Kirchen fordern Verbesserungen für den Flüchtlingsschutz in Europa

Internationale Konsultation der Kirchen am Rhein

Evangelische Landeskirche in Baden

„Die Pläne der EU-Innenminister, die Verantwortung für Flüchtlinge auf ärmere Länder an den Rändern Europas abzuwälzen, widerspricht der Genfer Flüchtlingskonvention. Damit wird der Grundgedanke des Asyls zerstört.“ Eine Forderung der so genannten „Liebfrauenerklärung“, die am Mittwoch von einer Konsultation der Konferenz der Kirchen am Rhein verabschiedet wurde.

Mit deutlichen Worten kritisierten die europäischen Kirchen die neue Migrations- und Asylpolitik der EU. Danach sollen auch Nicht-EU-Staaten zu so genannten „sicheren“ Drittstaaten erklärt werden können.

„Flüchtlinge brauchen ein faires Verfahren und wirksamen Rechtsschutz.
Nach den Richtlinien der EU ist dies nicht mehr vorgesehen.
Abschiebungen zurück bis in die Verfolgerländer sind dadurch geradezu vorprogrammiert“, erklärte Elisabeth Parmentier, die Präsidentin der Gemeinschaft evangelischer Kirchen in Europa mit 103 Mitgliedskirchen.

„Es ist auch nicht einzusehen, weshalb die Flüchtlinge auf Verfahren außerhalb der EU verwiesen werden dürfen, die nicht den Mindestanforderungen genügen, die innerhalb der EU gelten. So wird selbst das minimale EU-Recht noch unterlaufen.“

Zu der grenzüberschreitenden Konsultation auf dem  Liebfrauenberg im Elsass trafen sich vom 10. bis 12. Mai 2004 Kirchenleitungen evangelischer Kirchen aus Frankreich, Deutschland, der Schweiz, den Niederlanden, Österreich, Italien und den neuen EU-Beitrittsländern.

Zusammen mit ausgewiesenen Migrationsexperten zogen sie Bilanz für das neu geschaffene, gemeinsame EU-Migrations- und Asylrecht.

Die verabschiedeten Verordnungen und Richtlinien der Europäischen Union müssten deutlich nachgebessert werden, forderten die über 80 Delegierten. Besonders betreffe dies die Familienzusammenführungsrichtlinie. Eltern und ihre Kinder gehörten zusammen, Ehe und Familie stünden unter dem besondern Schutz der staatlichen Ordnung. „Diesen elementaren Werten einer jeden Gesellschaft müssen auch die Bestimmungen im Migrationsrecht entsprechen“, betonte Jean-François Collange, Präsident der Konferenz der Kirchen am Rhein:

„Damit unvereinbar sind die Bestimmungen, die den Familiennachzug an Wartefristen koppeln oder den Nachzug älterer Kinder beschränken.

Unannehmbar ist auch, dass nicht alle Personen, die in der EU Schutz erhalten, ein Recht auf Familiennachzug haben.“

Während Unionsbürger in der EU Freizügigkeit genießen und ihre Mobilität gewünscht ist,, werde der Zugang von „Drittstaatsangehörigen“ restriktiv geregelt. Menschenrechtliche Mindeststandards seien dabei massiv gefährdet. Die Vorschläge des britischen Premierministers Blair und der deutschen Bundesregierung zur Erweiterung des Konzeptes so genannter „sicherer“ Drittstaaten ließen eine völlige Aushöhlung des Asylrechts befürchten.

Im Blick auf ihre eigene Verantwortung beschlossen die Kirchen, künftig verstärkt grenzüberschreitend zusammenzuarbeiten. Präsentiert wurden bereits einige Projekte, in denen Kirche und ihre Diakonie exemplarische Arbeit für Flüchtlinge und Migranten leisten.

Liebfrauenberg/Karlsruhe, 12. mai 2004

Marc Witzenbacher
Pressesprecher


Liebfrauenberg-Erklärung der Kirchen am Rhein zu den Herausforderungen von Migration und Flucht

Ergebnis einer Konsultation der Konferenz der Kirchen am Rhein und der Gemeinschaft evangelischer Kirchen in Europa / Leuenberger Kirchengemeinschaft, 10. bis 12. Mai 2004, Liebfrauenberg, Elsass

Das Evangelium „macht die Christen frei zu verantwortlichem Dienst in der Welt … Sie treten ein für irdische Gerechtigkeit und Frieden zwischen den einzelnen Menschen und unter den Völkern.“ (Leuenberger Konkordie 11) In besonders herausgehobener Weise ruft die biblische Botschaft die Kirchen in die Verantwortung für Flüchtlinge und Migranten/innen. Dankbar erinnern sich die Kirchen daran, dass sie in ihrer eigenen Geschichte als einzelne, als Gruppen oder Kirchen aus Unterdrückung und Verfolgung heraus die Erfahrung von Zuflucht, Schutz und offener Aufnahme erlebt haben.

