Eingangswort im Fernsehgottesdienst des ZDF in Ingelheim

EKD-Ratsvorsitzender, Präses Manfred Kock

16. September 2001

Unser Anfang steht im Namen des Herrn, der Himmel und Erde gemacht hat, der Treue hält ewiglich, der Recht schafft denen, die Gewalt leiden. Amen.

Liebe Gemeinde in Ingelheim und weit im Land an den Fernsehgeräten!
Für einige Stunden hat uns die Katastrophe vom vergangenen Dienstag die Sprache verschlagen. Etwas Unfassbares ist geschehen. Das Lebensgefühl der Menschen hat einen tiefen Sprung bekommen. Die Konsequenzen sind für die Sicherheitspolitik, für die Weltwirtschaft, für die Lebensgewohnheiten  noch gar nicht auszudenken. Was steht uns noch alles bevor?
Die Sprachlosigkeit hat nicht lange angehalten. Die Medien sind voll von bewegenden Reportagen, pathetischen Bekenntnissen, klugen Analysen. Wir Menschen haben ein Bedürfnis, uns Erklärungen zurechtzulegen und Klarheit über die anstehenden Aufgaben zu gewinnen. Gottesdienste wie dieser und viele in unserem Land werden uns helfen in dieser anschwellenden Flut der Worte. Wir finden Zuflucht zu Gebet und Stille, wir bedienen uns hilfreicher Gesten.

Wir Menschen verstehen Ereignisse, die über uns kommen, sehr rasch als Herausforderung zum Handeln. Wir sehen uns gern als Macher. Und es ist ja richtig: Nach der Katastrophe vom vergangenen Dienstag musste und muss so vieles getan werden, von den Rettungsmaßnahmen vor Ort bis hin zur Vorbereitung weittragender politischer Entscheidungen. Aber das ist nicht die ganze Wahrheit. Tief im Inneren sind wir unsicher und ratlos. Hektische Aktivitäten überdecken manchmal nur diese Ratlosigkeit. Wo können wir zugeben, dass wir nicht, noch nicht weiter wissen? Der Gottesdienst ist ein Ort, wo wir vor Gott ehrlich bleiben und ehrlich werden dürfen, wo wir unsere Angst und Verzweiflung aussprechen können.
Die Terroranschläge dieser Woche sind im politischen Raum als Kriegserklärung an die zivilisierte Welt aufgefasst worden. Tausende von Menschen, Reisende, Arbeitnehmer, Touristen, Feuerwehrleute sind zum Opfer brutaler Gewalt geworden. Aber es wäre zu kurz gegriffen, die zivilisierte Welt nur als Opfer zu sehen. Eine alte Liederstrophe lautet: "Aus tiefer Not schrei ich zu dir, Herr Gott, erhör mein Rufen. Dein gnädig' Ohren kehr zu mir und meiner Bitt sie öffne. Denn so du willst das sehen an, was Sünd und Unrecht ist getan, wer kann, Herr, vor dir bleiben?" Wir dürfen es uns nicht erlauben, Sünd und Unrecht nur auf der anderen Seite zu suchen. Wir müssen auch fragen, was sich in der zivilisierten Welt verändern muss, damit Friede und Gerechtigkeit sich ausbreiten und Hass und Fanatismus weniger leicht angefacht werden können.
Einer der vielen lesenswerten Zeitungsartikel dieser Woche trug die Überschrift: "In New York verlor die Welt ihr Urvertrauen". Natürlich stellt sich die Frage: Wie viel Urvertrauen, wie viel Lebenszuversicht hat es vor dem 11. September 2001 tatsächlich gegeben? Wie viel davon war erkauft durch Verdrängen und Wegsehen? Und vor allem: Worauf kann es sich gründen? Das ist vielleicht die größte Sehnsucht, die Menschen in diesen Tagen ins Gebet und in den Gottesdienst führt: dass sie ihr beschädigtes Urvertrauen wieder herstellen, dass sie ihre Lebensangst überwinden und neue Zuversicht gewinnen wollen. Gebe Gott, dass jeder und jede von uns dieses Bekenntnis aus vollem Herzen glauben lernt: "Darum auf Gott will hoffen ich, auf mein Verdienst nicht bauen; auf ihn mein Herz soll lassen sich und seiner Güte trauen, die mir zusagt sein wertes Wort; das ist mein Trost und treuer Hort, des will ich allzeit harren."