Mitteilung aus Ökumene und Auslandsarbeit 2006

Ökumenische Partner / Auslandsgemeinden

Deutschland – ein Land des Kontrastes

Armut und Reichtum im Hinblick auf Thüringen und Jena

Roger Marcel Wanke

Die Überseepfarrkonferenz 2006, in der Pfarrerinnen und Pfarrer aus Übersee, die zzt. im sog. Heimaturlaub in Deutschland sind, sowie die Austauschpfarrer und -pfarrerinnen, die aus Übersee-Partnerkirchen in Deutschland Dienst tun, und die Stipendiaten und Stipendiatinnen aus den Partnerkirchen, die sich an deutschen Universitäten auf ihre Promotion vorbereiten, zusammengeführt wurden, fand vom 8. bis 14. Juli in der Evangelischen Akademie Loccum statt. Thematischer Schwerpunkt war "Arm und Reich im Kontext der Globalisierung". Dabei wurde die sog. Armutsdenkschrift der EKD "Gerechte Teilhabe – Befähigung zur Eigenverantwortung und Solidarität", die am Dienstag, dem 11. Juli 2006, der Öffentlichkeit vorgestellt wurde, ausführlich besprochen und diskutiert.
Die Teilnehmerinnen und Teilnehmer der Konferenz trugen in verschiedenen Statements vor, wie sich dieses Thema in ihrem jeweiligen Landeskontext darstellt. "Blitzlichter" aus New York, dem Iran und Costa Rica sowie aus der Sicht der Austauschpfarrer bzw. Stipendiaten, also die deutsche Situation mit der Brille des Ausländers gesehen, ergaben ein breites und fast divergierendes Problemspektrum.

Nachfolgend wird der Beitrag von Promotionsstipendiat Roger Wanke aus Brasilien über seine Sicht der Armut in Deutschland am Beispiel Thüringens und Jenas abgedruckt:

 

Brasilien ist bzw. war weltweit für Fußball bekannt. Karneval und Samba, der Urwald, die Indianer am Amazonas und schöne Strände – so stellt sich uns Brasilien auf der Weltbühne immer wieder dar. Außerdem ist Brasilien auch schon längst als Land des Kontrastes weltweit bekannt. Das Paradies neben der Gewalt und Kriminalität, die Armut neben vielen Millionären, Hunger neben einer Rekord-Lebensmittelproduktion zeigen diesen Gegensatz, den wir in Brasilien täglich erleben. Leider wird hier in Deutschland manchmal durch die Medien nur die negative Seite dieses Kontrastes in Brasilien gezeigt. Die schönen Seiten sind entweder unbekannt oder verborgen. In Brasilien aber wird Deutschland immer wieder – und besonders jetzt in der WM-Zeit – als reiches Land, als Land ohne Probleme präsentiert, wo Ordnung herrscht. Seit meine Familie und ich hier in Deutschland wohnen – schon zweieinhalb Jahre –, merken wir immer mehr, dass diese Etiketten falsch sind. Das Etikett, dass es in Brasilien nur Probleme gibt, ist falsch. Aber auch Deutschland erlebt viele Probleme, von denen man niemals denken würde, dass sie dieses reiche Land betreffen könnten. Und deswegen wage ich es zu sagen: Auch Deutschland gehört heute zu diesem "Team", zu dieser "Mannschaft". Auch Deutschland ist ein Land des Kontrastes.

Im Folgenden möchte ich diese Feststellung erklären. Zunächst möchte ich in Bezug auf unser Thema kurz über unsere Situation in Thüringen bzw. Jena erzählen:
In Thüringen, dem Grünen Herzen Deutschlands, leben 2.373.157 Einwohner. Die Arbeitslosenquote von Juni 2006 betrug 15,1%, d.h. 181.762 Thüringer, darunter 87.098 Männer und 94.664 Frauen.1 Jena hat 103.000 Einwohner, und die letzte Arbeitslosenquote lag bei ca. 12%, d.h. 6.078 Arbeitslose, darunter 3.253 Männer und 2.825 Frauen.2

"Nach Einschätzung von Statistikern leben mindestens 200.000 Thüringer unter der offiziellen Armutsgrenze. Das ist die ganze Stadt Erfurt, unsere schöne Hauptstadt. Die Armutsgrenze wird in Thüringen, bezogen auf das durchschnittliche Nettoeinkommen, mit 520 Euro angegeben. Solche Fälle gibt es viele, und es werden augenscheinlich immer mehr. Doch solange es geht, wird der Schein gewahrt. Denn Armut ist ein Tabuthema in der deutschen Gesellschaft.
Ganz egal wo: Perspektiven und Zukunftspläne spielen für viele arme Menschen, nicht nur in Thüringen natürlich, kaum eine Rolle, schon deshalb, weil es darum geht, für das tägliche Brot zu sorgen.
Kinder haben in einer reichen Gesellschaft ungeheure Möglichkeiten. Doch leider gelten die längst nicht mehr für alle. Das beginnt schon im Kindergarten. Dort die gemeinsamen Mahlzeiten einzunehmen, ist für viele Kinder nicht mehr selbstverständlich, denn arme Familien können sich das Mittagessen für ihre Kinder oft nicht mehr leisten.
Trotz allem nicht aufgeben. Immer wieder nach Auswegen suchen. Das verlangt Kraft und Mut".3