Die Konferenz der Kirchen am Rhein und die beteiligten Kirchen der Gemeinschaft evangelischer Kirchen in Europa / Leuenberger Kirchengemeinschaft

- beschreiben Herausforderungen von Migration und Flucht in Europa (1-5)
- erinnern an Biblische Botschaft und kirchliche Verantwortung (6-10)
- formulieren Erwartungen an die Regelungen der Europäischen Union (11-22) zu Flüchtlingsschutz (13-17) und Migration (18-22) und benennen Gaben und Aufgaben für Kirchen und ihre Diakonie (23-29).

Herausforderungen von Migration und Flucht in Europa

(1) Migration geschieht. Sie gehört zur Menschheitsgeschichte und der Geschichte des europäischen Kontinents. Migranten/innen haben zu allen Zeiten Wichtiges zum Aufbau der europäischen Gesellschaften, ihrer Kultur und Wertegemeinschaft geleistet. Auch die Zukunft wird ihrerseits wieder neu von Migration geprägt sein. In den Prozessen der Globalisierung bildet Migration ein konstitutives Merkmal pluraler, moderner Gesellschaften, von deren Mitgliedern ein immer höheres Maß an Flexibilität und Mobilität erwartet wird.

(2) Migration hat vielfältige Gründe. Die Zahl der Migranten/innen wird weltweit auf circa 175 Millionen geschätzt . Beschleunigte Globalisierungsprozesse tragen zunehmend dazu bei, dass Menschen nicht mehr nur in einem Staat leben und arbeiten. Eheschließungen und Familiengründungen finden vermehrt über die Grenzen hinweg statt. Die demografische Entwicklung in den europäischen Ländern wird dazu führen, dass die Staaten der erweiterten EU verstärkt neue Migrantinnen und Migranten aus außereuropäischen Staaten anwerben, um den mit der demografischen Entwicklung steigenden Arbeitskräftebedarf zu decken. Armut, fehlende Existenzbedingungen und mangelnde Zukunftsperspektiven sind zentrale Faktoren, weshalb Menschen in andere Regionen und Staaten abwandern.

(3) Flucht geschieht nicht freiwillig. Weltweit sind etwa 20 Millionen Menschen auf der Flucht . Verfolgung aufgrund der politischen oder religiösen Überzeugung, der ethnischen Herkunft, der Zugehörigkeit zu einer bestimmten Gruppe  (sozialen Gruppe oder Geschlecht), aber auch Kriege und Bürgerkriege, Umwelt- oder Existenzzerstörungen und schwere Menschenrechtsverletzungen zwingen Menschen, Schutz außerhalb ihrer Heimat zu suchen. Diese Gründe machen überdeutlich, dass die Bemühungen zur Überwindung von Menschenrechtsverletzungen, Gewalt, Armut und sozialer Ungerechtigkeit erheblich verstärkt werden müssen.

(4) Migration ist vielschichtig. Während die Aufnahmeländer von Migration profitieren, verlieren die Herkunftsländer nicht selten initiative und gut ausgebildete Menschen. Andrerseits tragen Transferzahlungen teilweise ganz erheblich zur wirtschaftlichen Entwicklung dieser Länder bei. Die Kirchen nehmen wahr, wie sich die Industriestaaten versuchen, gegen Migration abzuschotten und die Flucht für Flüchtlinge immer schwieriger wird. Gleichzeitig nimmt die Zahl der irregulären Migranten/innen mehr und mehr zu. Migrationsbiografien sind häufig äußerst erfolgreich. Migrationserfahrungen sind aber nicht selten auch mit Enttäuschungen und Heimatverlust verbunden.  Während Migration bei der aufnehmenden Gesellschaft Ängste vor Überfremdung auslösen kann, erleben Migranten und Migrantinnen nicht selten Ausgrenzung und Ablehnung.

