Persönliche und politische Verantwortung gegen Rechtsextremismus wahrnehmen

Leitendes Geistliches Amt nimmt Stellung zum 60. Jahrestag des Kriegsendes

Evangelische Kirche in Hessen und Nassau

06. Mai 2005

Mit einem „Wort zum 8. Mai 1945“ hat sich das Leitende Geistliche Amt (LGA) öffentlich zum 60. Jahrestag des Kriegsendes geäußert. Darin mahnt es, angesichts der schwindenden Zahl von Zeitzeugen „die Erinnerung wach zu halten“ und „wachsam für gefährliche Entwicklungen“ zu sein, denn „rechtsextreme Gruppierungen“ und leider auch manche „politischen Mandatsträger verbreiteten rassistisches, antisemitisches und ausländerfeindliches Gedankengut“. Das LGA hofft und betet, dass „wir die persönliche und politische Verantwortung wahrnehmen in der Auseinandersetzung mit allen Formen des Rechtsextremismus, der Diskriminierung, des Rassismus und der Fremdenfeindlichkeit“.

Der Tag des Kriegsendes löse „widersprüchliche Empfindungen“ aus. Mit ihm verknüpften viele die Befreiung von der nationalsozialistischen Gewaltherrschaft, andere aber auch die Vertreibung aus ihrer Heimat. Krieg und Vertreibung seien beide Unrecht und ließen sich nicht rechtfertigen, betont das LGA. Dabei habe man aber „Ursache und Wirkung auseinander zu halten“.

Kriegsende: Trauer, Dankbarkeit, Sorge und Hoffnung

Am 60. Jahrestag des Kriegsendes erinnerten sich viele in Trauer an die vielen Toten infolge von Haft, Folter, Massenvernichtung, Kriegshandlungen, Flucht und Vertreibung. Die Trauer der Überlebenden gelte auch den „zerrissenen Familien“, der „zerstören Jugend“ und den „bleibenden Traumata in den nächsten Generationen“.

60 Jahre nach dem Ende des Zweiten Weltkriegs, so das LGA, sei auch Grund zur Dankbarkeit „für Versöhnung und Frieden in den vergangenen 60 Jahren“. Dabei hebt es die Versöhnung mit den Menschen in den damals angegriffenen Ländern hervor und würdigt die Arbeit der christlichen Friedensdienste wie „Aktion Sühnezeichen“ und „Zeichen der Hoffung“ sowie die so genannte Ostdenkschrift der Evangelischen Kirche in Deutschland (EKD), die 1965, mitten im Kalten Krieg, den offiziellen Dialog mit den osteuropäischen Ländern eingeleitet hat. Wörtlich formuliert das LGA: „Unsere Dankbarkeit verbindet sich mit der Verpflichtung für friedliche Mittel der Konfliktlösung auf allen Ebenen einzutreten“. Gewürdigt wird ausdrücklich das „Friedenszeugnis einer weltweiten ökumenischen Gemeinschaft von Kirchen gegen den Irak-Krieg“.

Der Jahrestag erfüllt das LGA auch mit Sorge angesichts der Gewalt in vielen aktuellen Kriegen auf der Welt, des Terrorismus und der nicht gebremsten Rüstungsproduktion. Ausdrücklich missbilligt das LGA den Missbrauch von Religionen „zur Begründung und Rechtfertigung von Krieg und Terrorismus“

Der genaue Wortlaut des zweiseitigen „Wortes des LGA zum 8. Mai 1945“ ist im Anhang dieser Pressemitteilung zu lesen.

Das Leitende Geistliche Amt besteht aus acht Personen, es sind der Kirchenpräsident, seine Stellvertreterin, zwei Pröpstinnen und vier Pröpste, die als Gremium die bischöfliche Funktion in der EKHN ausüben.

Ökumenischer Gedenkgottesdienst in Darmstadt

Das Bistum Mainz und die Evangelische Kirche in Hessen und Nassau (EKHN) feiern einen zentralen gemeinsamen Gedenkgottesdienst am 8. Mai 2005 ab 16 Uhr in der Darmstädter Stadtkirche. Er steht unter dem Motto „Kriegskindheit: wissen, was Krieg bedeutet. Wissen, was Frieden wert ist“. Die Predigt hält Kirchenpräsident Dr. Peter Steinacker. Für das Bistum Mainz wirkt Weihbischof Walter Guballa mit. Die Musik gestaltet die Darmstädter Kantorei mit Kantor Berthold Engel. Zum Gottesdienst werden Landtagsabgeordnete aus Hessen und aus dem rheinland-pfälzischen Teil des Kirchengebiets der EKHN erwartet.

Darmstadt, 6. Mai 2005

Stephan Krebs
Pressesprecher

Wortlaut der Stellungnahme:

Evangelische Kirche in Hessen und Nassau- Das Leitende Geistliche Amt

Wort zum 60. Jahrestag des 8. Mai 1945

Am 8. Mai 1945 ging für Deutschland der Zweite Weltkrieg und damit auch die Herrschaft des Nationalsozialismus zu Ende.

60 Jahre danach – der zeitliche Abstand wächst, die Erinnerung bleibt wichtig

Die Zahl der Menschen, die den 8. Mai 1945 selbst erlebt haben und von ihren Erfahrungen berichten können, wird weniger. Die Chance der Begegnung mit Zeitzeuginnen und Zeitzeugen innerhalb der eigenen Familie, in Schule und im öffentlichen Leben nimmt ab.

Der Abstand zum damals Geschehenen wächst. Eine unbefangenere und differenziertere historische Betrachtung wird möglich. Dabei ist in den letzten Jahren erschreckend deutlich geworden, wie Menschen im alltäglichen Leben in das nationalsozialistische Unrechtssystem verflochten waren. Für unser Leben heute ist es wichtig, die Erinnerung wach zu halten. Wer sich der Vergangenheit stellt, bleibt in der Gegenwart wachsam für gefährliche Entwicklungen.

