Der Blick auf die Schattenseiten Berlins

Stadtführungen von Obdachlosen: Bewegende Geschichten von einem Leben auf der Straße

19. August 2013

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Foto: Sally Ollech | querstadtein.org

Für Robert ist es ein Tag ohne Aussicht auf Arbeit und eine Wohnung. Der 36-Jährige hockt am Nollendorfplatz auf seinem Schlafsack. An seinem zur Spendenbüchse umfunktionierten Kaffeebecher ziehen die Menschen in Scharen vorbei. "Vor dem U-Bahnhof ist ein guter Platz", sagt der gebürtige Pole, der seit sechs Jahren in Berlin auf der Straße lebt. Arbeit habe er als gelernter Tischler nie gefunden. 10 bis 20 Euro fische er pro Tag aus seinem Becher. Nicht weit von Robert entfernt steht Carsten Voss. Er war zwei Jahre lang obdachlos. Nun zeigt er Berlinern und Touristen sein früheres Leben.

Die Menschen, deren Augen auf Carsten Voss gerichtet sind, wollen mehr über das Leben von Obdachlosen wissen. "Querstadtein" heißt die Tour, die seit gut einem Monat jeden Sonntag durch den Stadtteil Schöneberg führt und später auf andere Bezirke ausgeweitet werden soll. Er wolle "den Blick öffnen" für das Schicksal wohnungsloser Menschen und zugleich Barrieren abbauen, sagt Voss. Organisiert werden die Stadtführungen vom frisch gegründeten Verein namens "Stadtsichten". Der Zulauf zu den Führungen mit und von ehemaligen Obdachlosen sei groß, sagt Sandra Rasch vom Verein. Vorbild sind ähnliche Projekte in anderen europäischen Großstädten.

Carsten Voss war Manager in der Modebranche, erzählt er. Depressionen hätten ihn aus der Bahn geworfen. "Ich habe alles falsch gemacht, was man falsch machen kann." Er sei arbeitslos geworden und habe anfangs noch vom Arbeitslosengeld gelebt. "Ich war zu stolz, um auf das Sozialamt zu gehen", sagt der 54-Jährige. Anfangs habe er bei Freunden geschlafen, später auf der Straße. Voss zeigt Orte, wo er sich oft aufgehalten hat. Aus Angst vor Überfällen habe er nachts kein Auge zugemacht, nur tagsüber. Zwei Jahre lang.

Es sind die Einblicke in das Leben eines Mannes, die die Tour einzigartig machen. Er erzählt davon, dass viele Obdachlose nachts Flaschen sammeln, weil die Abfallbehälter erst morgens geleert werden. Für diese Menschen seien Supermärkte wichtig, die rund um die Uhr geöffnet sind, damit Pfandflaschen auch nachts zu Geld gemacht werden könnten.

Im vergangenen Jahr galten bundesweit 284.000 Menschen als wohnungslos - Personen, die keine eigene Wohnung besitzen und deswegen entweder auf der Straße ober bei Bekannten leben. "Das sind über 15 Prozent mehr als zwei Jahre zuvor", zitiert Voss Zahlen der Bundesarbeitsgemeinschaft Wohnungshilfe. Obdachlos, also ausschließlich auf der Straße lebend, waren im vergangenen Jahr 24.000 Menschen, davon 4.000 allein in Berlin.

Wegen des "ausgesprochen guten Sozialnetzes" in der Hauptstadt zieht es laut Voss viele Wohnungslose dorthin. So gibt es etwa mobile Arztsprechstunden, einen Tierarzt für die Vierbeiner der Wohnungslosen und Tagesstätten für Obdachlose, wo diese ihre Wäsche waschen, telefonieren, lesen und im Internet surfen können. "Als Obdachloser gibt es keine Privatsphäre mehr, alles spielt sich öffentlichen Raum ab", berichtet Voss. Dennoch rät er den Teilnehmern seiner Tour, bei der Begegnung mit Obdachlosen nicht wegzusehen. "Wenn man gar nicht mehr angeschaut wird, wird einem der Rest Würde genommen."

Voss hat mittlerweile den Absprung geschafft. Er bezieht Hartz IV, beginnt demnächst eine Weiterbildung und arbeitet ehrenamtlich in einer Tagesstätte für Obdachlose. Für seine Stadtführungen bekommt Voss eine Aufwandsentschädigung. Dem obdachlosen Polen Robert ist der Neuanfang dagegen noch nicht gelungen. "Vielleicht kümmere ich mich nächste Woche um Arbeit", sagt er. Überzeugend klingen seine Worte nicht.

Die nächsten noch buchbaren Stadtführungen durch den Schöneberger Kiez finden am 25. August, 1., 22. und 29. September sowie am 6. und 13. Oktober jeweils ab 15 Uhr statt. Eine Tour kostet 9,40 Euro, ermäßigt 5,40 Euro, Gruppen zahlen 140 Euro, ermäßigt 90 Euro. Der jeweilige Treffpunkt wird auf dem Online-Ticket bekanntgegeben. Für den Stadtrundgang ist zudem ein gültiger Fahrschein (Kurzstrecke) für den öffentlichen Nahverkehr in Berlin erforderlich.