Ansprache bei der Begegnung mit Papst Johannes Paul II. in Paderborn

EKD-Ratsvorsitzender Landesbischof Dr. Klaus Engelhardt

22. Juni 1996

Eure Heiligkeit, hochwürdiger Bischof von Rom,
lieber Bruder in Christus!

"Der echte Ökumenismus ist ein Gnadengeschenk der Wahrheit." Durch ihn wird "den christlichen Gemeinschaften geholfen ..., den unerforschlichen Reichtum der Wahrheit zu entdecken." (Enzyklika "Ut unum sint" vom 25. Mai 1995).

Das sind nicht meine Worte. Es sind Ihre Worte, die Sie vor einem Jahr in der Enzyklika "Ut unum sint" ausgesprochen haben. Ich nehme sie am heutigen Tage dankbar auf. In dieser Begegnung treten Ihnen nicht allein Vertreterinnen und Vertreter der Evangelischen Kirche in Deutschland gegenüber, sondern auch Repräsentanten der Arbeitsgemeinschaft Christlicher Kirchen in unserem Land. Damit die christlichen Kirchen ihre schmerzlichen Trennungen überwinden und zu einer Einheit in der Vielfalt voranschreiten, brauchen wir den Blick, der sowohl der Wahrheit verpflichtet als auch von der Liebe bewegt ist. Wir brauchen die Demut gegenüber der Wahrheit in Jesus Christus, die größer und weiter ist als die Tradition unserer eigenen Gemeinschaft. Wir brauchen die Erfahrung des Reichtums, der uns in anderen Kirchen begegnet.

Zu diesem Reichtum gehört das Vermächtnis der Märtyrer. Bernhard Lichtenberg und Karl Leisner, die morgen seliggesprochen werden sollen, stehen in einer Reihe mit Paul Schneider, Dietrich Bonhoeffer und unerschrockenen Bekennern aus anderen Kirchen. Sie alle gehören zu der "Wolke der Zeugen", die uns über Konfessionsgrenzen hinweg Ermutigung, Ansporn und Vorbild sind.

Sie besuchen Deutschland in einem Jahr, in dem die reformatorischen Kirchen sich auf's neue des Lebens und Werkes Martin Luthers erinnern. Über die Jahrhunderte wurde Luther vor allem als jemand wahrgenommen, der Trennungen verursachte und um der Wahrheit willen zur Scheidung nötigte. In jüngster Zeit lernen wir alle mit neuer Deutlichkeit, zwischen Luthers reformatorischem Grundanliegen und dem Vorgang der Kirchenspaltung zu unterscheiden. Über die Trennungslinie zwischen den Kirchen hinweg wird gesehen und anerkannt, daß Luther einen neuen Zugang zum innersten Kern des christlichen Glaubens gebahnt hat. Wenn er den 3. Artikel des apostolischen Glaubensbekenntnisses auslegte, sprach er von der "ganzen Christenheit auf Erden". Diese Erinnerung kann verbinden, statt zu trennen. Eine der gewichtigsten Schriften Luthers ist der "Freiheit eines Christenmenschen" gewidmet. Das ist das Grundthema der Reformation: die christliche Freiheit als ein Geschenk, das allen Getauften in gleicher Weise zugeeignet ist. Als Frucht ergibt sich daraus der im weltlichen Beruf geübte Dienst am Nächsten. Freiheit und Verantwortung sind Schlüsselthemen, die von den reformatorischen Kirchen in den ökumenischen Dialog einzubringen sind.

Freiheit und Weltverantwortung hängen aufs engste mit dem Verständnis von der Rechtfertigung des Sünders zusammen, das die Reformation in der Christenheit neu zum Leuchten gebracht hat. Es ist ein besonders verheißungsvolles Ergebnis des ökumenischen Dialogs der letzten Jahre, daß sich aus dem Glauben an Jesus Christus als den einzigen Erlöser und Mittler aller Gnade ein Grundkonsens im Verständnis der Rechtfertigung angebahnt hat. Wenn wir uns in diesem - wie die Reformation erklärte - articulus stantis et cadentis ecclesiae einig sind, dann ist das Fundament gelegt, um alle kirchentrennenden Unterschiede zu überwinden. Mit der Deutschen Bischofskonferenz und ihrer Stellungnahme zur Studie "Lehrverurteilungen - kirchentrennend?" würden die evangelischen Kirchen es "begrüßen, wenn die im 16. Jahrhundert ausgesprochenen Lehrverurteilungen das heutige Verhältnis der Kirchen nicht mehr belasteten und wenn die mit der geschichtlichen Erinnerung daran verbundenen Hindernisse einer engeren Gemeinschaft der Kirchen der Vergessenheit anheimgegeben würden". (Stellungnahme der Deutschen Bischofskonferenz vom 21. Juni 1994). Die evangelischen Kirchen haben dieses Dokument eingehend beraten und mit der hohen Autorität ihrer Synoden bekräftigt, daß keine der im 16. Jahrhundert von der reformatorischen Seite ausgesprochenen Lehrverurteilungen die heutige Lehre der römisch-katholischen Kirche, wie sie in der Studie zu den Lehrverurteilungen vorausgesetzt wird, noch trifft. Wir hoffen nach den positiven Voten des Päpstlichen Rates zur Förderung der Einheit der Christen und der Deutschen Bischofskonferenz auf eine entsprechende, mit höchster Verbindlichkeit ausgestattete Bekundung der römisch-katholischen Kirche. Dankbar und erwartungsvoll verfolgen wir die Bemühungen zwischen Ihrer Kirche und dem Lutherischen Weltbund, zu einer gemeinsamen Erklärung zur Rechtfertigungslehre zu kommen.

