Evangelische Kirchen und Diakonie legen Forschungsergebnis über Zwangsarbeit vor

Publikation belegt 261 Zwangsarbeiter in kirchlichen und diakonischen Einrichtungen in Hessen-Nassau und Kurhessen-Waldeck

Evangelische Kirche in Hessen und Nassau

19. Januar 2004

Zwei Jahre lang haben die Evangelische Kirche in Hessen und Nassau (EKHN), die Evangelische Kirche von Kurhessen-Waldeck (EKKW) und die Diakonischen Werke (DWHN und DWKW) nach Spuren von Zwangsarbeiterinnen und Zwangsarbeitern in ihren Einrichtungen während des Dritten Reiches suchen lassen. Das Ergebnis steht nun fest und ist in Form eines Buches öffentlich: 261 Personen konnten namentlich nachgewiesen werden. Der Marburger Historiker Dirk Richhardt, der im Auftrag von Kirche und Diakonie geforscht hat, betonte bei der Präsentation des Buches am Montag in Frankfurt, er habe zwar „mit dem feinst möglichen Sieb nach Spuren gesucht“, es sei aber nicht auszuschließen, dass es noch mehr Betroffene gegeben habe. Historische Forschung sei immer „ein offener Prozess“. Das jetzt veröffentlichte Ergebnis basiere auf allen heute zugänglichen Akten in den etwa 30 Archiven und zehn Dokumentationsstellen in ganz Deutschland, insbesondere in den beiden Kirchengebieten, das Hessen und Teile von Rheinland-Pfalz und Thüringen umfasse, sowie auf Berichten von Augenzeugen und Unterlagen in den Einrichtungen selbst.

Demnach haben neun Menschen zwangsweise Hausarbeit in evangelischen Pfarrhaushalten geleistet. Von den insgesamt 313 Diakonischen Einrichtungen haben 26 Zwangsarbeiterinnen und -arbeiter beschäftigt, insgesamt 252 Menschen. Bei 39 Prozent von ihnen konnte nachgewiesen werden, dass sie in der Garten- und Feldbewirtschaftung eingesetzt waren, 21 Prozent in der Hauswirtschaft, wenige auch in der Pflege von Kranken oder Behinderten selbst.

Die 261 Personen in diesem Bereich hätten 0,4 Prozent aller Zwangsarbeiter im Gebiet von Hessen ausgemacht. Dort wurden für das Jahr 1944, dem Jahr mit der höchsten Anzahl, 170.000 Personen nachgewiesen, die Zwangsarbeit verrichten mussten.

Alter und Herkunft

Mit 44 Prozent kamen fast die Hälfte der Betroffenen aus Polen, 34 Prozent stammten aus der damaligen Sowjetunion, 12 Prozent aus West- und Nordeuropa gekommen.

Der Frauenanteil betrug 54 Prozent. Das Alter der Frauen lag zwischen 15 und 68 Jahren und das der Männer zwischen 14 und 67, wobei die Mehrzahl, etwa 33% der zur Arbeit Gezwungenen, Anfang Zwanzig war. Der Altersdurchschnitt lag mit 28,6 Jahren etwa sechs Jahre über dem Durchschnitt der Zwangsarbeiter im damaligen Reichsgebiet.

Zwangsarbeit – ein nachträglicher und schwieriger Begriff

Richhardt wies weiter darauf hin, dass der Begriff Zwangsarbeit erst nachträglich geprägt worden sei. In der NS-Zeit habe es ihn noch nicht gegeben. Die betroffenen Personen seien in der Tradition der „Fremdarbeiter“ gesehen worden, wie sie bereits vor dem „Dritten Reich“ als Wander- oder Saisonarbeiter auch freiwillig gekommen waren. Die zwangsweise Verschleppung, die dann im Laufe des Krieges einsetzte, sei offenbar nur wenigen bekannt gewesen. In den kirchlichen Einrichtungen waren die Betroffenen meist in den normalen Arbeitsalltag integriert gewesen. Allerdings wurden sie entsprechend der rigiden staatlichen Vorschriften separat und schlechter untergebracht und sehr viel schlechter bezahlt als andere Arbeiter.

