Die Stiefkinder der Reformation

Zwölf Thesen und Fakten zur innerevangelischen Intoleranz von Walter Fleischmann-Bisten

27. Mai 2013

20120605_toleranz470

Dulden heißt beleidigen – fand noch der Dichterfürst Johann Wolfgang von Goethe. Zwölf Thesen und Fakten zur innerevangelischen Intoleranz formuliert der Leiter des Konfessionskundlichen Instituts in Bensheim, Walter Fleischmann-Bisten, für einen Beitrag im EKD-Magazin zum Themenjahr „Reformation und Toleranz“ der Lutherdekade.

  1. Schwer erklärbar ist diese bittere Wahrheit: Wenige Jahrhunderte nach dem Ende der Christenverfolgungen im Römischen Reich durch das „Toleranzedikt“ des Jahres 313 diskriminierten Christen mit staatlicher wie kirchlicher Billigung angebliche Außenseiter und theologisch unbequeme Gruppierungen als „Ketzer“. Vom 11. bis 13. Jahrhundert standen Judenpogrome und die Verfolgung der Waldenser, Katharer und Hussiten auf der Tagesordnung. Umso weniger verständlich ist dies: Auch die verantwortlichen Theologen in den Zentren der Reformation des 16. Jahrhunderts, in Wittenberg, Zürich und Genf, haben durch ihre intolerante Haltung gegenüber dem „linken Flügel“ bald ihre Glaubwürdigkeit und theologische Unabhängigkeit („allein die Schrift“) eingebüßt.
  2. Und das kam kurz gesagt so: Martin Luther hatte erkannt, dass politische Veränderungen notwendig waren. Doch er fürchtete Aufruhr und Gewalt sowie allzu einschneidende Reformen im Gottesdienst. Deswegen plädierte er schon früh für Mäßigkeit. Er tat dies mit theologischen Gründen wie mit Rücksicht auf die ihn und seine Anhänger schützende Obrigkeit. Auch Huldrych Zwinglis Sympathie für weitaus radikalere Konsequenzen einer „Reformation an Haupt und Gliedern“ endete schon bald an den Forderungen der „Täufer“ oder „Taufgesinnte“ genannten Gruppierungen. Diese entstanden ebenfalls in den 1520er Jahren in der Schweiz, in Tirol, in Franken und anderen Regionen. Sie hatten infolge eines intensiven Bibelstudiums die Erkenntnis gewonnen, dass das Evangelium nur die Glaubenstaufe und eine strikte Trennung von Kirche und Staat zulasse.
  3. Der Reichstag in Speyer machte das gesamte politische wie theologische Dilemma offenkundig: Auf der einen Seite protestierten 14 Reichsstände gegen dessen Beschluss, endlich die Reichsacht gegen Martin Luther zu vollziehen und ihn zu beseitigen. Sie begründeten dies mit ihrem Verständnis von Glaubensund Gewissensfreiheit. Sie forderten, dass „in den Sachen Gottes Ehre und unser Seelen belangend ein jeglicher für sich selbst vor Gott stehen und Rechenschaft geben“ müsse. Diese reformatorische Erkenntnis leugnet nun das vom gleichen Reichstag erneuerte Mandat, gegen alle sogenannten Wiedertäufer die Todesstrafe zu vollziehen. Auch mit Luthers und Melanchthons theologischer Unterstützung wurden in den meisten von der Reformation geprägten Ländern die Täufer grausam verfolgt. Der unter Reichsacht und Bann stehende Luther war dagegen, angebliche Ketzer zu verbrennen. Kritikern seiner Tauf- und Geistlehre zeigte er wenig Gnade. Eine rühmliche Ausnahme war der sich gegen diese intolerante Haltung wendende hessische Landgraf Philipp der Großmütige. Und selbst in der Freien Reichsstadt Straßburg, einer rühmlichen Oase religiöser Toleranz, hatten spätestens nach dem Interim von 1548 nicht nur die Täufer, sondern auch die Anhänger Johannes Calvins und der auf innerprotestantischen Ausgleich bedachte Martin Bucer keine Zukunft.
  4. Die Merkwürdigkeiten jener Zeit nahmen kein Ende. Selbst der als Glaubensflüchtling in Straßburg am Leben gebliebene Calvin hat nach seiner Rückkehr nach Genf indirekt am Tode des Mediziners Michael Servet mitgewirkt. Auch wenn er freilich nicht – wie oft kolportiert – der „Mörder Servets“ war, wollte er die Hinrichtung des 44-Jährigen am 27. Oktober 1555 nicht verhindern. Servet hatte schon als junger Mensch gegen die traditionelle Trinitätslehre polemisiert. Jesus Christus und der Heilige Geist waren für ihn nicht Gott selbst, sondern nur göttliche Wirkweisen. Außerdem war er der Meinung, die Kirchenväter, die römische Kirche und die Reformatoren hätten das Evangelium verfälscht, etwa in der Frage der Kindertaufe. Calvin begrüßte die Gutachten, Servet zum Tode zu verurteilen. Vergeblich forderte er mit anderen Pastoren lediglich eine mildere Form der Hinrichtung als auf dem Scheiterhaufen. So stimmt die These von Helmut Kremers: „Mag die Toleranz den Reformatoren auch in die Wiege gelegt worden sein, sie blieb leider allzu oft darin liegen.“
