Reader zur EKD-Synode 2000

Einheit in der Vielfalt

Gelebte Ökumene im CVJM

Andreas Getfert

CVJM-Logo

Der CVJM - von Anfang an eine bunte Mischung

 Was sich genau am 6. Juni 1844, einem Donnerstagabend, in dem angesehenen Textilhaus Hitchcock & Rogers in London abspielte, lässt sich nicht mehr im Einzelnen rekonstruieren, denn präzise und umfassende Mitschriften sind nicht vorhanden. Mittendrin im beruflichen Alltag in der Mitte des 19. Jahrhunderts mit all seinen Anforderungen, Spannungen und sozialen Nöten fanden sich 12 junge Männer zusammen, um den ersten "Christlichen Verein Junger Männer" zu gründen. Alle Gründungsmitglieder kannten die Lebens- und Arbeitsbedingungen für junge Menschen in den Handelsfirmen der damaligen Zeit aus eigener Erfahrung und so wurde der CVJM ein Instrument, das auf sehr praktische und handlungsorientierte Weise durch die Vermittlung des christlichen Glaubens jungen Menschen einen Halt in ihrem Leben gab. Kennzeichnend für den CVJM war schon in den frühen Jahren, dass es den Verantwortlichen immer um die einzelne Person ging und sehr stark in persönlichen Beziehungen gelebt wurde.

Ein Blick auf die Liste der Gründungsmitglieder zeigt, dass dem CVJM das Interkonfessionelle und Ökumenische gleichsam in die Wiege gelegt ist. Es finden sich Kongregationalisten, Methodisten, Baptisten und Anglikaner im Kreis der Initiatoren. Von mindestens einer Person lässt sich vermuten, dass sie zu keiner Kirche gehörte und möglicherweise den CVJM als ihre Gemeinde betrachtete. Kirchliche Gemeinde im Sinne einer eigenen Konfession aber wollte und will der CVJM nie sein.

Die Pariser Basis als ökumenische Grundlage der CVJM-Arbeit in aller Welt

Schon elf Jahre nach der Gründung des ersten CVJM wurde in Paris der Weltbund der CVJM gegründet. Aus 6 Ländern Europas und Amerikas versammelten sich 99 Delegierte, die 338 Vereine vertraten, in der Pariser Methodisten-Kapelle und tauschten sich über die Arbeit in den verschiedenen Ländern aus. Die "Pariser Basis" ist die bis heute gültige Erklärung, die den Auftrag und die Ziele des CVJM beschreibt:
Die Christlichen Vereine Junger Männer haben den Zweck, solche jungen Männer miteinander zu verbinden, welche Jesus Christus nach der Heiligen Schrift als ihren Gott und Heiland anerkennen, in ihrem Glauben und Leben seine Jünger sein und gemeinsam danach trachten wollen, das Reich ihres Meisters unter den jungen Männern auszubreiten.

In Deutschland ist der Pariser Basis 1976 folgende Zusatzerklärung hinzugefügt worden: Die CVJM sind als eine Vereinigung junger Männer entstanden. Heute steht die Mitgliedschaft allen offen. Männer und Frauen, Jungen und Mädchen aus allen Völkern und Rassen, Konfessionen und sozialen Schichten bilden die weltweite Gemeinschaft im CVJM. Die "Pariser Basis" gilt heute im CVJM-Gesamtverband in Deutschland e.V. für die Arbeit mit allen jungen Menschen. - Seit dieser Zeit steht auch die Abkürzung CVJM für Christlicher Verein Junger Menschen.

Die Pariser Basis stand später Pate bei der Formulierung der Grundlage zur Gründung des Ökumenischen Rates der Kirchen 1948 in Amsterdam.
Ganz entscheidend für die Ausprägung der Ökumene-Praxis im CVJM war ein Zusatz, der an die Pariser Basis angehängt wurde: "Keine an sich noch so wichtige Meinungsverschiedenheit über Gegenstände, die diesem Zwecke fremd sind, soll die Eintracht brüderlicher Beziehungen der verbundenen Vereine stören." Mit dieser Ergänzung wurde dem Zweitrangigen sein entsprechender Platz zugewiesen.