(5) Migration braucht Integration. Zugewanderte Menschen müssen sich in der aufnehmenden Gesellschaft ein neues Leben aufbauen Die “Einheimischen“ müssen für die neu ansässigen Mitglieder Anschlussmöglichkeiten an den Prozess der gesellschaftlichen Weiterentwicklung gewährleisten. Die Erfahrung in der Migrationsarbeit zeigt, dass schon mit der Einreise in das Aufnahmeland in ausreichendem Umfang Angebote bereitgestellt werden müssen, die den gegenseitigen Integrationsprozess nachhaltig unterstützen. Wichtig ist deshalb die rasche Status-Klärung bei der Einreise, die Zulassung zum Arbeitsmarkt, Hilfe zum Erwerb der Sprache des Aufnahmestaates, die Herstellung der Familieneinheit sowie der Zugang zu den Bildungs- und Sozialsystemen, damit Kompetenzzugewinn bzw. Integration in der Aufnahmegesellschaft gelingen können.

(6) Migration braucht ein Konzept. Die Herausforderungen der Migration brauchen nachhaltige Regelungen und Maßnahmen auf internationaler Ebene. Auf europäischer Ebene sind dies die Regelungen des Europarates und der Europäischen Union. Sie sind im Sinne der Menschenwürde durch die Mitglieder des Europarates und der Europäischen Union zu entwickeln.

Biblische Botschaft und kirchliche Verantwortung

(7) Das Evangelium „macht die Christen frei zu verantwortlichem Dienst in der Welt … Sie treten ein für irdische Gerechtigkeit und Frieden zwischen den einzelnen Menschen und unter den Völkern.“ (Leuenberger Konkordie 11) In besonders herausgehobener Weise ruft die biblische Botschaft die Kirchen in die Verantwortung für Flüchtlinge und Migranten/innen. Die Fremdenliebe und die daraus folgende Ethik sind Wesensmerkmale des Gottesvolkes in der Welt. Unter den biblischen Geboten gibt es nur wenige, die dem Schutzgebot gegenüber Fremden an Gewicht und Eindeutigkeit gleichkommen. „Wenn bei dir ein Fremder in eurem Land lebt, sollt ihr ihn nicht unterdrücken. Der Fremde, der sich bei euch aufhält, soll euch wie ein Einheimischer gelten, und du sollst ihn lieben wie dich selbst; denn ihr seid selbst Fremde in Ägypten gewesen.“ (3. Mose/Lev 19,33f) Das Neue Testament erhebt die Liebe zum Nächsten zu einem die Grenzen der Fremdheit überwindenden Gebot (Lk 10,25-37). Weil Gott nicht auf den „Stand“ einer Person schaut, sondern Menschen aller Völker und gesellschaftlichen Gruppen in sein Reich ruft (Apg 10,34f; Röm 2,10f), geht von der christlichen Gemeinschaft ein weltumspannender Impuls aus, der auch bisher Fremde einbezieht und ein enges, national beschränktes Denken und Handeln überwindet.

(8) Für die Kirchen begründet die biblische Botschaft Menschenwürde und Menschenrechte. Aus der Bestimmung des Menschen als Ebenbild Gottes und der daraus abgeleiteten Würde entfalten sich die wesentlichen Grundlagen für das Zusammenleben. (1. Mose/Gen 1,26f) Danach ist jeder Mensch seinem Wesen nach Person und als solcher ursprünglicher Träger von Grundrechten. Diese wurzeln in der Menschenwürde und sind deshalb von besonderen Bestimmungen des Menschen (z.B. Geschlecht, Rasse, beruflicher Status, Vermögensverhältnisse, Gesundheit, Familienstand, Zugehörigkeit zu einer Gemeinschaft oder einem Staat) unabhängig. Die Grundrechte werden daher auch durch keine innerweltliche Instanz „verliehen“. Aus diesem Grund ist den beteiligten Kirchen besonders wichtig, dass nach der Genfer Flüchtlingskonvention Menschen einen Anspruch auf Schutz haben, die wegen ihrer ethnischen Zugehörigkeit, ihrer Religion, ihrer Nationalität, ihrer Zugehörigkeit zu einer bestimmten sozialen Gruppe oder wegen ihrer politischen Überzeugung in der Unversehrtheit von Leib, Leben und Freiheit bedroht sind.

(9) Die Familie ist die Grundform menschlichen Zusammenlebens in Gemeinschaft und gegenseitiger Verantwortung. Sie bedarf daher eines besonderen Schutzes. Der Mensch kann nur durch das Leben in einer Gemeinschaft zur Entfaltung seiner Persönlichkeit kommen. Dazu gehören das Recht der Familie, zusammen zu leben, und das Recht der Eltern, ihre Kinder zu erziehen. Nach Artikel 8 der Europäischen Menschenrechtskonvention stehen Ehe und Familie unter einem besonderen Schutz. In Flucht und Migration sind diese Rechte der Familie gefährdet und bedürfen deshalb besonderer Beachtung.

