Propst Wolfgang Schmidt zur Situation in Israel und Palaestina

"Kirchen sollen sich für die Einhaltung der Menschenrechte stark machen"

Evangelische Landeskirche in Baden

10. Juli 2014

Angesichts der erstarkenden Gewalt in Israel und Palästina hat der deutsche evangelische Propst für Jerusalem, Wolfgang Schmidt, die Bedeutung der Kirchen im Nahen Osten für Frieden und Versöhnung hervorgehoben. „Ich denke, den Kirchen im Heiligen Land fällt eine große Aufgabe zu, wenn sie zum Beispiel in ihren Bildungseinrichtungen einen achtsamen Umgang mit dem Anderen und Ansätze einer Friedenspädagogik praktizieren“, erklärte Schmidt. Angesichts der jüngsten Eskalation der Gewalt sei bei Israelis und Palästinensern derzeit ein ausgeprägtes Bedürfnis nach Rache erkennbar, das unter anderem im Internet zunehmend artikuliert werde. Gleichwohl gebe es auf beiden Seiten Friedenswillige, die jedoch aufgrund starken gesellschaftlichen Druckes nur eine deutliche Minderheit seien. Der frühere Pfarrer aus Freiburg/Breisgau leitet die deutsche Evangelische Gemeinde in Jerusalem.

Das Interview im Wortlaut:

Wie direkt ist die Evangelische Gemeinde in Jerusalem von den aktuellen Kämpfen betroffen?

Es sind nicht nur die Raketen, die hier einschlagen, erstmals übrigens seit dem Herbst 2012. Wir hören auch viele Schüsse aus dem Norden und Osten der Stadt, also aus den arabischen Vierteln Jerusalems. Da werden Tränengas und Gummigeschosse gegen protestierende Palästinenser eingesetzt und man denkt manchmal an die Zeiten der Intifada zurück. Direkt betroffen sind wir dadurch, dass unsere Bewegungsfreiheit innerhalb Jerusalems stark eingeschränkt ist. Auch drehen sich die Gespräche um nichts anderes als um die Kämpfe, zum Beispiel gestern Morgen beim arabischen Friseur. Er hat übrigens gejubelt, dass Raketen auf Jerusalem abgefeuert werden. Das zeigt mir, wie tief die Gräben oft sind.

Wie nehmen denn die christlichen Palästinenser den Konflikt wahr?

Zuerst einmal waren alle geschockt von der Entführung und Ermordung der drei israelischen Jugendlichen ¬- auch wenn bis heute nicht klar erwiesen ist, dass die Hamas dafür verantwortlich gemacht werden kann. Die zahlreichen Razzien und die Verhaftungswellen haben dann natürlich auch die christlichen Palästinenser getroffen. Zwar gehören die Razzien mittlerweile zum palästinensischen Alltag, aber diesmal zeigt sich doch eine neue Dimension.

Welche Möglichkeiten des Engagements haben die Kirchen des Heiligen Landes in der gegenwärtigen Situation der Eskalation der Gewalt?

Ich denke, den Kirchen fällt eine große Aufgabe zu, wenn sie zum Beispiel in ihren Bildungseinrichtungen einen achtsamen Umgang mit dem Anderen und Ansätze einer Friedenspädagogik praktizieren. Es war die lutherische Kirche, die jüngst eine Studie in Auftrag gegeben hatte, welche die Behandlung des jeweils „Anderen“ in palästinensischen und israelischen Schulbüchern untersucht hat. Das erschreckende Ergebnis war, dass auf beiden Seiten die Gegenseite teilweise stark vorurteilsbeladen dargestellt wird und wenig Bereitschaft zu einer differenzierten Betrachtung erkennbar ist. Allerdings ist es leider auch erklärlich, dass in einer Situation, in der sich die israelische und die palästinensische Gesellschaft unter einem starken Druck befinden, die Bereitschaft zur Friedenserziehung eher nachrangig ist.

Sehen Sie die Hoffnung, dass nicht nur die Hardliner auf beiden Seiten den Ton angeben, sondern zum Beispiel im Kabinett Netanjahu auch besonnenere Stimmen Gehör finden?

Im Verhältnis zu seinen Kabinettskollegen ist Netanjahu ja noch relativ gemäßigt eingestellt und reagiert zurückhaltender als es viele fordern, zum Beispiel Avigdor Liebermann. Denen ist Netanjahu noch zu sanft. Ich denke, dass Netanjahu weiß, dass ein Krieg mit der Hamas nur in die Sackgasse führen kann. Aber er steht unter großem Druck, auch von der israelischen Gesellschaft. Aus der Erfahrung der bedrohten Sicherheit sind die meisten Israelis ja bereit, eine harte Politik ihrer Regierung mitzutragen. Auch Abbas ist ja eigentlich kein Hardliner. Aber die Hamas macht Punkte in der Bevölkerung. Da muss auch Abbas Stärke zeigen. Im Prinzip ist er jedoch ein Verfechter gewaltfreier Aktion gegen die Besatzung.

Das heißt, das Bedürfnis nach Rache ist deutlich stärker ausgeprägt als nach Versöhnung?

Ja, der Ruf nach Rache ist eben auf beiden Seiten sehr groß und wird nicht zuletzt im Internet verbreitet. Da bekommen rassistische Aufrufe, zum Beispiel eines israelischen Soldaten oder eines palästinensischen Kämpfers, zehntausende Likes. Das Problem ist, dass stets auf der vorgründigen Ereignisebene argumentiert wird, nach dem Motto „die oder die haben angefangen“. Das wird aber der Situation in keiner Weise gerecht. Das Scheitern der Friedensbemühungen liegt auch darin, dass seit Rabin kein ernsthaftes Bemühen mehr um eine Zwei-Staaten-Lösung erkennbar ist.

Sie haben gehört, dass sich die Angehörigen der getöteten jüdischen und arabischen Jugendlichen bei einem Telefonat gegenseitig ihre Anteilnahme ausgesprochen und ein Beileidsbesuch der drei jüdischen Familien bei der Familie des arabischen Opfers verabredet haben. Geben solche Nachrichten Anlass zum Optimismus?

Ja, es gibt auf beiden Seiten auch Friedenswillige: Israelis, die auf die Straße gehen, um gegen Mitbürger zu protestieren, die auf der Straße laut „Tod den Arabern“ rufen. Palästinenser, die mit Juden befreundet sind und nicht pauschal über „die Juden“ oder „die Israelis“ urteilen, so zum Beispiel die Leute der Begegnungsstätte „Tent of Nations“ (Zelt der Nationen).

Was wünschen Sie sich von den Kirchen in Deutschland?

Dass sie die Situation in Israel und Palästina aufmerksam wahrnehmen, sich für die Einhaltung der Menschenrechte stark machen, für den Frieden beten und die Menschen im Heiligen Land in ihre Fürbitte aufnehmen.

Interview: Daniel Meier

Karlsruhe / Jerusalem, 10. Juli 2014

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