Zwischenbilanz des Gemeinsamen "Sozialwortes" der Kirchen

Präses Manfred Kock, Vorsitzender des Rates der EKD, Salvatorkirche, Duisburg

25. Februar 1998

Meine Damen und Herren,

für Ihr Interesse an dieser Veranstaltung, in der wir versuchen wollen, eine Zwischenbilanz der bisherigen Behandlung und Diskussion des Gemeinsamen Wortes der Kirchen zu ziehen, bedanke ich mich herzlich.

Wir waren in unseren Kirchen übereinstimmend der Meinung, daß wir nach einem Jahr eine solche Zwischenbilanz ziehen und dabei prüfen sollten, ob mit diesem Wort der Konsultationsprozeß der vorausgegangenen Jahre weitergeführt werden könnte und vor allem, ob es stark genug ist, unserer Gesellschaft Impulse zu geben für die Entwicklung politischen und ökonomischen Handelns im Sinne dieses Gemeinsamen Wortes.

Wie abgesprochen will auch ich zunächst berichten, was in unseren Kirchen in den vergangenen zwölf Monaten seit Erscheinen des Wortes geschehen ist, um dann zu einzelnen Aspekten des Gemeinsamen Wortes Stellung zu nehmen.

Unser Bemühen heute zielt darauf, Klarheit zu gewinnen für notwendige nächste Schritte.

Anlaß für die Kirchen, sich mit einem solchen Wort an die Öffentlichkeit zu wenden, waren die tiefgreifenden wirtschaftlichen und sozialen Herausforderungen und Veränderungen in unserer Gesellschaft.

Diese Herausforderungen sind angesichts weiter zunehmender Arbeitslosigkeit, wachsender Armut und sozialer Spannungen nicht geringer geworden. Die Aussagen, Feststellungen und Mahnungen haben an Aktualität noch gewonnen vor allem deshalb, weil sich eine Stimmung ausbreitet, die millionenfache Arbeitslosigkeit als schicksalhaft hinzunehmen bereit ist - angesichts einer für kaum beeinflußbar gehaltenen globalen Wirtschaftsentwicklung.


I.
Zwischenbilanz

Bereits mit der Diskussionsgrundlage für den Konsultationsprozeß über ein gemeinsames Wort 1994 hatten die Kirchen Neuland betreten, in dem sie von den bisher üblichen Denkschriften, Hirtenbriefen und anderen abgeschlossenen Stellungnahmen abgegangen sind, um durch einen breit angelegten Konsultationsprozeß über drängende Probleme und Fragestellungen des wirtschaftlichen, sozialen und gesellschaftlichen Miteinanders einen möglichst breiten Konsens zu erzielen.

Die Kirchen fühlten sich in der damaligen politischen und gesellschaftlichen Situation kurz nach der Wiedervereinigung mitverantwortlich für eine menschen- und sachgerechte Ordnung öffentlicher Angelegenheiten und Probleme und haben ihren Schwerpunkt dabei besonders den Belangen der Armen, Schwachen und Benachteiligten gewidmet.

Der sich daran anschließende Dialog mit allen gesellschaftlichen Gruppen und Institutionen hat uns überrascht und im Endergebnis mit über 2.500 Eingaben, Erklärungen und Stellungnahmen auf ca. 25.000 Seiten zu einem vielschichtigen Zwischenergebnis geführt. Es ist dabei die ganze Bandbreite der in Kirche und Gesellschaft vertretenen Auffassungen zur wirtschaftlichen, sozialen und ökologischen Lage in Deutschland diskutiert und formuliert worden. Die wesentlichen Ergebnisse dieses Konsultationsprozesses sind in einem einleitenden Kapitel des Gemeinsamen Wortes für eine Zukunft in Solidarität und Gerechtigkeit festgehalten und haben die eigenständigen Arbeitsergebnisse geprägt.

Im Raum der Ev. Kirche in Deutschland ist das Wort auf eine überraschend breite Zustimmung gestoßen. Es hat eine intensive Bewegung angestoßen, die bis zum heutigen Tag fortwirkt.