(10) Die Bibel setzt Grenzen und überwindet Grenzen. (5. Mose/Dtn 5,6-21; Gal 3,26-28) Jedem Menschen kommt die gleiche personale Würde zu. Über alle nationalen Grenzen und Kontinente, über Unterschiede von Hautfarbe oder ethnischer Zugehörigkeit, von Sprache und Kultur und Religion, von sozialer und wirtschaftlicher Entwicklung sowie über alle Grenzen hinweg bilden die Menschen eine Einheit mit gleichem Anspruch auf Würde und Rechte. Jede Gruppe muss den Bedürfnissen und berechtigten Ansprüchen anderer Gruppen und Völker Rechnung tragen. Die Verantwortung aller Menschen für die ihnen anvertraute Schöpfung verpflichtet sie zu einer weltweiten Solidarität. So finden sich die Kirchen nicht ab mit Gewalt, Ausgrenzung und Eigensucht. Sie setzen sich dafür ein, dass die Perspektive der Versöhnung, die sich im Glauben an Jesus Christus erschließt, im Zusammenleben der Menschen sichtbar wird.

(11) Die Kirchen und ihre diakonischen Einrichtungen, einzelne Kirchengemeinden sowie ehrenamtlich engagierte Christinnen und Christen unterstützen seit vielen Jahrzehnten Migrantinnen, Migranten und Flüchtlinge. Es entspricht dem biblisch begründeten Auftrag, die Stimme zu erheben, wenn Rechte und Würde von Flüchtlingen und Migranten verletzt werden. Die Erfahrungen dieses Engagements sind gemeinsam mit den Betroffenen dort einzubringen, wo es zum Beispiel darum geht, Migration zu gestalten und dabei die gesetzlichen Rahmenbedingungen zu verändern.

Aus diesen Gründen formuliert die Konferenz der Kirchen am Rhein im Blick auf die besondere gemeinsame Verantwortung für ihre Region zusammen mit den in der Gemeinschaft evangelischer Kirchen in Europa / Leuenberger Kirchengemeinschaft verbundenen Kirchen ihre Erwartungen an die Regelungen zum Schutz von Migranten/innen und Flüchtlingen in der Europäischen Union und der Schweiz.

Erwartungen der Kirchen an die Regelungen der Europäischen Union

(12) Europa wächst zusammen. In einem gemeinsamen Raum der Freiheit, der Sicherheit und des Rechts, in dem sich Menschen frei bewegen können, kann das Flüchtlings- und Aufenthaltsrecht nur gemeinsam und in gemeinsamer Verantwortung gestaltet werden. Mit dieser Begründung hat im Amsterdamer Vertrag am 1. Mai 1999 die Europäische Union den Auftrag erhalten, im Bereich des Flüchtlings- und Aufenthaltsrechts bis Mai 2004 Gemeinschaftsrecht zu setzen. Dieser Zeitpunkt veranlasst die beteiligten Kirchen zu einer Zwischenbilanz zum Stand dieser gegenwärtig noch nicht abgeschlossenen Rechtssetzung.

(13) Die Kirchen erwarten, dass der Europäische Rat bereits 2004 von seiner Möglichkeit Gebrauch macht, entsprechend den Bestimmungen im Amsterdamer Vertrag zur Entscheidungsfindung mit qualifizierter Mehrheit und zum Mitentscheidungsverfahren überzugehen. Die Kirchen begrüßen nachdrücklich die Bestimmungen im vereinbarten Entwurf einer Verfassung der Europäischen Union, die für die europäische Asyl- und Migrationsgesetzgebung das normale Gesetzgebungsverfahren vorsehen. Der Übergang zur Mehrheitsentscheidung im Rat und vor allem eine verstärkte Rolle des Europäischen Parlaments kann dazu beitragen, Einigungen auf dem kleinsten gemeinsamen Nenner zu verhindern. Flucht und Migration bedürfen demokratisch legitimierter europäischer Regelungen mit hohem Schutzniveau.

Flüchtlingsschutz

(14) Die beteiligten Kirchen begrüßen, dass der Europäische Rat am 15./16. Oktober 1999 in Tampere die „uneingeschränkte und allumfassende Anwendung der Genfer Flüchtlingskonvention“ beschlossen hat. Sie erwarten, dass dieser Beschluss auch die Einzelheiten des zukünftigen europäischen Rechts prägt. Folgerichtig ist daher die Klarstellung in der Richtlinie über die Anerkennung von Flüchtlingen und von Personen, die anderweitig internationalen Schutz benötigen, dass auch Opfer der so genannten nicht-staatlichen Verfolgung den Flüchtlingsstatus erhalten müssen. Einer Flüchtlingsanerkennung bedürfen u.a. darüber hinaus auch Deserteure und Kriegsdienstverweigerer, die es ablehnen, an bewaffneten Konflikten teilzunehmen, sowie die Opfer geschlechtsspezifischer Verfolgung.