Auf einer CVJM-Weltkonferenz wurde 1882 das Abzeichen des Weltbundes kreiert. In der Mitte des Abzeichens stehen die Buchstaben X und P, die im Griechischen die Anfangsbuchstaben für Xristos (Christus) sind und verdeutlichen, dass Jesus Christus die Mitte und der Grund ist. Gleichzeitig wurde der Bibelvers Johannes 17,21 - ...'damit sie alle eins seien' - zum Leitvers und Motto für den CVJM-Weltbund erhoben, der den Gedanken der christlichen Einheit betont. Um die zentralen Symbole herum sind alle Kontinente genannt.

Einheit als bleibende Aufgabe

Seit der Bildung des Weltbundes vor 145 Jahren ist die weltweite CVJM-Bewegung stark gewachsen. Heute arbeitet der CVJM in über 120 Ländern. Dabei ist die Unterschiedlichkeit und Vielfältigkeit erheblich größer geworden, als sie schon in den Gründungstagen war. Wie kann trotz der "Fliehkräfte", die auseinander ziehen und trennen wollen, die Einheit bewahrt, gelebt und praktiziert werden? Ein Schlüssel liegt in einer Feststellung, die schon Frédéric Monnier bei der Gründung des Weltbundes 1855 über die Einheit traf: "It already exists." Die Einheit muss nicht geschaffen werden, sie existiert schon. Sie kann nicht durch Beschlüsse und ein Regelwerk verordnet oder durch Kompromisse herbeigeführt werden, sondern sie liegt in Jesus Christus als Person begründet und wird von ihm geschenkt. Der persönliche Glaube an Jesus Christus als Heiland und Erlöser ist die verbindende Kraft zwischen Menschen unterschiedlichster Prägung in der weltweiten CVJM-Bewegung. Durch Jesus Christus sind wir Kinder der Familie Gottes und sind wir Glieder an dem einen Leib.

Ein wichtiger Faktor ist zudem das Grundanliegen des CVJM, dass junge Menschen in ihren realen Lebenssituationen dieses Glaubenszeugnis hören und konkrete Lebenshilfe erfahren sollen. Insofern ist der CVJM immer stark von pragmatischem Handeln gekennzeichnet gewesen. Vereinende Kraft war und ist die Einmütigkeit über den grundlegenden Auftrag und das Ziel, nämlich jungen Menschen die Liebe Christi in Wort und Tat zu bezeugen und in eine lebendige Gemeinschaft einzuladen, in der Konfessionalität zweitrangig ist. Dies bedeutet wiederum aber keinen diffusen konfessionellen Einheitsbrei, sondern das bewusste Annehmen der eigenen Konfession und die Bestärkung, durch aktives Christsein in die eigene Kirche hinein zu wirken.

Beispiele der ökumenischen Praxis im CVJM

Der CVJM ist in zweifacher Hinsicht ökumenisch ausgerichtet:

Er ist international und sein Wirkungskreis ist grenzüberschreitend und weltweit.
Er arbeitet konfessionsübergreifend, und es finden sich Menschen aller Konfessionen im CVJM.
Im CVJM besteht heute ein lebendiges Netzwerk, in dem es zu Begegnung und gegenseitiger Unterstützung kommt. Durch den CVJM-Weltdienst beteiligt sich der deutsche CVJM an der Aufbauhilfe für Nationalverbände auf den Kontinenten der Südhalbkugel und in Zentral- und Osteuropa. Mit insgesamt 40 CVJM in aller Welt besteht eine Zusammenarbeit. Dabei geht es nicht nur um materielle Hilfe, sondern um ein gegenseitiges Kennenlernen, ein beiderseitiges Geben und Nehmen und ein wechselseitiges Lernen, das möglichst viele Mitglieder aktiv einbeziehen soll. In langfristig angelegten, verbindlichen Partnerschaften, die von den regionalen Mitgliedsverbänden in Deutschland getragen werden und letztlich vom Engagement der Ortsvereine leben, wird die weltweite Dimension des CVJM auch für den einzelnen Mitarbeiter und die einzelne Mitarbeiterin erfahrbar. Das Modell von direkten Partnerschaften zwischen zwei Ortsvereinen, das es z. B. mit Ghana und Sierra Leone gibt, hat zu lebendigen Beziehungen geführt, die in jährlich mindestens einmal stattfindenden Besuchen hier oder dort ihren Ausdruck finden. Das Mitleben in den jeweiligen Alltagswelten ist ein hervorragendes ökumenisches Lernfeld.