1. In fast allen Landeskirchen gab es hochrangig besetzte Auftaktveranstaltungen mit Kirchenleuten, Politikern, Unternehmensvertretern und Gewerkschaften, zumeist ökumenische besetzt.

2. Es gab etwa 4.000 Veranstaltungen, eine große Zahl thematisch ausgerichteter Gottesdienste und Veranstaltungen auf der Ebene von Gemeinden und Kirchenkreisen.

3. Arbeitshilfen, Kurzfassungen, Infobriefe und unterschiedliche kirchliche Publikationen haben geholfen, den Inhalt des Gemeinsamen Wortes zu multiplizieren und verständlich zu machen.

4. Der Text ist bisher 500.000 Mal verteilt und in der Zwischenzeit in vier Sprachen übersetzt worden.

5. Das Gemeinsame Wort ist so etwas wie eine Zusammenschau aller gesellschaftlich relevanten Themen. Es dient der Diskussion, zur Positionsbestimmung und zur Selbstvergewisserung. Es ist ein Versuch der Kirchen, "zu zeigen, wie Gesellschaft funktioniert und was sie zusammen hält".

6. Das Gemeinsame Wort wird als Strategiepapier benutzt für:
- Kampagnen
- regionale Aktionsbündnisse und Runde Tische
- Projektinitiativen
- Bildung von Fonds
mit der Zielrichtung
- für konkrete Verbesserungen und Hilfen vor Ort
- gegen Arbeitslosigkeit und Armut
- für benachteiligte Jugendliche
- zur Erhaltung des Sozialstaates
- für Arbeit und Gemeinwohl
- zur Erhaltung und Förderung regionaler Standorte
- für Obdachlose und Übersiedler
- für soziale Gerechtigkeit und wirtschaftliche Verantwortung

7. Beachtenswert ist das Interesse aus nichtkirchlichen Kreisen. Es haben sich in zahlreichen Initiativen und Aktionen sog. "Runde Tische sozialer Verantwortung" gebildet. Wir beobachten so etwas wie einen Zusammenschluß von Menschen "guten Willens" aus allen gesellschaftlichen und politischen Lagern.

8. Das Papier befördert Dinge, die schon bekannt sind; es schafft mehr Bewußtsein und wirkt konzentrierend und vernetzend.

9. Von einer besonders zu beobachtenden Entwicklung wird mir berichtet aus den Kreisen derjenigen, die institutionell mit dem Wort zu tun haben. Obwohl sich im Wort die deutlich kritisierten sozialen und ökologischen Verhältnisse in unserem Lande verschlimmern, ist eine politische Umsetzung des Textes bisher weitgehend ausgeblieben. Es zeigt sich aber auch, daß es in allen gesellschaftlichen Gruppen Menschen gibt, die dem Plädoyer für ein zukunftsfähiges, solidarisches und gerechtes Gemeinwesen beipflichten und das Anliegen der Kirchen unterstützen.

10. Das Wort ist Teil einer internationalen Bewegung. In vielen westlichen Industrieländern sind es die Kirchen, die sich mit Worten dieser Art für ein solidarisches und gerechtes Gemeinwesen einsetzen.