Richhardt wörtlich: „Die Recherche, insbesondere die subjektiven Quellen wie Briefe und Gespräche mit den Zeitzeugen legen den Schluss nahe, dass sich viele Mitarbeitende in den kirchlichen Einrichtungen in hohem Maß an die Normalität des Unrechtes in diesen Jahren gewöhnt hatten und – ähnlich wie die Mehrheit der Gesellschaft – versucht habe, ihr persönliches Leben darin „so normal wie möglich“ zu gestalten. Viele kirchliche und diakonische Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter haben sich im persönlichen Umgang durchaus human verhalten, sich gegenüber der politischen Dimension des Unrechts aber dennoch gleichgültig gezeigt.“

Der Autor erinnert in seiner Publikation außerdem daran, dass viele der größeren Einrichtungen unter staatlicher Verwaltung gestanden hätten. So sei etwa der Leiter der  Nieder-Ramstädter Diakonie bei Darmstadt, Pfarrer Schneider, inhaftiert gewesen. Unter der Leitung eines Kommissars sei auf dem Gelände der Nieder-Ramstädter Heime dann ein Auffang- und Durchgangslager für Zwangsarbeiter eingerichtet worden, in dem auch die kirchlichen Beschäftigten arbeiten mussten.

Richhardts Forschung förderte auch „Widerständigkeiten“ zu Tage. So gelang es dem Pfarrer von Oberweimar bei Marburg, einer vorbeiziehenden Wehrmachtseinheit zwei Frauen abzunehmen, die dann  im Pfarrhaus arbeiteten. Dies, so Richhardt, offenbare durchaus persönlichen Mut und Verantwortungsgefühl. Ob durch solche Aktionen das System Zwangsarbeit  gemildert werden konnte, sei allerdings zweifelhaft, weil „der Bedarf dann durch neue Verschleppte gedeckt“ worden sei.

Recherche – erst jetzt

Richhardt warnte vor kurzschlüssigen Bewertungen. Es sei schwer, die komplexe Lebenswirklichkeit dieser Jahre von heute aus gesehen zu durchdringen und zu bewerten: „Zu unterschiedlich waren die Einzelschicksale, zu spröde oft das Quellenmaterial.“
Besonders tragisch sei, so führte Richhardt aus, dass viele der 1945 heimkehrenden Zwangsarbeiterinnen und –arbeiter zuhause als „Kollaborateure“ eingestuft und in Lagern inhaftiert worden waren. Aus diesem Grund hätten viele bis heute diesen Teil ihrer Biografie verschwiegen. In dem Buch habe man deshalb auch keine Namen veröffentlicht und habe sehr sorgsam auf den Persönlichkeitsschutz geachtet, um die Rechte dieser Menschen nicht noch einmal zu verletzen.

Kirchen und Diakonie wollen Kontakt

Nach Aussage der Pressesprecherin des DWHN, Kathleen Niepmann, versuchen die Evangelischen Kirchen und die Diakonischen Werke nun, mit den Betroffenen in Kontakt zu kommen. Entsprechende Anfragen seien bereits vor Monaten an die Partnerorganisationen in den fraglichen Herkunftsländern gestellt worden. Vereinzelt seien auch schon Ergebnisse zu verzeichnen. Gerne wolle man die ehemaligen Zwangsarbeiterinnen und Zwangsarbeiter einladen. Viele seien interessiert, noch einmal an ihre ehemaligen Arbeitsstätten zu kommen und ehemalige „Kolleginnen“ zu treffen. Das helfe ihnen, mit den Erfahrungen und dem Leiden von damals heute besser fertig zu werden. Diese Erfahrung sei bei über 20 Begegnungstreffen, die die Evangelische Kirche in den vergangenen Jahren  mit Zwangsarbeiterinnen und –arbeitern aus Weißrussland organisiert habe, immer wieder gemacht worden.

Buchhinweis

Das Buch ist unter dem Titel „Zwangsarbeit im Bereich von evangelischer Kirche und Diakonie in Hessen“ als Band 8 in der Schriftenreihe „Quellen und Studien zur hessischen Kirchengeschichte“ erschienen. Es kostet sechs Euro und kann über den Buchhandel, die evangelischen Kirchen oder die diakonischen Werke bestellt werden. Bestelladresse bei der EKHN: Email: info@ekhn.de oder FAX: 06151/405-441.