Niemand kann verkennen, von welch fundamentaler Bedeutung für unsere Kirchen das Gespräch und der Konsens über Fragen der Lehre sind. Ein Gradmesser ihres Gewichtes wird es sein, ob sie Auswirkungen haben und spürbar werden auf der Ebene der örtlichen Gemeinden und im Leben der einzelnen Christen. In der Zeit der unseligen Spaltung Europas und der Teilung Deutschlands hat es sich bewährt, die Vorschläge und Maßnahmen der Entspannungspolitik daraufhin zu prüfen, was sie für die einzelnen Bürger und Bürge-innen und für die auseinandergerissenen Familien an menschlicher Erleichterung erbringen. Auch die fortdauernde Spaltung der Christenheit bringt schmerzliche Einschränkungen und Belastungen für die einzelnen Christen und die konfessionell gemischten Familien mit sich. Darum nehme ich mir, Eure Heiligkeit, die Freiheit, wie mein Vorvorgänger vor 16 Jahren an praktische Beschwernisse im Leben der Christen zu erinnern: Wir warten mit geduldiger Hoffnung darauf, es möge auch von seiten Ihrer Kirche die offene Einladung ausgesprochen werden, daß wir als Gäste und Freunde bei der Feier der Eucharistie willkommen sind, ohne deshalb die eigene kirchliche Zugehörigkeit preiszugeben. In unserem Land treten die christlichen Kirchen gemeinsam für die Heiligung des Sonntags und die Einhaltung kirchlicher Feiertage ein. Wir sind es unserer so entchristlichten Welt schuldig, nicht nur im gemeinsamen Glauben der Entheiligung zu wehren, sondern durch das gemeinsame Gotteslob am Sonntagmorgen ein Zeichen für die Sonntagsheiligung zu setzen. Daß es in der Zwischenzeit möglich wurde, an den Vormittagen der Sonn- und Festtage in begründeten Ausnahmefällen ökumenische Gottesdienste zu feiern, nehmen wir dankbar auf. Wir bitten aber zu gestatten, daß dies nicht nur ausnahmsweise, sondern selbstverständlicher geschehen kann.

In wenigen Jahren werden wir vor der Schwelle des dritten Jahrtausends stehen. Um uns herum beobachten wir Orientierungslosigkeit, Verzweiflung und Gleichgültigkeit. Viele Menschen in unserem Land sind dem Glauben entfremdet und in ihrer Kirche heimatlos geworden. Viele möchten gerne glauben, aber die Wucht der so gnadenlos erlebten Welt verstellt ihnen den Blick auf den gnädigen Gott. Da ist es unsere gemeinsame Aufgabe, noch eindringlicher und mit brennendem Herzen Zeugnis zu geben von Jesus Christus, der unser einziger Trost im Leben und im Sterben ist. Die Deutsche Bischofskonferenz hat ihre Stellungnahme zur Studie "Lehrverurteilungen - kirchentrennend?" mit dem Satz geschlossen: "Vor uns liegt als neue Aufgabe, im ökumenischen Dialog eine positive Formulierung des gemeinsamen Glaubens anzustreben, in dem die verschiedenen christlichen Gemeinschaften ihre eigene Tradition erkennen können und die doch ein Zeugnis des christlichen Glaubens in der Sprache der Gegenwart darstellt." Ich sehe in der bevorstehenden Jahrtausendwende eine große Chance und Herausforderung, daß wir uns dieser Aufgabe stellen.

Ich danke ausdrücklich dafür, daß trotz der knappen Zeit und trotz der großen Anstrengung, die Sie, lieber Bruder in Christus, sich bei dem gegenwärtigen Besuch in Deutschland zumuten, die heutige Begegnung ermöglicht worden ist. Wir gehen jetzt zum gemeinsamen Gottesdienst. Es ist ja nicht nur unsere Sehnsucht, sondern zuerst das Gebet unseres Herrn, daß wir alle eins seien. Darum erinnere ich an die Bitte, die Jesus Christus in seinem hohepriesterlichen Gebet ausgesprochen hat und die sich wie in allen Gottesdiensten so gerade auch am heutigen Tag erfüllen soll: "Heilige sie in der Wahrheit, dein Wort ist die Wahrheit. Wie du mich gesandt hast in die Welt, so sende ich sie auch in die Welt" (Johannes 17,17f).

Hannover/Paderborn, den 22.Juni 1996
Pressestelle der EKD