Lassen Sie mich etwas zu den kritischen Stimmen sagen.
Kritik an dem Wort der Kirchen hat es gegeben. Es gab Stimmen, die den Kirchen die Kompetenz absprechen wollten, zu den wirtschaftlichen Fragen, die uns alle betreffen, öffentlich Stellung zu nehmen. Die Kirchen, so hieß es, würden sich zu wenig auf die Funktionsmechanismen der Marktwirtschaft einlassen und sie hätten sich zu wenig wachstumsorientiert geäußert. Hans Olaf Henkel, Präsident des BDI, formulierte, nur wenn es der Wirtschaft gutgehe, profitieren davon auch diejenigen, denen es nicht gutgehe (SZ vom 13.03.97). Andere sahen in dem Wort ein ausschließliches "Sozialpapier", das auf Verteilungsfragen fixiert sei. Ja, es sei gerade der Mangel der Kirchen, daß sie den harten Realitäten der Konkurrenzökonomie fremd gegenüberstünden. Daher dürfe man sich nicht wundern, wenn harmonische Sozialworte nichts bewirkten (FW. Graf im DS von 27.06.97). Wir widersprechen mit Nachdruck dieser Kritik. Das entscheidende Anliegen der Kirchen ist es zu zeigen: "Das Leistungsvermögen der Volkswirtschaft und die Qualität der sozialen Sicherung sind wie zwei Pfeiler einer Brücke. Die Brücke braucht beide Pfeiler." Es ist kein Widerspruch, auf beide Pfeiler zur gleichen Zeit zu setzen. Es ist kein Mangel, das Ganze (!) im Blick zu haben und wirtschaftliche Erfordernisse des Gemeinwesens im Zusammenhang zu sehen. Es ist kein Fehler, sondern eine dringende Notwendigkeit, Fragen der gerechten Verteilung anzusprechen und eine differenzierte Diskussion darüber anzuregen. Zu einer sozial und ökologisch verpflichteten Marktwirtschaft, die sich dem Gemeinwesen, den Belangen des Menschen und der Bewahrung der Schöpfung verpflichtet weiß, gibt es auch weltweit keine vernünftige Alternative.

Ich will im folgenden auf einige Problemstellungen eingehen, bei denen die Kirchen in besonderer Weise in die Öffentlichkeit hineinsprechen und politisches Handeln einfordern müssen, denn es muß noch sehr viel mehr geschehen. Es müssen noch mehr Menschen in Kirche, Wirtschaft und Politik dafür gewonnen werden, ihren Beitrag für eine Zukunft in Solidarität und Gerechtigkeit zu leisten. Ferner soll aufgezeigt werden, an welchen Punkten vor allem die vom Gemeinsamen Sozialwort angestoßene Diskussion weitergehen muß.


II.
Arbeitslosigkeit

Die anhaltende Massenarbeitslosigkeit, die sich auf einen neuen Höchststand zubewegt, bleibt ein Skandal für ein nach wie vor reiches Land, in dem die Vermögenden entlastet werden und die Gewinne steigen, auch wenn dies vielfach bestritten wird, während die Abgabenlasten für den Arbeitnehmer zunehmen. Arbeitslosigkeit ist eine unzumutbare Last für die Betroffenen und ihre Familien, für Frauen, Kinder und Jugendliche, für ältere Menschen und für ausländische Mitbürger, und sie ist eine zunehmende Belastung auch für den sozialen Frieden in unserem Land. Sie gefährdetet den solidarischen Zusammenhalt.

Deshalb steht das Thema Arbeitslosigkeit mit all ihren Auswirkungen und Folgen an zentraler Stelle am Anfang des Gemeinsamen Wortes, wo die gesellschaftlichen Umbrüche und die damit im Zusammenhang stehenden tiefen Risse in unserer Gesellschaft beschrieben werden. Die Mahnungen und Empfehlungen des Gemeinsamen Wortes bleiben aktuell. Bisher ist kein Konsens erkennbar, wie die Arbeitslosigkeit überwunden werden kann.

Zum Jahreswechsel lag die Arbeitslosenquote mit 11,8 % um einen Prozentpunkt höher als Ende 1996, und es waren nach den Berechnungen des Statistischen Bundesamtes etwa eine halbe Million Frauen und Männer weniger erwerbstätig als im Vorjahr. Besonders dramatisch ist die Situation bei jungen Menschen und in den Neuen Bundesländern. Einige wirtschaftswissenschaftliche Institute rechnen für dieses Jahr mit einem weiteren Anstieg.

In Gesprächen mit den Verantwortlichen in Politik und Wirtschaft haben wir Kirchen kritisch zu fragen, worin eigentlich die Aufgabe wirtschaftlichen Handelns besteht. Gewinnorientierung und Wettbewerb sind nicht Sinn und Ziel des Wirtschaftens. Sie sind vielmehr Instrumente, die der Versorgung mit notwendigen Gütern, Dienstleistungen und dem sozialen Schutz der Menschen dienen. Wer wirtschaftlich handelt, der hat auch Verantwortung für Menschen und für die Umwelt zu übernehmen. Angesichts dieser Probleme stellt sich die Frage nach der Glaubwürdigkeit einer auf ethischen und sozialen Grundprinzipien beruhenden Marktwirtschaft.