  5. Die Bestimmungen des Augsburger Religionsfriedens von 1555 räumten nur den Anhängern der „Confessio Augustana“ und deren Religionsverwandten eine gewisse reichsrechtliche Gleichstellung ein. Auch die Gesetzgebung des Westfälischen Friedens von 1648 hatte eine folgenschwere intolerante Schlagseite. Selbst nach den schrecklichen Erfahrungen des Dreißigjährigen Krieges wurden neben der römisch-katholischen Religionspartei und den Lutheranern nur die Reformierten reichsrechtlich einander gleichgestellt. Wie stark diese intolerante Haltung gegenüber anderen Kirchen der Reformation (wie Mennoniten, Baptisten, Methodisten) noch Jahrhunderte nachwirkte, zeigt die Tatsache, dass in einem renommierten Fachlexikon noch 2003 über die Entscheidungen von 1648 geschrieben werden konnte: „Die Sekten blieben jedoch aus den religionsrechtlichen Garantien des Westfälischen Friedens ausgeschlossen.“
  6. Diese angeblichen „Sekten“ oder „Sondergemeinschaften“ – so etwa noch die Bezeichnung für die Freikirche der Adventisten in einem kirchenamtlichen lutherischen Handbuch aus dem Jahr 2000 – waren es aber letztlich, die unter Fortführung des Toleranzgedankens und der reformatorischen Forderung von Glaubens- und Gewissensfreiheit dem Menschenrecht der Religionsfreiheit den Weg bereitet haben. Die vor allem von der Theologie Bucers und Calvins beeinflussten Kräfte der Dissenters, Nonkonformisten, Kongregationalisten und Puritaner, waren mit dem Ergebnis der Reformation im 16. und 17. Jahrhundert in England nicht zufrieden. Gezwungen zur Auswanderung in die „Neue Welt“ konnten sie dort in einem ebenfalls mühsamen Prozess unter den neuen politischen und konfessionellen Verhältnissen die Durchsetzung der Religionsfreiheit als Verfassungsrecht erreichen.
  7. Über den Artikel 16 der „Virginia Declaration of Rights“ konnte nicht nur das Ende der religiösen Intoleranz in Nordamerika erreicht werden. Nach und nach fand der Gedanke der Religionsfreiheit über die US-Verfassung von 1791 auch Eingang in europäische Verfassungen. Goethes Auffassung „Dulden heißt beleidigen“ war schwer zu vermitteln. Die 1846 in London gegründete „Evangelische Allianz“ spielte dabei gerade in den deutschen Ländern eine oft unterschätzte positive Rolle.
  8. Trotz des Scheiterns der demokratischen Paulskirchenverfassung von 1848/49 und des nicht mehr aufzuhaltenden Wachstums evangelischer Freikirchen beendete im Deutschen Reich erst das Inkrafttreten der Weimarer Verfassung von 1919 dieses Unverhältnis von Landes- und Freikirchen: „Jeder Menschen hat Anspruch auf Gedanken-, Gewissens- und Religionsfreiheit; dieses Recht umfasst die Freiheit, seine Religion oder seine Überzeugung zu wechseln, sowie die Freiheit, seine Religion oder seine Überzeugung allein oder in Gemeinschaft mit anderen, in der Öffentlichkeit oder privat, durch Lehre, Ausübung, Gottesdienst und Vollziehung von Riten zu bekunden“ (Art. 137). Selbst die Umsetzung dieser Gleichberechtigung, die den Adventisten, Baptisten, Freien evangelischen Gemeinden, den Methodisten und Mennoniten endlich die Körperschaftsrechte ermöglichte, war noch ein steiniger Weg. Die Gründung der „Vereinigung Evangelischer Freikirchen“ (VEF) und die mit Hilfe vieler Freikirchen erreichte Gründung einer „Arbeitsgemeinschaft Christlicher Kirchen in Deutschland“ hatten einen wesentlich Anteil an der Überwindung alter Vorurteile.
  9. Nach dieser Geschichte innerevangelischer Intoleranz kommt es einem Wunder gleich, dass sich erstmals in der Geschichte der reformatorischen Kirchen bei der Zustimmung zur „Theologischen Erklärung der Bekenntnissynode von Barmen“ vom 31. Mai 1934 Vertreter (und eine Vertreterin) lutherischer, reformierter und unierter Gemeinden und Kirchen auf einen Bekenntnistext einigen konnten. Auch wenn der Bekenntnisrang Barmens bis heute nicht unumstritten ist, war Barmen mit ein Anstoß für die Lehrgespräche, die europaweit 1973 zur Leuenberger Konkordie geführt haben. Dass 1997 auch die Methodisten Europas in dieses Boot der Evangelischen Kirchen in Europa stiegen und mit den europäischen Baptisten inzwischen wenigstens eine Art Assoziierungsabkommen möglich war, sind hoffnungsvolle Zeichen.
  10. Neben den schon erfolgten „Heilungen von Erinnerungen“ – wie das Schuldbekenntnis und die Erklärung zur eucharistischen Gastbereitschaft mit den Mennoniten und die Erklärung voller Kirchengemeinschaft mit den Methodisten in Deutschland vor rund 25 Jahren – sind weitere Schritte nötig. Die in der EKD und ihren Landeskirchen Verantwortlichen müssen die VEF-Kirchen schnellstens mit an den Vorbereitungen für 2017 beteiligen. Für viele von ihnen ist trotz aller Demütigung nicht vergessen, dass auch sie Kinder der unvollendeten Reformation sind. Andere Freikirchen werden das noch genauer buchstabieren müssen. Die Frage gegenseitiger Taufanerkennung dürfte dabei noch immer eine Schlüsselrolle spielen. Gerade angesichts weiter zunehmender Christenverfolgungen vor allem in Afrika und Asien werden auch die Kirchen der Reformation kritisch auf ihre Missions- und Toleranzgeschichte schauen müssen. Denn auch für sie gilt die These des früheren EKD-Ratsvorsitzenden Wolfgang Huber von 2011: „Die Selbstreinigung der Religionen vom Geist der Gewalt ist eine zwingende Konsequenz aus dem 11. September.“