(15) Die Kirchen halten es für dringend geboten, den subsidiären Schutzstatus weiter zu verbessern. Die Europäische Menschenrechtskonvention verpflichtet die EU und ihre Mitgliedstaaten zum Schutz des Lebens und der Gesundheit, sie verbietet die Abschiebung von Zuflucht suchenden Menschen bei drohender grausamer, erniedrigender und unmenschlicher Behandlung. Soweit diese Personen nicht unter die Genfer Flüchtlingskonvention fallen, benötigen sie einen subsidiären Schutzstatus, der dem von anerkannten Flüchtlingen gleichkommt. Personen mit subsidiärem Schutzstatus sollen das Recht zur Aufnahme einer Erwerbstätigkeit haben und den gleichen Arbeitsbedingungen und sozialen Schutzstandards unterliegen wie eigene Staatsangehörige. Sie sollen ein Recht auf Teilnahme an Integrationsmaßnahmen und auf Familiennachzug haben wie anerkannte Flüchtlinge. Die Familienangehörigen sollen ebenfalls den subsidiären Schutzstatus erhalten.

(16) Die „uneingeschränkte und allumfassende Anwendung“ der Genfer Flüchtlingskonvention setzt transparente, faire und gerechte Asylverfahren mit ausreichend hohen Schutzstandards voraus. Die zentralen Elemente eines fairen Verfahrens sind:

- die professionelle Verfahrensberatung des Asylsuchenden vor Beginn des Asylverfahrens. – Eine möglichst umfassende, unabhängige Beratung verschafft dem Asylsuchenden die notwendige Transparenz für das bevorstehende Verfahren und vermeidet so, dass wesentliche Aussagen erst verspätet in das Verfahren eingeführt werden.

- die qualifizierte individuelle Anhörung des Asylsuchenden unter Anwesenheit eines geeigneten Dolmetschers und die Erstellung einer individuellen Gefährdungsprognose auf der Grundlage aller verfügbaren Erkenntnismittel. Dies muss auch in Fällen greifen, in denen vermutet wird, es könnten keine Asylgründe vorliegen.

- effektiver Rechtschutz gegen alle Ablehnungsentscheidungen durch eine Überprüfungsinstanz mit richterlicher Unabhängigkeit, der sich auf eine volle Überprüfung aller Tatsachen- und Rechtsfragen erstreckt.

- die aufschiebende Wirkung des Rechtsschutzes als Regelfall. – Zumindest muss der Asylsuchende die Möglichkeit haben, die aufschiebende Wirkung bei der Überprüfungsinstanz mit richterlicher Unabhängigkeit zu beantragen. Bis über diesen Antrag entschieden ist, soll das Verfahren aufschiebende Wirkung haben.

- uneingeschränkter Zugang der Asylsuchenden zu Rechtsanwälten, Kirchengemeinden und Nichtregierungs-Organisationen in allen Stadien des Verfahrens und uneingeschränkter Zugang dieser zu den Asylsuchenden. – Dies soll auch gelten, wenn diese an der Grenze oder in Gewahrsamseinrichtungen festgehalten werden.

- das Recht von Rechtsanwälten und anderen Beiständen des Asylsuchenden, an Anhörungen und Verhandlungen teilzunehmen und Akteneinsicht zu bekommen.

- das Recht auf Bewegungsfreiheit. – Weder die Asylantragstellung noch die Herkunft aus einem bestimmten Ursprungsland noch das Ausmaß der Begründetheit eines Antrages oder die Tatsache der „illegalen“ Einreise rechtfertigen es, den Asylsuchenden während des Verfahrens in Haft zu nehmen.

Die Asylverfahrenrichtlinie wird diesen Mindeststandards nicht gerecht und bedarf daher erheblicher Nachbesserungen.

