Unglaubliches Leid, unglaubliche Einsamkeit

Rund 8.000 Männer und Frauen engagieren sich bundesweit bei der Telefonseelsorge

19. März 2013

Mitarbeiterin der Telefonseelsorge

Nur eine Handvoll Menschen wissen, was Ursula Henkel (Name geändert) seit Jahren in ihrer Freizeit tut. Über Einzelheiten spricht sie nicht einmal mit ihrem Ehemann. An zwei Tagen im Monat setzt sich die pensionierte Grundschullehrerin für eine jeweils vierstündige Schicht in einen mit Schreibtisch und Schlafliege ausgestatten Büroraum in Mainz. Dann wartet sie, dass das Telefon klingelt und sich am anderen Ende der Leitung jemand meldet, dessen Leben aus den Fugen geraten ist. Henkel ist eine von bundesweit rund 8.000 ehrenamtlichen Mitarbeitern der Telefonseelsorge.

Mittlerweile ist sie seit vier Jahrzehnten dabei, so lange, wie die von evangelischer und katholischer Kirche getragene Telefonseelsorgestelle Mainz-Wiesbaden existiert. Sie ist eine von bundesweit 105 Einrichtungen.

"Die wesentlichen Themen wie Einsamkeit, Probleme mit der Partnerschaft und Kontaktschwierigkeiten sind gleichgeblieben", sagt die Telefonseelsorgerin. Zunehmend bekomme sie aber auch Anrufe von Menschen, die unter Mobbing im Beruf, finanziellen Problemen oder Arbeitslosigkeit litten. Seit die Bundeswehr sich immer stärker an Auslandseinsätzen beteilige, kämen Gespräche mit Soldaten hinzu, die nicht mit ihren Kriegs-Erlebnissen klarkämen.

Rückblickend kommt die Pädagogin zu dem Schluss, dass die Deutschen insgesamt einsamer geworden sind. Im Berufsleben trauten sich viele nicht mehr, über private Dinge zu sprechen. Auch glaubt Henkel, dass die Gesellschaft anders als frühere Generationen mit Schicksalsschlägen umgeht: "Die Menschen haben mehr Zeit, sich mit sich selbst zu beschäftigen."

Sich auf die Sorgen und Ängste anderer Menschen einzulassen, ist keine einfache Arbeit. Wie sehr das Ehrenamt sie selbst verändern würde, habe sie sich anfangs nicht vorstellen können, sagt Henkel. Oft beschäftigen sie Schicksale noch lange nach dem Ende ihres Dienstes, manchmal kann sie hinterher schlecht schlafen: "Es erreicht einen unglaubliches Leid und unglaubliche Einsamkeit. Das sind Dinge, die man sonst nur aus den Medien kennt, und plötzlich hat man sich gegenüber einen Menschen, der durchlebt das."

Wenn Anrufer davon berichten, dass sie ihrem Leben am liebsten selbst ein Ende bereiten wollten, spürt sie bis heute eine enorme Verantwortung: "Man weiß nie, wie ernst es ist und was nach dem Auflegen passiert." In ihrer Anfangszeit habe sie nach solchen Gesprächen immer die Zeitungen nach Hinweisen darauf durchgeblättert, ob sich ihr Gesprächspartner etwas angetan hatte. Damit die Telefonseelsorger nicht selbst an den Belastungen Schaden nehmen, ist alle 14 Tage eine Supervision mit einem hauptamtlichen Mitarbeiter vorgesehen.

Herauszufinden, welche Anrufer wirklich in einer Krise stecken und wer sich nur einen Scherz macht, bereitet Henkel mittlerweile keine Probleme mehr. Das dauere oft nicht länger als eine Minute. Meistens sei ohnehin alles klar, wenn etwa im Hintergrund Schulhofgeräusche oder das Kichern von Freunden zu hören sei. Vorschnell auflegen würde sie aber nicht. Denn selbst Anrufer, die bloß ihre Reaktion austesten wollten, sollten sicher sein, dass sie im Fall des Falles ernstgenommen würden.

Manchmal bedanken sich Anrufer am Ende eines Gesprächs, aber selbstverständlich ist eine solche Reaktion nicht. Auch öffentliche Anerkennung bleibt den Mitarbeitern meist verwehrt, weil sie für die Öffentlichkeit anonym bleiben. Trotzdem hat Ursula Henkel bisher noch kein Mal ans Aufhören gedacht, seit sie vor 40 Jahren zu der damals neu gegründeten Telefonseelsorgestelle kam. "Es ist eine Arbeit, die nie langweilig wird", erklärt sie. "Ich habe nie etwas Attraktiveres für mich gefunden." (epd)

Die Telefonseelsorge ist rund um die Uhr unter den beiden bundeseinheitlichen, gebührenfreien Rufnummern 0800/111 0 111 und 0800/111 0 222 zu erreichen.