wie Rußland eine klare und unmißverständliche Haltung eingenommen wird.

Bonn/Hannover, 10. Dezember 1999

Pressestelle der Deutschen Bischofskonferenz

Pressestelle der EKD