Ansprache zum gemeinsamen Sozialwort der Kirchen

Bischof Dr. Hubert Luthe, Salvatorkirche, Duisburg

25. Februar 1998

Sehr verehrter Herr Präses Kock,
lieber Herr Bischof Lehmann,
meine sehr verehrten Damen und Herren!

1. Der Aschermittwoch ruft uns auf zur Umkehr und zum Verzicht. Umkehr zu Gott fordert zugleich Hinwendung zum Menschen. Beides hängt innerlich und unlösbar zusammen. "Du sollst den Herrn, deinen Gott, lieben mit ganzem Herzen und ganzer Seele, mit all deinen Gedanken und all deiner Kraft. " Und: "Du sollst deinen Nächsten lieben wie dich selbst " (Mk 12,30-31). Wir wollen uns in den kommenden Wochen der österlichen Bußzeit dieses eine, größte Gebot mit Ernst und Ausdauer aufs neue zu eigen machen.

Den Referenten, dem Vorsitzenden des Rates der Evangelischen Kirche in Deutschland, Präses Manfred Kock, und dem Vorsitzenden der Deutschen Bischofskonferenz, Bischof DDr. Karl Lehmann, die uns mit ihren eindringlichen Worten eine gründliche Orientierung für die so notwendige Umkehr gegeben haben, möchte ich herzlich danken. Sie haben auf die Herausforderungen der Zeit hingewiesen, denen wir uns mit größerer Entschiedenheit stellen müssen. Aber auch allen anderen, die an der Vorbereitung und Durchführung dieser Zusammenkunft mit-gewirkt haben, gebührt ein herzliches Wort des Dankes. Nicht zuletzt danke ich Ihnen, verehrte Damen und Herren, die Sie unserer Einladung gefolgt sind. So steht am Anfang dieser österlichen Bußzeit ein gemeinsames Zeugnis der Christen.

2. Wir haben eine positive Zwischenbilanz zum gemeinsamen Wort der beiden Kirchen gehört. Es ist offensichtlich verstanden worden, daß die Evangelische Kirche in Deutschland und die Deutsche Bischofskonferenz in Gemeinsamkeit zu wesentlichen Fragen unserer Zeit klar Stellung bezogen haben. Das gemeinsame Wort hat eine tiefgehende Diskussion ausgelöst, in unseren Kirchen selbst, in der Gesellschaft und auch in der Politik. Aber darf es bei Diskussionen bleiben? Es ist höchste Zeit, daß Taten folgen. "Jetzt ist die Zeit! Jetzt ist die Stunde "!

3. Zentrale Bedeutung kommt in dem gemeinsamen Wort "Für eine Zukunft in Solidarität und Gerechtigkeit " dem Problem der Arbeitslosigkeit zu. Dieses Thema hat auch heute im Mittelpunkt der Dar-legungen gestanden. Zu Recht! Denn es ist unsere vorrangige Aufgabe, neue Arbeitsplätze und mehr Beschäftigung zu gewinnen, um so einen Abbau der Arbeitslosigkeit zu erreichen. Das hat Priorität vor allem anderen: für die Politik, für die gesellschaftlichen Gruppen, für die Wirtschaft, für die Gewerkschaften, für die Tarifvertragsparteien, für das Denken und Handeln jedes einzelnen Bürgers. Die Arbeitslosigkeit liegt als besonders drückende Last über dieser Stadt Duisburg und über dem Ruhrgebiet. Das war der Grund dafür, daß der Erzbischof von Paderborn und die Bischöfe von Münster und Essen am 1. Oktober des vergangenen Jahres hier in Duisburg eine vielbeachtete Ruhrgebietsinitiative zum Thema "Arbeitslosigkeit " durchgeführt haben. Gestatten Sie mir, daß ich auf dem Hintergrund unserer heutigen Veranstaltung und der Konferenz vom 1. Oktober 1997 einige kurze und zugespitzte Anmerkungen mache.


Die Arbeitslosen sollen wissen, daß sie in den Kirchen starke und konsequente Anwälte haben. Wir sind bereit, uns auch weiterhin mit Nachdruck für die Arbeitslosen einzusetzen und mit ihnen und allen Verantwortlichen nach Lösungen zu suchen. Die Option für die Arbeitslosen muß noch mehr als bisher unser kirchliches und gesellschaftliches Handeln bestimmen.

Die Tatsache, daß in sieben Monaten ein neuer Bundestag gewählt wird, rechtfertigt nicht den faktischen Stillstand in den notwendigen politischen Bemühungen und Entscheidungen. Wir haben zum Beispiel kein Verständnis dafür, daß die unstreitig notwendige Steuerreform blockiert und damit bis zur Jahrtausendwende vertagt wird. Es muß erlaubt sein zu fragen: "Steht noch der Mensch im Mittelpunkt des politischen und gesellschaftlichen Handelns? "

In Deutschland weiß man sehr wohl, was getan werden müßte. Daß die Umsetzung vorhandener Erkenntnisse - wohl auch aus Machtkalkül - unterbleibt, ist ein Skandal. Ich bin fest davon überzeugt, daß trotz allem noch eine Koalition des guten Willens möglich ist. Nur so wird von einem gemeinsamen Grundkonsens aus eine Lösung der aktuellen Herausforderungen möglich sein.