(17) Die Kirchen widersprechen entschieden den Plänen der EU, die Verantwortung zur Flüchtlingsaufnahme auf ärmere Staaten außerhalb der EU zu delegieren.  Die Möglichkeit, Nicht-EU-Staaten zu so genannten „sicheren Drittstaaten“ oder „Dritt-Asylländern“ zu erklären, verlagert die Verantwortung, Flüchtlinge zu schützen, einseitig auf wesentlich ärmere Staaten. Dies könnte für andere Staaten den Anstoß geben, ihre Verpflichtungen aus der Genfer Flüchtlingskonvention ebenfalls zu vernachlässigen und Verantwortung wiederum an andere zu delegieren. „Kettenabschiebungen“ in den Verfolgerstaat sind damit vorprogrammiert. Die genannten Pläne widersprechen der Genfer Flüchtlingskonvention und den Prinzipien des internationalen humanitären Rechts. Sie zerstören den Grundgedanken des Rechts auf Asyl.

(18) Die Kirchen begrüßen, dass bedürftige Asylsuchende in der gesamten EU in Zukunft einen Anspruch auf Mindestaufnahmebedingungen – Unterkunft, Ernährung, Kleidung, medizinische Versorgung und Schulbesuch – haben und fordern eine konsequente Umsetzung dieser Richtlinie. Die tatsächliche Situation entspricht oft nicht den Standards der Richtlinie. Besonders in den Blick zu nehmen ist dabei die Situation von besonders schutzbedürftigen Personen. Dazu zählen unbegleitete minderjährige Flüchtlinge, Behinderte, ältere Menschen, Schwangere, Alleinerziehende mit minderjährigen Kindern und Menschen, die Folter, Vergewaltigung oder sonstige schwere Formen psychischer oder physischer Gewalt erlitten haben. Ergänzt werden müsste die Richtlinie dahingehend, dass auch Asylsuchende mittelfristig die Möglichkeit erhalten, eine Erwerbstätigkeit aufnehmen zu dürfen. Die Integration in den Arbeitsmarkt fördert die psychische Stabilität der Betroffenen. Dies erleichtert die Akzeptanz der Aufnahmegesellschaft und fördert den Erwerb beruflicher Kompetenz, die auch bei einer möglichen Rückkehr in das Herkunftsland von Nutzen sein kann.

Migration

(19) Die Erweiterung der EU kann Frieden, Stabilität, Wohlstand und Freiheit aller Bürgerinnen und Bürger Europas fördern. Die Unionsbürgerschaft sollte künftig uneingeschränkte Freizügigkeit gewährleisten und das Wahlrecht im jeweiligen Wohnsitzstaat ermöglichen. Die EU und ihre Mitgliedstaaten, die Regionen, die Gemeinden, Organisationen und die Kirchen sind aufgerufen, für die Akzeptanz der EU-Erweiterung zu werben, zwischenmenschliche Begegnungen und den Austausch der Menschen zu fördern.

(20) Die Familie steht zu Recht unter besonderem staatlichen Schutz. Die beteiligten Kirchen protestieren dagegen, dass die in der Familienzusammenführungsrichtlinie enthaltenen Schutzbestimmungen aufgeweicht wurden. Insbesondere müssen Kinder das uneingeschränkte Recht haben, mit ihren Eltern zusammenzuleben. An die Stelle von Restriktionen beim Familiennachzug sollte eine Politik treten, die die Potentiale der zusammengeführten Familie fördert, um den im Integrationsprozess gestellten Anforderungen gerecht zu werden. Die Kirchen hoffen, dass auch Flüchtlingen mit subsidiärem Schutzstatus ein Rechtsanspruch auf Familienzusammenführung gewährt wird.

(21) Die Kirchen fordern die EU und ihre Mitgliedstaaten auf, umgehend die Internationale Konvention zum Schutz der Rechte aller Wanderarbeitnehmer und ihrer Familienangehörige zu unterzeichnen, zu ratifizieren und in der Praxis anzuwenden.

(22) Die Rechtsstellung von aufenthaltsberechtigten Drittstaatsangehörigen bedarf einer deutlichen Verbesserung. Der neu geschaffene Anspruch auf einen Aufenthaltsstatus Drittstaatsangehöriger nach fünf Jahren weist in die richtige Richtung. Dieser Status sollte auch dann gewährt werden und darf nicht entzogen werden, wenn Betroffene aus gesundheitlichen oder ähnlichen Gründen nicht unabhängig von öffentlichen Leistungen leben können. Migrantinnen und Migranten, die auf Dauer in der EU leben, sollten insbesondere beim Zugang zur Erwerbstätigkeit, beim Zugang zur Bildung, im Sozialrechtsschutz und beim Wahlrecht EU-Bürgern gleichgestellt sein.