Allerdings sehen wir auch etwas anderes, was geradezu widersprüchlich scheint. Man spricht mehr und mehr von Armut in Deutschland, aber der Möbelkonsum, die schicken Autos auf der Straße, die Urlaubskultur im Ausland (z.B. Mallorca) – auch unter den Arbeitslosen und sozial Schwachen – zeigen, dass etwas hier nicht stimmt. Das ist ein Gegensatz.

Ich möchte mich nicht nur auf Thüringen und Jena konzentrieren, sondern auch die Realität zwischen West- und Ostdeutschland berücksichtigen. Obwohl ich diese Unterscheidung für falsch und belastend halte, mache ich sie hier trotzdem, um das Thema zu verdeutlichen.
Wir haben ein Jahr in Bochum (Ruhrgebiet) gewohnt und leben seit Januar 2005 in Jena, d.h. wir hatten das Privileg, sowohl im Westen als auch im Osten Deutschlands zu wohnen und beide Realitäten kennen zu lernen. Deswegen kann ich zum Thema "Arm und Reich" nicht nur im Hinblick auf Jena und Thüringen etwas sagen, sondern auch im Hinblick auf West- und Ostdeutschland.

Auffällig für uns ist, dass der Unterschied sehr groß ist. Es scheint, dass wir nicht im selben Deutschland wohnen. Die Armut, die wir in Thüringen oder in der ehemaligen DDR erfahren, ist meiner Meinung nach nicht nur Folge einer steigenden Arbeitslosigkeit oder einer unkontrollierten Abwanderung und "Verwüstung" des Landes. Vielmehr scheint es für mich so zu sein, dass die Armut im Osten auch eine Wurzel in der Diskriminierung hat, teils seitens der Bundesregierung, teils vonseiten Westdeutschlands. Mir persönlich tut diese Diskriminierung wirklich weh. Die Mauer bleibt noch! Das ist doch Armut! Drei Beispiele möchte ich nennen und damit diesen Vergleich deutlich machen:

1) Ein Arzt, der aus Erlangen kam, um in Jena zu arbeiten, weil er in Thüringen mehr Geld verdient als in Bayern, hat uns gesagt: "Wir haben hier in Deutschland alles, was wir brauchen, und trotzdem sind wir unzufrieden". Dieses Beispiel lässt mich sehr deutlich sehen, dass hier ein Gegensatz, ein Kontrast vorhanden ist. Ich kenne viele andere Menschen, die aus dem Westen kamen, um im Osten zu arbeiten, weil sie im Osten mehr Geld verdienen als im Westen. Grundsätzlich müssen die Leute im Osten mehr Stunden arbeiten als im Westen, und sie verdienen 20% weniger als im Westen, weil Westdeutschland, wie es offiziell heißt, die Sanierung im Osten bezahlen muss. Tatsächlich wird immer ein anderer Grund dafür genannt, nämlich dass die Leute im Osten keine Ahnung haben, wie man mit Geld umgehen sollte. Solche Aussagen und Diskriminierungen hören wir täglich. "Wir haben alles, was wir brauchen, und trotzdem sind wir unzufrieden." Das ist für mich ein Anzeichen für Armut – ein "Armutszeugnis", das eine im Überfluss lebende und sinnentleerte Gesellschaft zeigt. Im Westen wird betont, was man hat. Im Osten ist prägender, was man ist, egal ob man etwas hat oder nicht.

2) Eine Frau aus Köln, die jetzt in Brasilien wohnt, sagte, als sie erfuhr, dass wir in Jena wohnen: "Sie wohnen in Jena, in Ostdeutschland?! Mensch! Dort gibt es nur Elend – Slums. Warum wohnen sie dort? Ich war noch nicht da und würde dort nie wohnen." Mit solcher Aussage müssen viele Menschen im Osten leben. Das bedeutet, die Situation zu verkennen statt zu verändern.

3) In der DDR-Zeit gab es viele Partnerschaften zwischen evangelischen Gemeinden im Westen und im Osten Deutschlands. Das war wirklich eine schöne Erfahrung. Viele haben bis heute Kontakte oder auch Erinnerungen daran. Zu Weihnachten bekam eine Familie aus Jena ein Paket per Post. Das Paket war voller Kartoffeln, und in einem Brief stand Folgendes geschrieben: "Das ist unser Geschenk, weil wir wissen, dass ihr im Osten verhungert. Fröhliche und gesegnete Weihnachten." Ich habe mit dieser Familie darüber gesprochen, und sie haben mir gesagt: Wir konnten nicht immer Bananen kaufen, manchmal nur 1 kg pro Monat und pro Familie, aber Hunger, Arbeitslosigkeit und Armut haben wir nicht erfahren. Das kannte die DDR nicht.