In gleicher Weise öffnen sich ökumenische Lernfelder mit internationalen Begegnungsfreizeiten und Mitarbeiteraustauschprogrammen. Inhalte und Formen des Glaubens werden bei den Begegnungsprogrammen thematisiert, und besonders mit den Ländern Osteuropas ist ein ganz neuer Bereich hinzugekommen, der zu Begegnungserfahrungen mit dem orthodoxen Glauben in seinen verschiedenen Ausprägungen einlädt. Beispielsweise pflegt das Evangelische Jugendwerk in Württemberg, einer der Mitgliedsverbände des CVJM-Gesamtverbandes, seit einigen Jahren Beziehungen zur serbisch-orthodoxen Kirche. In mehreren Workcamps haben junge Leute aus Württemberg mit Partnergruppen am Wiederaufbau eines Klosters mitgewirkt.

Der CVJM wird oft als protestantische Bewegung angesehen. In manchen Ländern, so auch in Deutschland, ist er aus seiner Geschichte heraus sehr eng mit der evangelischen Kirche verbunden, was durchaus segensreich und befruchtend ist. In der weltweiten Dimension stellt sich das Bild jedoch anders dar. Im weltweiten CVJM wirken Christen aller Konfessionen zusammen: Evangelische, Römisch-Katholische, Orthodoxe, Pfingstler, Charismatiker. Auch innerhalb dieser Gruppierungen finden sich die unterschiedlichsten Prägungen. Es gibt Bereiche wie Südeuropa und Lateinamerika, wo sich die Mitgliedschaft des CVJM mehrheitlich aus Katholiken zusammensetzt. In Griechenland und in mehreren osteuropäischen Ländern ist die orthodoxe Kirche überwiegend die Glaubensheimat vieler CVJM-Mitglieder. In manchen dieser Länder tut sich die Kirche noch schwer mit einer Öffnung zur Ökumene und weiß sie auch den CVJM noch nicht richtig einzuordnen. Aber in dem Maße, wie Verbindungen entstehen, wächst das Verständnis, wenn auch zuerst nur bei einzelnen Personen.

In vielen anderen Ländern ist gerade der CVJM der Ort, wo man über die Konfessionsgrenzen hinweg zusammenkommt. In einigen Teilen Nigerias gibt es eine lebendige Jugendgruppenarbeit in den verschiedenen Kirchen. Die einzelnen Gruppen sind Mitglied im CVJM und verstehen sich voll und ganz als Teil dieses Jugendverbandes. Der CVJM ist das Bindeglied, wo man einander unvoreingenommen begegnet. Der CVJM organisiert Programme wie Mitarbeiterschulung, Sportwettkämpfe, große Jugendtreffen usw., bei denen die größere Gemeinschaft erlebt wird. In Nordirland ist der CVJM sehr stark in der Versöhnungsarbeit zwischen Protestanten und Katholiken engagiert und schafft in seinen Programmangeboten Freiräume für Jugendliche zum Kennenlernen und zu gemeinsamen Aktivitäten.

Der CVJM hat auch die Kraft, in Konfliktsituationen zwischen verschiedenen Religionen verbindend zu wirken, weil seine Programme auch für Menschen anderer Religionen offen stehen. In Sri Lanka erreicht der CVJM sowohl Singhalesen (überwiegend Buddhisten) als auch Tamilen (überwiegend Hindus). Er ist dabei, ein Konzept von "Peace Centres" schrittweise an verschiedenen Orten umzusetzen. Der CVJM gilt hier als neutraler Ort, wo man sich offen begegnen kann. Über Berufsausbildung und andere praktische Aktivitäten entsteht ein Zusammengehörigkeitsgefühl, so dass Vorurteile und Feindbilder bearbeitet und abgebaut werden können.