(23) Die Situation irregulärer Migrantinnen und Migranten bedarf humanitärer Verbesserungen. Unentgeltliche Beratung und Begleitung von irregulären Personen darf nicht mit Strafe bedroht sein. Kinder von irregulären Migranten müssen uneingeschränkt die Möglichkeit haben, die Schule zu besuchen. Die Rechte aus der UN-Kinderrechtkonvention gelten unabhängig vom Status für alle Kinder. Um sicherzustellen, dass akute Krankheits- und Schmerzzustände rechtzeitig behandelt werden, benötigen „irreguläre“ Migranten einen ungefährdeten Zugang zum Gesundheitssystem. Schließlich muss es auch möglich sein, dass „Irreguläre“ Straftaten anzeigen und als Zeugen aussagen können, ohne dass dies zu aufenthaltsbeendenden Maßnahmen führt. Für Opfer von Menschenhandel und organisierter Kriminalität sollten die Zeugenschutzprogramme deutlich verbessert werden.

(24) Die Kirchen fordern Bleibemöglichkeiten für Menschen, die sich seit vielen Jahren in Europa aufhalten, um diesen eine angemessene Lebensperspektive zu ermöglichen.

Gaben und Aufgaben für Kirchen und ihre Diakonie

(25) „Wer dem Evangelium vertraut … lebt in täglicher Umkehr und Erneuerung zusammen mit der Gemeinde im Lobpreis Gottes und im Dienst am anderen, in der Gewissheit, dass Gott seine Herrschaft vollenden wird. So schafft Gott neues Leben und setzt inmitten der Welt den Anfang einer neuen Menschheit.“ (Leuenberger Konkordie 10) Dankbar erinnern sich die Kirchen, dass sie in ihrer eigenen Geschichte als einzelne, als Gruppen oder Kirchen aus Unterdrückung und Verfolgung heraus die Erfahrung von Zuflucht, Schutz und offener Aufnahme erlebt haben. Für manche Kirchen sind diese Migrationserfahrungen in weit zurückliegender oder neuerer Zeit grundlegend. Gleichzeitig erkennen die Kirchen aber auch immer wieder deutliche Vorbehalte gegen Fremde und Flüchtlinge in den Reihen der eigenen Kirchenmitglieder.

(26) Eine Kultur der Begegnung, der Gastfreundschaft und des herzlichen Willkommens für Migranten/innen und Flüchtlinge setzt greifbare Zeichen des gegenseitigen Respekts und der Anerkennung. Initiativen in diese Richtung und interreligiöse Begegnungen sollen durch die Kirchengemeinden zusammen mit anderen Religionsgemeinschaften und Verantwortlichen im kommunalen Bereich in gezielter Weise gefördert werden. Im Horizont von Glauben, Hoffnung und Liebe soll dies deutlicher als bisher in Elementen einer Theologie der Begegnung und der Konvivenz Ausdruck finden. Einheimische und eingewanderte Christinnen und Christen gehören alle zu dem einen Leib Jesu Christi und damit zur weltweiten Ökumene. Unverständnis und Verunsicherungen werden nicht ausbleiben, wo Gemeinden sich in dieser Weise für Migrantinnen / Migranten und Flüchtlinge öffnen. Dies ist ernst zu nehmen und sensibel zu bearbeiten.

(27) Die Kirchen und ihre Gemeinden können entscheidend dazu beitragen, ein Klima der Akzeptanz und Toleranz zu schaffen, zu erhalten und Vorurteile abzubauen. Die beteiligten Kirchen danken allen, die durch ihren persönlichen Einsatz bereits in diesem Sinne gelebt und gewirkt haben. Wortverkündigung, Kasualien und Seelsorge, Bildungs-, Jugend-, Frauenarbeit und weitere Formen des Gemeindelebens bieten dazu in besonderer Weise Gestaltungsräume. Die Kirchengemeinden können Orte der Begegnung schaffen, um gegenseitiges Lernen zu ermöglichen. Die Kirchen sehen sich herausgefordert, deutlicher als bisher Migrantinnen / Migranten und Flüchtlinge einzuladen, den Dialog mit anderen Konfessionen und Religionen zu fördern und sich interkulturell zu öffnen. Die Anwesenheit von Migranten/innen bietet sowohl die Chance, jeweils den eigenen Glauben besser kennen zu lernen, als auch gemeinsam neue Inspirationen aufzunehmen. Kirchengemeinden sollen Migrantengemeinden Räume zur Verfügung stellen und Kontakte zum Austausch gezielt fördern. Migrantinnen / Migranten und Flüchtlinge sind wichtige Gesprächspartner im konziliaren Prozess „Gerechtigkeit, Frieden und Bewahrung der Schöpfung“.

