Martin-Luther-Medaille für Jerzy Buzek

Bewegende Rede eines polnischen Protestanten

01. November 2013

Ursula von der Leyen, Jerzy Buzek und Nikolaus Schneider bei der Verleihung der Martin-Luther-Medaille

Mit festlichen Bläserklängen in der bis auf den letzten Platz besetzen Heiliggeistkirche im Zentrum Heidelbergs begann der Gottesdienst am Reformationstag, an dessen Ende dem ehemaligen polnischen Ministerpräsidenten und ehemaligen EU-Parlamentspräsidenten Prof. Dr. Jerzy Buzek, die Martin-Luther-Medaille des Rates der Evangelischen Kirche in Deutschland (EKD) verliehen wurde. Es war das sechste Mal, dass die EKD seit 2008 diese Auszeichnung vergab. Erstmals ging die Medaille an einen nichtdeutschen Träger. Jerzy Buzek, der vor 1989 Aktivist der Gewerkschaft Solidarnosc war, gehört zur winzigen lutherischen Minderheit im katholisch geprägten Polen. Den etwa 70.000 Lutheranern stehen in Polen 40 Millionen Katholiken gegenüber.

Auf die Laudatio von Bundesarbeitsministerin Ursula von der Leyen und die Ehrung durch den Vorsitzenden des Rates der EKD, Nikolaus Schneider, antwortete Jerzy Buzek mit einer bewegenden Dankesrede. Wir dokumentieren sie im Wortlaut. Buzek sagte:

„Ich nehme diese Medaille mit größter Freude entgegen und fühle mich durch diesen Preis über alle Maßen beschenkt, doch die Zahl der Gaben, mit denen ich dank Luther beschenkt wurde, ist wesentlich größer.

Als erste Gabe wären zweifelsohne die Wahrheit zu nennen und die Überzeugung, dass man stets nach ihr streben muss, um sich der Quelle zu nähern. In der Religion ist es die Bibel, in der Moral da Gewissen, in der Politik das Gemeinwohl, im gesellschaftlichen das Wohl der Mitmenschen. Die Bibel, das Gewissen, das Gemeinwohl und das Wohl des anderen Menschen sind jene Quellen, die unserem Glauben, unserem Handeln und der Politik einen Sinn verleihen. Das hat mir Luther beigebracht.

Die zweite Gabe ist der Mut. Sie alle erinnern sich an die Worte Luthers beim Reichstag zu Worms „Hier stehe ich, ich kann nicht anders …“, als er seine Ansichten nicht widerrufen wollte. Diese Worte haben mich in meinem ganzen Leben und insbesondere in seinen wichtigen und entscheidenden Momenten begleitet. In der Politik muss man oft Kompromisse schließen. Aber es gibt in der Politik auch Momente, wo Wahrheit und Respekt vor sich selbst besonders wichtig sind. Dann heißt es wie Luther Mut zu zeigen und zu sagen „Hier stehe ich, ich kann nicht anders…“. Ohne dies verliert Politik ihren Sinn.

Die dritte Gabe ist die richtige Auffassung von Arbeit. In der Sprache Luthers ist der Beruf eine Berufung, eine „Aufgabe Gottes an den Menschen“. Luther verlieh der Arbeit eine religiöse, moralische und existenzielle Bedeutung. Arbeit gibt unserem Leben einen Sinn. Davon bin ich zutiefst überzeugt. Genauso überzeugt bin ich auch, dass das Trachten nach einem materiellen Gewinn, der weit über die eigenen Bedürfnisse hinausgeht, tadelnswert und schlecht ist. Dies wissen wir jetzt in Zeiten der Krise nur allzu gut. Dennoch hören wir nicht auf Luther. Es ist an der Zeit, dass wir’s tun.

Die vierte Aufgabe ist die richtige Auffassung von Zeit. Die bekannte Devise „Zeit ist Geld“ heißt nicht, dass wir uns beim Vermehren von Geld beeilen sollten, sondern dass Reichtum und Erfolg (in jeder Branche) mühsam erarbeitet werden muss, was viel Schweiß kostet und Verzicht auf andere, angenehmere Formen des Zeitvertreibs. Nach dreiundvierzig Jahren in der Politik verstehe und schätze ich diesen Grundsatz.

Die fünfte Gabe ist die Offenheit. Ich erinnere mich an gemeinsames Bibellesen in meiner Kindheit. Die lutherische Rückbesinnung auf die Heilige Schrift war, wie wir wissen, riskant, denn sie ließ verschiedene Interpretationen und Reinterpretationen zu. Aber es war dies auch ein Gefühl der Offenheit, die Neugier an der Vielfalt, jedoch ohne einen doktrinären Relativismus in wichtigen Fragen. Denn Aufgeschlossenheit ist im Protestantismus im Wort Gottes verankert. Ich bin viel auf Reisen, allerdings ohne eine Bibel, jedoch bei jedem Blick auf mein Handy finde ich dort eine wichtige religiöse Sentenz, die mir mein Neffe zuschickt, der sich unter anderem mit Evangelisierung beschäftigt. Das hilft wirklich.

Die sechste Gabe ist die Solidarität. Luther zitierte oft den heiligen Paulus: „Einer trage des anderen Last, so werdet ihr das Gesetz Christi erfüllen“. Jede Arbeit ist immer zugleich auch Zusammenarbeit. Sie hat eine gemeinschaftliche Bedeutung, sie schafft Beziehungen, von denen die Solidarität die wertvollste ist. Deshalb entstand die polnische Solidarnosc eben gerade unter Arbeitern. Dies ist zwar kein unmittelbarer Verlust Luthers, aber ich glaube, er betrachtete unsere Revolution mit wohlwollendem Blick. Diese verlieh nämlich der Arbeit und dem menschlichen Leben Sinn und Hoffnung. Die Hoffnungen, unsere Hoffnungen, erfüllten sich. Polen ist heute ein anderes Land. Auch ich bin anders. Die Gaben Luthers bereichern wirklich. Deshalb bin ich so dankbar für diesen Preis und deshalb bedeutet er mit so viel.“