Im Sauseschritt zum Schulabschluss

Das zweite Leben eines afghanischen Mädchens

01. August 2013

Timika Ram

Alles an ihr strahlt. Timika ist hübsch, klug und gut erzogen. Aufgewachsen ist sie in der afghanischen Hauptstadt Kabul. Im Dezember 2011 flüchtete sie mit ihrer Mutter nach Deutschland. Der Vater kam wenig später nach. Die Familie landete in der Erstaufnahmeeinrichtung im hessischen Gießen und danach in einer Flüchtlingsunterkunft in Alsfeld. Alle drei konnten kein Wort Deutsch. In Deutschland setzte sich Timika aber auf die Überholspur: In nur einem Schuljahr schaffte sie ihren Hauptschulabschluss.

Das zweite Leben von Timika begann im August 2012: Sie durfte eine Sonderklasse der Alsfelder Max-Eyth-Schule besuchen, einer Berufsschule mit rund 2.100 Schülern. "Das war meine erste Schule überhaupt, in Afghanistan bin ich keinen einzigen Tag zum Unterricht gegangen", erzählt sie. Die Taliban hielten Schulbesuche von Mädchen für überflüssig, wenn nicht gar schädlich.

Die Familie sei einmal reich gewesen, berichtet Timika. Der Vater habe mit Stoffen gehandelt. Einmal, als die Familie im Tempel war, sei eine Bombe auf ihr Haus geschleudert worden. Danach hätten sie nichts mehr gehabt als das nackte Leben. "Spätestens da war klar, dass wir das Land verlassen müssen", sagt Timika. Ihr Großvater habe die Flucht organisiert. Sie sei mit der Mutter tagelang zu Fuß und im Auto unterwegs gewesen, habe nichts essen und trinken können und habe nur geweint.

In Alsfeld benötigte Timika nur ein einziges Schuljahr für ihren Abschluss. Zur Seite stand ihr das Sprachlernzentrum des Evangelischen Dekanats Alsfeld und ihre "Sprachpatin" Bärbel Spohr. "Sie ist klug und hat einen gesunden Ehrgeiz", sagt Spohr über Timika. Sechs Wochen lang habe sie mit ihr zwei- bis dreimal die Woche Wörter dekliniert und konjugiert, aber auch Konversation betrieben.

Timika sei öfter entsetzt gewesen über das Verhalten ihrer Mitschüler, über die Wörter, die sie benutzten, über ihr Desinteresse, berichtet die Sprachpatin. Sie sei um fünf Uhr aufgestanden und habe für ihren Hauptschulabschluss geübt. "Timika hat mir auch den Spiegel vorgehalten, weil ich die schlimmen Sprüche gewöhnt bin und mir das gar nicht mehr auffällt", sagt Spohr.

So einen Fall wie Timika hat Volker Weyandt, Abteilungsleiter an der Max-Eyth-Schule, noch nicht erlebt. "Sie kam am 15. August 2012 zu uns und hat am 3. Juli 2013 ihr Zeugnis bekommen." Sie sei von der Sonderklasse für Schüler nichtdeutscher Herkunftsländer zweimal umgesetzt worden und habe am Ende des Schuljahres den Hauptschulabschluss mit guten Noten in der Tasche gehabt.

"Sie hat sehr, sehr schnell gelernt", erinnert sich Weyandt. Dazu komme ein sympathisches Wesen. "Sie war in unserer Schule eine Integrationsfigur und wird es auch in ihrem weiteren Leben sein", ist sich Weyandt sicher.

Timika hat sich einen Ausbildungsplatz als Groß- und Einzelkauffrau in Frankfurt besorgt, am 1. August fängt sie dort an. "Ich möchte weitermachen", sagt sie. "Erst die Lehre, dann das Abitur, dann möchte ich studieren." (epd)