Unser marktwirtschaftliches System wird für die Zukunft ungeeignet sein, wenn es blind ist für soziale und für ökologische Probleme und Fragestellungen.

Das Gemeinsame Wort stellt fest, daß Erwerbsarbeit auf absehbare Zeit noch immer die wichtigste Voraussetzung für die eigene Lebensvorsorge und Grundlage für die Teilhabe am gesellschaftlichen Leben ist.

In diesem Zusammenhang ist das Menschenrecht auf Arbeit als Ausdruck der Menschenwürde im Gemeinsamen Wort formuliert worden. Arbeit ist kein Selbstzweck, Arbeit ist Mittel, den Bedarf des Einzelnen, der Familie und der Gemeinschaft zu sichern. Das Recht auf Arbeit ist ein wesentlicher Baustein für eine zukunftsfähige Gesellschaft. Es wird zwar nicht als ein individuell einklagbarer Anspruch verstanden, wohl aber als Orientierung für das politische und wirtschaftliche Handeln. Gefordert wird hier eine gerechte Verteilung der gesellschaftlich anfallenden Arbeit, also auch der Nichterwerbsarbeit.

Arbeitslosigkeit ist kein unabwendbares Schicksal, dem Politik, Wirtschaft und Gesellschaft hilflos ausgesetzt werden (Ziff. 167).

Die Kirchen erheben nicht den Anspruch, die Lösungen für die Bewältigung der Krisensituation zu haben. Sie sehen es aber als ihre Pflicht an, angesichts der sich weiter verschärfenden Situation auf dem Arbeitsmarkt, sich um der betroffenen Menschen willen immer wieder zu Wort zu melden, mit anderen nach Wegen und Lösungen aus dieser Lage zu suchen und im Rahmen eigener Möglichkeiten Mittel zur Verfügung zu stellen für Modellprojekte von Beschäftigungs- und Qualifizierungsinitiativen. Dazu liegen inzwischen auch in den Kirchen ausreichende Erfahrungen vor. Es geht uns darum, das Bewußtsein für die Probleme der Massenarbeitslosigkeit zu schärfen und die Dringlichkeit arbeitsmarktpolitischer Maßnahmen anzumahnen.

Es gibt vielfältige Ansätze, die im einzelnen im Gemeinsamen Wort aufgelistet worden sind: Eigenverantwortung, mehr Engagement vor Ort, mehr Gemeinsinn und Hilfsbereitschaft im Bereich von Familie, Nachbarn und Freunden.

Die EKD hat in einer 1995 erschienenen Studie gefordert:

a) Es müssen die gesamtwirtschaftlichen Rahmenbedingungen durch eine koordinierte Wirtschaftspolitik verbessert werden. Denn nur das Zusammenwirken von Wirtschafts-, Finanz-, Struktur-, Tarif- und Arbeitsmarktpolitik könne letztlich Wege aus der Arbeitslosigkeit eröffnen. Deshalb halte ich es für eine schlimme Entwicklung, daß in unserem Lande das Bündnis für Arbeit gescheitert ist.

b) Eine gestaltende Arbeitsmarktpolitik muß weiterentwickelt und auf bewährten Regelungen z.B. der Arbeitsförderung sowie der Tarifpolitik aufgebaut werden. Unter "gestaltender Arbeitsmarktpolitik" können hier die Instrumente wie Fortbildung, Umschulung, Arbeitsbeschaffung und Qualifizierung verstanden werden. Dabei sind für bestimmte Zielgruppen des Arbeitsmarktes besondere Hilfen notwendig.

c) Arbeit muß neu verteilt, Teilzeitarbeit gefördert, und Überstunden müssen abgebaut werden.

Im Gemeinsamen Wort sind diese Forderungen aufgegriffen und inhaltlich wesentlich weiterentwickelt worden.