In Nordnigeria, wo die Zusammenstöße zwischen Christen und Muslimen im Frühjahr 2000 zu viel Zerstörung führten, blieb der CVJM in Kaduna von Schäden verschont. Dreimal wollten schwer bewaffnete Banden von Muslimen das CVJM-Gebäude in Brand setzen, aber es gab jedes Mal einige unter ihnen, die selber im YMCA zur Schule gegangen sind oder jüngere Geschwister oder Freunde haben, die dort ausgebildet werden, so dass sie das Abbrennen der Einrichtung verhinderten, weil der CVJM u. a. in seiner Schul- und Berufsausbildung vielen jungen muslimischen Nigerianern eine Zukunftsperspektive vermittelt.

Herausforderungen für das ökumenische Wirken im CVJM

Bis heute gilt im CVJM der Grundsatz, dass es eine christliche Leiterschaft gibt, die Identität schafft und bewahrt, während die Mitgliedschaft und Teilnahme an Programmen und Aktivitäten offen für alle Menschen ist. Bei aller Unterschiedlichkeit der nationalen, kulturellen, religiösen und sozialen Traditionen und aktuellen Kontexte und der Formen der Arbeit lassen sich fünf Kennzeichen für die CVJM-Arbeit benennen, mit der der CVJM seinen ureigenen Auftrag verwirklicht: Missionarisches Profil, Ganzheitliche Programme, Ehrenamtliche Verantwortung, Ökumenische Weite, Christliche Leiterschaft und offene Mitgliedschaft. Diese Kennzeichen finden ihre Bekräftigung in der Erklärung "Challenge 21", die im Juli 1998 beim 14. Weltrat in Deutschland angenommen wurde.
Mit Challenge 21 wird die Pariser Basis als das gültig bleibende Grundlagendokument für alle CVJM-Arbeit bestätigt und eine Beschreibung der Herausforderungen des CVJM für das neue Jahrtausend vorgenommen: "In Bekräftigung der im Jahre 1855 verabschiedeten Pariser Basis, die weiterhin als Grundsatzerklärung zum Auftrag des CVJM gültig bleibt, erklären wir an der Schwelle zum dritten Jahrtausend, dass der CVJM eine weltweite, christliche, ökumenische Freiwilligenbewegung für Frauen und Männer mit besonderem Schwerpunkt und echter Beteiligung von jungen Menschen ist und dass er sich das christliche Ideal des Aufbaus einer menschlichen Gemeinschaft zum Ziel gesetzt hat, in der Gerechtigkeit, Liebe, Frieden und Versöhnung herrschen, damit die gesamte Schöpfung an der Lebensfülle teilhat."

Es war ein schwieriger und mühsamer Prozess, der zu dieser gemeinsamen Erklärung führte, denn es gibt durchaus differierende und beinahe konträre Auffassungen über die Definition von Ökumene in der weltweiten CVJM-Bewegung. Es gibt Stimmen, die sich für einen weiter gefassten Begriff von Ökumene aussprechen, der sich von der Wortbedeutung "die ganze bewohnte Erde" ableitet und auf eine Einheit der gesamten Menschheit abzielt. Die Gefahr besteht, dass mit diesem Verständnis von Ökumene Christus nicht mehr die Mitte ist und damit auch ein Ruf in seine Nachfolge und in seine Gemeinde für unnötig gehalten wird. Es bleibt daher eine Herausforderung, die Ökumene im CVJM aus einem klaren Christusbekenntnis heraus zu gestalten und nicht nur den kleinsten gemeinsamen Nenner eines menschheitsverbindenden Humanismus zu suchen. Ökumene heißt Brücken bauen - Brücken zwischen Menschen, Kulturen, Konfessionen. Dafür will der CVJM als weltweit größter christlicher Jugendverband stehen.

Der Autor, Andreas Getfert, ist Referent für Internationale Arbeit beim CVJM-Gesamtverband in Kassel.