(28) Die Kirchen mit ihren Kirchengemeinden und ihrer Diakonie stehen vor der Aufgabe, sich stärker als bisher interkulturell zu öffnen und dabei kulturelle Festschreibungen zu überwinden. Die in den ökumenischen Zusammenschlüssen und Werken gemachten Erfahrungen sollten in diesem Prozess nutzbar gemacht werden. Gleichberechtigung und gleiche Teilhabe setzen voraus, dass Menschen mit Migrationshintergrund in den Kirchengemeinden und kirchlichen Einrichtungen in gleicher Weise mitarbeiten und sich einbringen können wie Einheimische. Aus-, Fort- und Weiterbildung erhöhen die interkulturelle Kompetenz von Mitarbeitenden. In den Einrichtungen können interkulturelle Teams zu qualifizierten Lernprozessen beitragen, Konfliktpotentiale entschärfen, zur Mediation und zum interreligiösen Dialog befähigen und gemeinsam Neues entwickeln.

(29) Die Kirchen treten ein gegen Rassismus, Fremdenfeindlichkeit und Antisemitismus. Mit ihren Gemeinden und ihrer Diakonie nehmen sie Fälle von Rassismus und Fremdenfeindlichkeit im Gemeinwesen aufmerksam wahr, bringen diese öffentlich zur Sprache und unternehmen gezielte Schritte, um ein offenes und tolerantes Zusammenleben zu fördern.

(30) Die Kirchen und ihre Diakonie haben  ihre anwaltliche Funktion wahrzunehmen, wo Flüchtlinge und Menschen mit Migrationshintergrund in ihren Rechten verletzt werden. Flüchtlinge, Asylsuchende und Migrantinnen / Migranten sind häufig in besonderer Weise von sozialer und rassistischer Ausgrenzung betroffen. Die Kirchen sehen sich in der Verantwortung, diakonische Dienste bereitzustellen, die Asylsuchende, Flüchtlinge und Migrantinnen / Migranten in Zusammenarbeit mit Ehrenamtlichen praktisch begleiten. Kirchengemeinden sind aufgefordert, sich für Asylsuchende, Flüchtlinge und Menschen mit Migrationshintergrund zu engagieren und diese in das Gemeinwesen zu integrieren.

(31) Die Kirchen und ihre Diakonie sehen es als ihre Aufgabe, die Zusammenhänge zwischen Ungerechtigkeit, Umweltzerstörung, Krieg und den Erscheinungsformen von Migration und Flucht in die Gesellschaft hinein zu vermitteln. Sie arbeiten hier eng mit den Partnerkirchen in der weltweiten Ökumene zusammen und wollen in den grenznahen Regionen verstärkt die Möglichkeiten grenzüberschreitender Zusammenarbeit nutzen. Die Charta Oecumenica – Leitlinien für die wachsende Zusammenarbeit unter den Kirchen Europas – wird hier als ermutigende Grundlage und hilfreiche Orientierung dankbar aufgenommen.

Christus spricht: „Ich bin ein Fremder gewesen, und ihr habt mich aufgenommen. … Was ihr getan habt einem von diesen meinen geringsten Brüdern, das habt ihr mir getan.“ (Mt 25,35.40)

Die beteiligten und gleichzeitig in der Gemeinschaft evangelischer Kirchen in Europa / Leuenberger Kirchengemeinschaft verbundenen Kirchen verpflichten sich, den Herausforderungen von Migration und Flucht ihrer biblische begründeten Verantwortung entsprechend angemessen Rechnung zu tragen. Sie werden dafür eintreten, dass im europäischen Rechtsetzungsprozess und in der nationalen Rechtsumsetzung die Haltung der Kirchen öffentlich wahrgenommen wird und nach Möglichkeit Berücksichtigung findet. Sie werden ihre Kirchenbezirke, Gemeinden und diakonischen Einrichtungen bitten, die genannten Aufgaben in verantwortungsvoller Weise wahrzunehmen.

Die beteiligten Kirchen bitten den Exekutivausschuss der Gemeinschaft evangelischer Kirchen in Europa / Leuenberger Kirchengemeinschaft, das Konsultationsergebnis den 103 Signatarkirchen in geeigneter Weise weiterzugeben und dieses über deren Kirchenleitungen und Synoden in den jeweils eigenen Verantwortungsbereich zu vermitteln.

Liebfrauenberg, 12. Mai 2004

Für die beteiligten Kirchen:

Prof. Dr. Elisabeth Parmentier
Präsidentin der Gemeinschaft evangelischer Kirchen
in Europa / Leuenberger Kirchengemeinschaft

Prof. Dr. Jean-François Collange
Präsident der Konferenz der Kirchen am Rhein