Die soziale Marktwirtschaft muß unter Beweis stellen, daß sie ein solches Problem lösen kann und damit jeder anderen Wirtschaftsordnung ohne soziale Verpflichtung überlegen ist. Alle Institutionen und Gruppen unserer Gesellschaft sind hier zur Mitverantwortung aufgefordert. Dazu bedarf es sicherlich auch eines breiten Grundkonsenses in der Gesellschaft, der von den Kirchen ausdrücklich eingefordert worden ist. Ein solcher Grundkonsens meint nicht Harmonie, sondern ein ausreichendes Maß an Übereinstimmung trotz verbleibender Gegensätze (Ziff. 127).


III.
Sozialstaat

Das Gemeinsame Wort äußert sich in einem weiteren Kapitel des analytischen Teils zur "Krise des Sozialstaates" und der daran anknüpfenden gesellschaftspolitischen Auseinandersetzung um die Stichworte "Abbau" und "Umbau" des Sozialstaates.

Mein persönlicher Eindruck ist der, daß unser Sozialstaat aus bestimmten Interessenlagen heraus in die "Krise" geredet wird, und das nicht erst in den letzten Jahren. Mit immer den gleichen Argumenten hat die "Krise des Sozialstaates" die Regierungen unterschiedlicher Zusammensetzung schon in den letzten Jahrzehnten beschäftigt. Immer stand die Aussage im Mittelpunkt, daß es mit dem Sozialstaat so nicht weitergehen könne. Allerdings wird von den politischen Akteuren diese Krise an ganz unterschiedlichen Sachverhalten festgemacht. Die einen sprechen von einer Finanzierungskrise der sozialen Sicherungssysteme; andere sprechen von einer Leistungskrise, die zunehmend mehr Menschen ihren Anteil am gesellschaftlich verfügbaren Wohlstand versagt. Schließlich spricht man auch von einer Legitimationskrise des deutschen Sozialstaates.

Ich stehe zu der Feststellung im Gemeinsamen Wort, "nicht der Sozialstaat ist zu teuer, sondern die Arbeitslosigkeit".

Das heißt jedoch nicht, daß notwendige Schritte zu einer Entlastung und Stabilisierung des Systems der Sozialsicherung getan werden müssen. Die sozialen Sicherungssysteme müssen konsolidiert werden, sie haben sich bisher als tragfähig erwiesen, stellt das Gemeinsame Wort fest. Es werden die Fehlentwicklungen und Belastungen der sozialen Sicherungssysteme analysiert und eine Reihe von Vorschlägen gemacht. Es muß sich zeigen, ob die politischen Verantwortungsträger bereit sind, sich mit diesen Vorschlägen zu befassen. Diese Vorschläge zielen darauf ab, den Zusammenhang zwischen Beitragsleistung und Versicherungsanspruch wieder zu festigen, die individuelle Eigenverantwortung zu stärken, die Sozialversicherungen von versicherungsfremden Leistungen zu entlasten und vor allem die Basis der Solidargemeinschaft zu verbreitern (Ziff. 190).

Soziale Gerechtigkeit und Solidarität bleiben in unserem Lande so lange bloße Worthülsen, solange es keine Gleichbehandlung gleicher sozialer Tatbestände gibt und der Mißbrauch von Steuerbegünstigung und Subventionen nicht in gleicher Weise bekämpft wird wie die mißbräuchliche Inanspruchnahme von Unterstützungen.

Es ist müßig, über die angemessene Definition von Armut in unserem Lande zu streiten. Es geht darum, Menschen in einem insgesamt wohlhabenden Land in angemessener Weise Teilhabemöglichkeiten am gesellschaftlichen Leben zu bieten.

2,5 Mio. Menschen sind in unserem Lande von Sozialhilfe mit laufender Hilfe zum Lebensunterhalt abhängig. Erschreckend ist dabei die wachsende Zahl von Kindern und Jugendlichen und der Anteil von Familien mit mehreren Kindern, trotz Erwerbstätigkeit eines Elternteils oder auch die große Zahl von Alleinerziehenden, die diesem Personenkreis zuzuordnen sind. Armut ist nicht nur ein materielles Problem. Sie betrifft unterschiedliche Lebenslagen, Situationen, die mit Wohnen, Gesundheit, Bildung, sozialer Eingebundenheit und gesellschaftlicher Anerkennung zu tun haben.