Im Jahr 2005 erleben wir, dass rechtsextreme Gruppierungen Zulauf haben, ja dass sogar durch politische Mandatsträger rassistisches, antisemitisches und ausländerfeindliches Gedankengut verbreitet wird. Auch heute gilt: Wehret den Anfängen!

60 Jahre danach – ein Tag mit widersprüchlichen Empfindungen: Trauer und Dankbarkeit, Sorge und Hoffnung

Der 8. Mai 1945 war für Deutschland der Tag der Befreiung vom System der nationalsozialistischen Gewaltherrschaft, aber die Deutschen erlebten auch Not und Vertreibung, die Besatzungszeit und die Teilung Deutschlands. Ein Teil des Unrechts, das von Deutschland ausgegangen war, fiel auf das Land und seine Menschen zurück. Geschehenes Unrecht ist nicht zu rechtfertigen. Aber Ursache und Wirkung sind auseinander zu halten. Wir müssen eingestehen, dass Deutsche nicht in der Lage waren, die nationalsozialistische Gewaltherrschaft und den Zweiten Weltkrieg aus eigener Kraft zu beenden.

Auch andere Länder haben nach dem Ende des Zweiten Weltkrieges eine Zeit neuer Fremdherrschaft erlebt. Europa war lange Zeit in Blöcke geteilt und hat erst seit 1989 / 1990 mit der politischen Wende die Chance zu einer zunehmend gemeinsamen Entwicklung gefunden.

Daher bleibt der 8. Mai ein Tag mit widersprüchlichen Empfindungen:

Trauer

- um die vielen Menschen, die durch den Terror des Nationalsozialismus um ihr Leben gebracht wurden

- als Opfer von Haft, Folter und Massenvernichtung in Konzentrationslagern...

- im Krieg, als Soldaten, als zivile Opfer, durch Bomben und Feuer, in Gefangenschaft...

- auf der Flucht, durch Vertreibung, Hunger und Kälte...

 Verlorenes Leben:

das sind auch zerstörte Träume auf ein gutes Leben,

zerrissene und ausgelöschte Familien,

verlorene Jugend,

bleibende Traumata, wirksam auch in folgenden Generationen,

Wunden, die nicht heilen und Schmerz, der nicht vergeht...

Dankbarkeit

- für Versöhnung und Frieden in den vergangenen 60 Jahren

- für die Versöhnung mit den ehemals von Deutschland angegriffenen Ländern und ihren Menschen, die bereit waren zu vergeben und neu anzufangen.

- für alles, was die christlichen Kirchen beitragen konnten: durch Schuldbekenntnis und
Ostdenkschrift, durch Initiativen wie „Aktion Sühnezeichen“ und „Zeichen der Hoffnung“, durch christliche Friedensdienste, durch vielfältige Kontakte zwischen Ost- und Westeuropa und nach Israel.

- dafür, dass unser Land seit 1945 eine Zeit des Friedens erlebt. Für viele Menschen vor uns und viele Menschen in anderen Teilen der Welt war und ist diese Erfahrung einer solchen Friedensperiode nicht möglich. Unsere Dankbarkeit verbindet sich mit der Verpflichtung, für friedliche Mittel der Konfliktlösung auf allen Ebenen einzutreten.

Sorge

- um den Frieden in der Welt und um den inneren Frieden bei uns

- angesichts der vielen Kriege und Bürgerkriege in vergangenen Jahren und bis heute, Vietnam und Ruanda, der Balkan und Afghanistan, Ost-Timor und Irak sind nur einige der betroffenen Länder.

- weil Krieg immer wieder und immer neu als Mittel der Politik entdeckt wird.

- weil der Terrorismus ungeahnte Dimensionen erreicht und viele Menschen in den Tod reißt.

- weil Religionen zur Begründung und Rechtfertigung von Krieg und Terrorismus missbraucht werden.

- weil Rüstungsproduktion und –exporte nicht gebremst werden.

- um den inneren Frieden in unserem Land, weil viele Menschen angstvoll in die Zukunft schauen, weil sie von Armut und Arbeitslosigkeit bedroht sind.

Hoffnung

- auf eine Zukunft in Frieden und Gerechtigkeit

Unsere Hoffnung richtet sich zuerst auf Gott, und mit den Worten des 85. Psalms beten wir: „Herr, der du vormals bist gnädig gewesen deinem Land und hast erlöst die Gefangenen Jakobs, der du die Missetat vormals vergeben hast deinem Volk ... erweise uns deine Gnade und gib uns dein Heil!“

Wir hoffen und beten für die christlichen Kirchen, dass sie durch ihr Zeugnis der Gewalt und dem Krieg als Mittel der Politik den Boden entziehen. Wir sind froh über das Friedenszeugnis einer weltweiten ökumenischen Gemeinschaft von Kirchen, die gemeinsam gegen den Irak-Krieg Stellung nahmen.

Wir hoffen und beten für uns alle, dass wir die persönliche und politische Verantwortung wahrnehmen in der Auseinandersetzung mit allen Formen des Rechtsextremismus, der Diskriminierung, des Rassismus und der Fremdenfeindlichkeit. An diesem Sonntag denken wir vor allem an die Jugendlichen, denn viele werden heute in unseren Kirchen konfirmiert. Wir hoffen, dass sie Erwachsenen begegnen, die ihnen bei der Auseinandersetzung mit der Vergangenheit helfen und die sie dabei unterstützen, zu politisch wachen und mündigen Bürgerinnen und Bürgern in einer demokratischen Gesellschaft zu werden.

Darmstadt, 26. April 2005