Hintergrund: Zwangsarbeit und Evangelische Kirche in Hessen

Beitrag zur Entschädigung über die Bundesstiftung

Die EKHN und die EKKW und die diakonischen Werke sind über die Evangelische Kirche in Deutschland (EKD) beteiligt in der bundesweiten Stiftung „Erinnerung, Verantwortung und Zukunft“. Um ihre gesamtgesellschaftliche Mitverantwortung auch an diesem Punkt deutlich zu machen, hat die EKD hat dort im Herbst 2000 einen Betrag von zehn Millionen Mark zugezahlt. Er wurde anteilig von den Gliedkirchen der EKD und deren Diakonischen Werken aufgebracht.

Die Besuche in Deutschland

Seit 1992 kommen auf Einladung der evangelischen Kirche und in Zusammenarbeit mit der weißrussischen Stiftungsorganisation Gruppen ehemaliger Zwangsarbeiter nach Hessen.
Insgesamt waren es bislang circa 120 Personen. Die Gastgeber organisieren Fahrten zu den ehemaligen Einsatzorten und arrangieren Treffen mit damaligen Bekannten, sowie deren Nachfahren oder heutigen Verantwortlichen der damaligen Betriebe.

Die Apotheken in Weißrussland

Die EKHN fördert in Weißrussland drei Apotheken für Opfer des NS-Regimes. Sie sind in Brest, Witebsk und Minsk und damit im Land verteilt. Die EKHN bezahlt das Personal. Die Medikamente - ein Basissortiment von 50 wichtigen Arzneien – finanzieren Pharmaunternehmen und Privatpersonen mit Geld- und Sachspenden. Besonders Merck Darmstadt ist hier engagiert.

Persönliche Reaktionen der Auftraggeber:

Pfarrer Dr. Wolfgang Gern, Vorstandsvorsitzender des DWHN:

„Das Erkennen und Bekennen dessen, dass auch die Diakonie in das Unrechtssystem der Zwangsarbeit verstrickt war, ist ein wichtiger Schritt auf dem Weg, Verantwortung zu übernehmen. „Die historische Forschung beobachtet eine Einbindung der Diakonie und der Inneren Mission in die staatlichen Pläne, die in den meisten Fällen widerspruchslos blieb. Das lässt uns wachsam sein gegenüber jeder Unfreiheit, die unseren diakonischen Auftrag verletzt oder relativiert.“

Diakonie-Landespfarrer Martin Slenczka (DWKW)

"Als Christen können wir nur bekennen, dass die Diakonie sich in das System der NS-Zwangsarbeit einbinden ließ. Ob die Verantwortlichen damals aus Überzeugung oder aus ökonomischem Zwang gehandelt haben, lässt sich heute kaum noch belegen. Sicher haben sie das Wohl der Menschen in ihren Einrichtungen und die Einrichtungen selbst im Auge gehabt, die auch unter Kriegsbedingungen ihre sozialen Aufgaben weiter erfüllen sollten."

Bischof Dr. Martin Hein (EKKW):

„Mit der Vorlage der Studie ‚Zwangsarbeit im Bereich von Evangelischer Kirche und Diakonie in Hessen‘ stellen sich Kirche und Diakonie ihrer Verantwortung, Facetten ihrer Geschichte durchleuchten zu lassen. Das Ergebnis ist mit Blick auf die methodische Solidität der Arbeit beeindruckend und, was die zu Tage gebrachten Erkenntnisse anbelangt, bedrückend zugleich. Die Evangelische Kirche von Kurhessen-Waldeck fühlt gegenüber den in ihren Einrichtungen beschäftigten Zwangsarbeitern Schuld und Verpflichtung. Sie ist dankbar für Begegnung mit den Betroffenen. Sie sieht es als ihre Aufgabe an, auch hier den Weg der Versöhnung zu beschreiten.“

Darmstadt/Frankfurt/Kassel, 19. Januar 2004

gez: Stephan Krebs
Pressesprecher EKHN

Karl Waldeck
Pressesprecher EKKW

Kathleen Niepmann
Pressesprecherin DWHN

Claus Dieter Suss
Öffentlichkeitsreferent DWKW