Nun nimmt bei uns nicht nur die Armut zu, sondern auch der Reichtum und die private Vermögenskonzentration (zur Zeit wird von einem Vermögenswert von über 10 Billionen DM gesprochen).

Der Kerngedanke und die damit zusammenhängende Forderung der Kirchen unter dem Gesichtspunkt der Solidarität in unserer Gesellschaft ist deshalb, daß "nicht nur die Armut", sondern auch der Reichtum ein Thema der politischen Debatte sein muß. Umverteilung ist häufig die Umverteilung des Mangels, weil der Überfluß auf der anderen Seite geschont wird. (Ziff. 220)

Deshalb fordern die Kirchen im Gemeinsamen Wort auch einen "Reichtumsbericht" (Ziff. 219).


IV.
Die Dynamik der Finanzmärkte

Das Gemeinsame Wort spricht an mehreren Stellen über die Funktion der Banken und über die Internationalisierung der Kapitalmärkte. Ohne politische und soziale Einbindung hätten sich die Finanzströme verselbständigt.

Wenn Kapital nicht mehr nur Produktionsfaktor ist, sondern Selbstzweck wird, der in spekulativer Vermehrung besteht, dann muß mindestens in diesem Bereich untersucht werden, wo und wie und durch wen Macht ausgeübt und außer Kontrolle geraten kann.

Mehr als andeutend behandelt das Gemeinsame Wort diese Fragen nicht. Vor allem ist nicht hinreichend beschrieben, wie sich Spekulationskapital auf das soziale Geschehen auswirkt. Hier müßte die Diskussion weitergeführt werden.

Weiter diskutieren müßte man auch das Verhältnis von Eigenverantwortung und sozialer Sicherung. Neoliberale Positionen sagen heute gerne, unsere erreichten Sicherungssystems für Krankheit und Alter hätten nicht Schutz geschaffen, sondern die Leistungsbereitschaft gedämpft. Gegen eine scheinbar altruistische Moral mit nicht mehr bezahlbaren Folgen fordert man die "Souveränität" des Bürgers, dessen Freiheit darin bestehe, für sich selber zu sorgen.

Aber diese Art der Selbstverantwortung kann nicht vor Ellbogen bewahren. Sie hilft den Schwächeren nicht. Sie bewahrt alte Menschen nicht davor, daß ihnen das Ersparte wegspekuliert wird. Die vorgebliche Freiheit nimmt sich das Recht, das auch von den Arbeitenden geschaffene Kapital auf den internationalen Geldmärkten zu verstecken und damit denen zu entziehen, die zur Wertschaffung beigetragen haben.


V.
Nachhaltigkeit, Zukunftsfähigkeit

Unser derzeitiger Wirtschafts- und Lebensstil ist nicht zukunftsfähig. Unsere Aufgabe muß es daher sein, einen Wirtschafts- und Lebensstil zu entwickeln, der für kommende Generationen und auch die Länder der Dritten Welt Lebens- und Entfaltungsmöglichkeiten bietet. Wir beobachten jedoch, daß bei uns alle Anstrengungen darauf gerichtet sind, das herkömmliche Modell des Wirtschaftens und Konsumierens möglichst lange und umfassend beizubehalten.

Die Grundbedingung für eine zukunftsfähige Entwicklung bleibt die Erhaltung der natürlichen Lebensgrundlagen, auf denen die menschliche Existenz beruht. Die ökonomischen Prozesse sind letztlich Teil der ökologischen Systeme, aus denen die Rohstoffe entnommen und in denen die Abfallstoffe verarbeitet werden müssen. Deshalb ist eine Langzeitökonomie notwendig, die die ökologischen Voraussetzungen wirtschaftlichen Handelns und deren spezifische Gesetzmäßigkeiten deutlicher als bisher in den Blick nimmt.