Davon ausgehend komme ich zu einigen Erwägungen:

  • Wenn man von Armut redet, muss man zuerst vom Kontext her unterscheiden. Armut in Brasilien ist völlig anders als Armut in Deutschland. Auch im Ruhrgebiet ist sie anders, als wenn man von Armut in Thüringen reden will.
  • Wenn man von Armut redet, muss man auch wissen, von welcher Armut man redet. Armut muss definiert werden. Von was für einer Armut reden wir eigentlich? In welcher Hinsicht ist hier von Armut die Rede?
  • Einmal in diese Richtung gedacht, wäre es da ausreichend, wenn wir nur von Armut in einer sozial-ökonomischen Hinsicht reden? Ich bin davon überzeugt, dass diese Sichtweise nicht ausreicht, die Problematik begreiflich zu machen. Es gibt andere Arten von Armut in der Welt, die auch hier in Deutschland vorhanden sind. Zum Beispiel: Die Regierung, die nun wegen der chaotischen Rentensituation propagiert, zwecks Sicherung der Zukunft in Deutschland mehr Kinder in die Welt zu setzen, ist dieselbe Regierung, die Abtreibungen bezahlt. Das ist deutlich ein Kontrast, eine moralisch-ethische Armut. Das ist Wertearmut. Eine wertearme Gesellschaft nimmt leider hier in Deutschland zu. Der Satz: "Wir haben alles, und trotzdem sind wir unzufrieden“, zeigt mir deutlich eine Sinnarmut. Nicht nur eine wertearme Gesellschaft entsteht, sondern sie ist auch sinnentleert, sie hat keine Richtung mehr. Wenn wir uns alle Diskriminierungen bewusst machen, die schon erwähnt wurden, wird mir auch deutlich, dass man von einer geistigen Armut reden muss. Und nicht zuletzt wissen wir alle, dass die Armut in Deutschland auch eine Armut an Glauben, eine Glaubensarmut, ist. Religiosität gibt es, aber ob der Glaube vorhanden ist, ist eine andere Frage.
  • Die Kirche sollte nicht nur auf die sozioökonomische Armut konzentriert sein. Die Armut in Deutschland ist nach meiner Einsicht viel mehr als nur ein finanzielles Problem. Wenn nur diese Armut behandelt wird, bleibt alle Bemühung der Kirche darum fraglich. Vielleicht sollten wir mit den Propheten Israels lernen. Die soziale Kritik der alttestamentlichen Propheten, wie etwa Amos oder Micha, ist heute mehr als notwendig. Aber diese soziale Kritik war immer von einem Aufruf zum Glauben begleitet.4 Auch die Herausforderung Gottes für das Volk, dass Arme, Fremde, Witwen und Waisen nicht vernachlässigt werden sollten, war immer vom Glauben begleitet und mit dem Glauben als Ausgangspunkt aller Handlungen verknüpft.5
  • Die Option für die Armen ist kein Privileg und nur Option der Befreiungstheologie in Lateinamerika und in der Dritten Welt. Biblisch gesehen ist sie die Option Gottes, die immer wieder betont wird. Trotzdem macht auch die Bibel diese Unterscheidung zwischen Armut und Armut.


Ich denke, dass hierin die große Chance der Kirche liegt, nämlich die Armut als Ganzes zu behandeln, für ihre stetige Herausforderung zu halten, als Zeichen unserer Verantwortung vor den Menschen und vor Gott zu verstehen, mit der Verheißung und mit der Vergebung Gottes zu rechnen, den Menschen zur Verfügung zu stehen, die irgendeine Form von Armut erleben, und sich mit Liebe für sie einzusetzen und zu handeln. Die Armut in der Welt soll weder relativiert noch theologisiert werden. Sie soll aber auch als Bekenntnis unserer Begrenzung verstanden werden.


Pastor Roger Marcel Wanke gehört der brasilianischen Partnerkirche an, der Evangelischen Kirche Lutherischen Bekenntnisses in Brasilien (IECLB). Er ist Stipendiat der EKD und promoviert an der Evangelischen Fakultät der Universität Jena über das Thema "Praesentia Dei – Vorstellungen von der Gegenwart Gottes im Hiobbuch".

 

Anmerkungen:

  1. Quelle: Thüringer Landesamt für Statistik (TLS) – www.tls.thueringen.de
  2. Quelle: Daten und Fakten – Arbeitsmarkt – www.jena.de
  3. Quelle: Thüringen Exklusiv – MDR, 11.01.2006 (Versteckte Armut in Thüringen und Deutschland).
  4. Vgl. Sach 7,10; Amos 4,1; 8,6.
  5. Vgl. 5. Mose 15,11; Ps 10,12; 40,18; 5. Mose 10,18; Lk 21.2-3; Mt 25,31-46; 26,11.