Die hohe Verantwortung der Unternehmer und ihre besondere Sozialverpflichtung fordern, wo immer möglich, auch bei uns in Deutschland Arbeitsplätze zu schaffen. Das ergibt sich aus dem Modell der sozialen Marktwirtschaft, hinter dem auch die Kirchen stehen. Wo immer möglich, habe ich gesagt. Sind wir genügend um diese Möglichkeiten besorgt? Ich denke hier nicht zuletzt an das vorbildliche Engagement der Industrie- und Handelskammern im Ruhrgebiet.

Arbeitslosigkeit ist zutiefst unsozial, inhuman und unchristlich. Sie bedroht nicht nur die Existenz des Einzelnen und seiner Familie, sie be-droht die materiellen Grundlagen unseres Gemeinwesens und gefähr-det die Stabilität von Gesellschaft und Staat. Wir brauchen dringend und schnell eine Wende am Arbeitsmarkt und neue, wettbewerbs-fähige Arbeitsplätze. Die Kirchen rufen alle Verantwortungsträger in Staat und Gesellschaft, den Bund, die Länder, die Kommunen, die Tarifvertragsparteien, die Unternehmer und auch die Wissenschaft auf, über alle Gräben hinweg zusammenzustehen. Sie werben für eine außerordentliche gemeinsame Kraftanstrengung. Wir haben noch das Potential! Aber was wir nicht haben, und was den Arbeitslosen fehlt, ist Zeit. Es muß schnell gehandelt werden.

Zu Anfang habe ich gesagt: "Der Aschermittwoch ruft uns auf zur Umkehr und zum Verzicht." Es steht außer Zweifel: Wir werden die Arbeitslosigkeit nur beseitigen können, wenn wir Verzicht üben. Wir alle! Es hilft niemandem, das geradezu peinlich unter der Decke zu halten. Warum auch? Ich kann für meinen Bereich bezeugen: Viele sind zu diesem Verzicht bereit.

Eine besondere Verantwortung haben wir für die jungen Menschen, vor allem für die Benachteiligten. Deshalb rufen die Kirchen zu großen Anstrengungen auf, auch in diesem Jahr genügend Ausbildungs-plätze bereitzustellen und allen ausbildungswilligen jungen Menschen ihre Chance fürs Leben zu geben. Hier möchte ich das Beispiel des Handwerks erwähnen, das auch in schwierigen Zeiten seine Verantwortung wahrnimmt.

Die Kirchen haben sich in der vorjährigen Ausbildungskampagne in besonderer Weise engagiert und beteiligt. Deshalb wissen wir aus den Gesprächen vor Ort und in den Betrieben sehr konkret um die Probleme, die hier bestehen und die teilweise praktisch einer Ausbildung entgegenstehen. Sie sind vielfältig. Sie liegen nicht zuletzt im Bereich von Bildung, Erziehung und Schule. Man darf zweifeln, ob unsere Schulen, und mit ihnen der Staat, ihrer Verpflichtung wirklich genügen, den jungen Menschen eine optimale Erziehung und Bildung zu vermitteln. Ich weiß auch, daß perfektes Rechnen und Schreiben wichtig ist, aber es ist nicht alles. Die Orientierung, die Haltung der Jugendlichen ist mindestens genauso wichtig.

Ich füge ein Weiteres und Letztes hinzu: Wir sind dankbar dafür, wenn Unternehmen trotz der dadurch entstehenden Mehrkosten über ihren Bedarf hinaus ausbilden. Ausbildung geht vor Arbeitsplatz. Aber wir bedauern es sehr, wenn Unternehmen trotz gegebener Möglichkeiten nicht oder nur unzureichend ausbilden. Jeder Unternehmer hat auch eine soziale Verantwortung in unserem Gemeinwesen, und er hat eine besondere Verantwortung gegenüber unseren jungen Menschen. Darüber hinaus - wem sage ich das? - ist die Bereitschaft zur Aus-bildung zugleich eine Investition in die betriebliche Zukunft. Die Auszubildenden von heute sind die Fachleute von morgen, auf die die Betriebe angewiesen sind.
Schließen möchte ich mit einem Gedanken aus dem gemeinsamen Wort "Für eine Zukunft in Solidarität und Gerechtigkeit ". Die Kirchen sehen es in der gegenwärtigen Situation als ihre Aufgabe an, aus den Grundsätzen des christlichen Glaubens zu einer gerechten und solidarischen Gesellschaft aufzurufen. Sie wollen weder ein politisches Programm durchsetzen noch ein wissenschaftliches Gutachten vorlegen. Aber sie wissen sich verpflichtet, in den gesellschaftlichen Dialog Wertorien-tierung einzubringen, nicht selbst Politik zu machen, aber gerechte und solidarische Politik möglich zu machen. Diesem Ziel sollte diese Aschermittwochs-Veranstaltung heute morgen dienen. Wir wünschen von Herzen, daß dies gelungen ist.

Duisburg, 25. Februar 1998
Pressestelle der EKD