VI.
Zur Problematik von Migration und Flucht

Dazu möchte ich einige Bemerkungen machen, weil in sehr vordergründiger Weise die im Lande lebenden und in unser Land kommenden Ausländer zu Sündenböcken für Arbeitsmarktprobleme gestempelt werden.

"Einen Fremdling sollst Du nicht bedrücken" (2. Mose, 23, 9).

Schutz der Fremden und Gastrecht sind in der Mitte alttestamentlicher Theologie verwurzelt wie die grenzübergreifende Kraft der Gemeinschaft in Christus (Gal. 3, 28).

Dennoch will es im zusammenwachsenden Europa nicht gelingen, Ursachen und Folgen weltweiter Migration verantwortlich in den Blick zu nehmen. Kirchen, Caritas und Diakonie in Deutschland haben seit dem sogenannten "Asylkompromiß" vom 01.07.93 mit umfangreichen Dokumentationen auf die Situation der Asylsuchenden und Flüchtlingen aufmerksam gemacht. Das "Gemeinsame Wort der Kirchen zu den Herausforderungen von Migration und Flucht" vom Juli 1997 betont die Spannung zwischen dem politischen Erfordernis, die Zuwanderungszahlen zu steuern und zu begrenzen, und der unbedingten Gültigkeit des Grundrechts auf Asyl und der Genfer Flüchtlingskonvention und beklagt, daß ein politisch klares und überschaubares Konzept bisher nicht hinreichend entwickelt ist.

Dabei ist jedermann klar, daß es Zuwanderung auch zukünftig geben wird, solange Bürgerkriege in unserer unmittelbaren Nachbarschaft und die Verletzung elementarer Menschenrechte weltweit zunehmen. Es gibt am Ende unseres Jahrhunderts nicht nur eine Globalisierung des Wirtschaftsgeschehens. Auch die Elendsstruktur und ihre Auswirkungen haben globale Dimensionen.

Die Beispiele aus dem Mittelmeerbereich, aus Afghanistan, Zentralafrika oder Mittelamerika lassen sich nicht durch noch so ausgeklügelte technische wie rechtliche Abwehrmechanismen lösen. Europa darf nicht länger zu einer Festung gegen die an Leib und Leben bedrohten Flüchtlinge entwickelt werden, sondern es muß mit seiner wirtschaftlichen und politischen Kraft helfen, den Ursachen von Migration und Flucht entgegenzuwirken. Die fortgesetzte Stigmatisierung von Flüchtlingen, ihre Ausgrenzung aus der Zivilgesellschaft durch Arbeitsverbot, Unterbringung in Sammelunterkünften, Ausschluß von Sozialleistungen, Abschiebehaft und Abschiebung leisten dem offenen wie versteckten Rassismus, Fremdenfeindlichkeit und Gewaltanwendungen Vorschub.

Die Kirchen in Deutschland dürfen in ihrem biblischen Auftrag nicht nachlassen, die Zusammenhänge von Migration und Flucht offenzulegen und selbst tätig zu werden, wo die Würde von Menschen mißachtet und ihr Recht auf Leben in Gefahr ist. Den Gemeinden und Initiativen, die oft angefeindet werden und sich alleingelassen fühlen, gilt unsere ganze Unterstützung.

Schluß:
Mit ihrem Gemeinsamen Wort zur wirtschaftlichen und sozialen Lage im eigenen Lande stehen die deutschen Kirchen nicht allein. Viele andere Kirchen in anderen Ländern haben sich in ähnlicher Weise an die Gesellschaft, an die Wirtschaft und die Politik gewandt und Gerechtigkeit und Solidarität in der Zeit der Veränderungen angemahnt. Es gibt einen regen Austausch der Kirchen untereinander in diesen Dingen. Das Eintreten für Gerechtigkeit und eine menschlichere Gesellschaft ist zu einem gemeinsamen ökumenischen Anliegen geworden. Wir sehen die Aufgabe, auch in Zukunft stärker in den Kirchen zusammenzuwirken und gemeinsam "der Stadt Bestes" zu suchen.

Duisburg, 25. Februar 1998
Pressestelle der EKD