Mitteilung aus Ökumene und Auslandsarbeit 2005

Editorial und Jahreslosung

Zur Jahreslosung 2006

Rolf Koppe

Gott spricht:
Ich lasse dich nicht fallen und verlasse dich nicht.

Josua 1,5b


Das ist ein Satz, der nicht so leicht dahin gesagt ist. Mit den Wörtern "fallen lassen" und "verlassen" spaßt man nicht, wecken sie doch Gefühle, mit denen man wie in einem Albtraum ins Bodenlose fällt und von keinem gefunden wird. Ich stelle mir Kinder vor, denen die Angst ins Gesicht geschrieben steht, weil sie Schreckliches erlebt haben. Oder Geiseln, die mit verbundenen Augen in einem Versteck auf ihr weiteres Schicksal warten. Schließlich Jesus am Kreuz: "Mein Gott, mein Gott, warum hast du mich verlassen?"

Aber Gott widerspricht dieser Ohnmacht, von allen guten Geistern verlassen und vergessen zu sein. Er bleibt an mir, an dir, an uns dran. Er hält den Fall auf, er findet den Verlorenen, wischt die Tränen ab, macht frei von den Fesseln, überwindet den Tod. Ja, der Satz ist wie ein Rettungsanker, dessen Haftpunkt das "Ich" Gottes ist. Nicht mein Vorgesetzter, mein Arzt, mein Geldberater, mein Musikidol oder von wem sonst ich abhängig bin, meldet sich zu Wort, sondern die letzte Instanz, der ich voll vertraue und von der ich glaube, dass sie weiter weiß, dass sie die Weichen stellt und alles zum Guten wendet.

So, wie es Josua widerfahren ist, dem Sohn Nuns und dem Diener des Wüstenwanderers Mose. Zu ihm sagt Gott zuerst, dass er ihn nicht fallen lassen und verlassen will. An der Schwelle zum gelobten Land, um zu vollenden, was Mose nicht vergönnt war, nämlich Besitz zu ergreifen und dort zu siedeln, wo Milch und Honig fließt.

Wir leiden bis heute unter der Frage, wer eigentlich was im Heiligen Land für sich beanspruchen darf. Aber klar ist: Gott steht seinem Volk bei, wenn es um sein Existenzrecht geht. Der Generationenvertrag des Gottvertrauens existiert aber auch seit Jahrhunderten für Christen und Muslime. Das ist die ungelöste Spannung, mit der alle Religionen auch im Jahr 2006 leben müssen. "Alle", das heißt Menschen, die sich nicht fallen lassen, weil sie nicht fallen gelassen werden. Gott möchte zu allen sprechen, die nicht mehr hören können, also den Mühseligen und Beladenen, denen, die freigesetzt sind, die täglich so tun, als hätten sie Arbeit, und denen, die nicht wissen, wie sie alles bewältigen können, was sie zu leisten haben. Ja, Gott will uns alle nicht fallen lassen und schon gar nicht verlassen!

 

Bischof Dr. h.c. Rolf Koppe