Der Sozialstaat ist nicht am Ende

Diskussion über Agenda 2010, Altersvorsorge und Ein-Euro-Jobs

Evangelische Kirche von Westfalen

Als Aufforderung zum Äpfelpflücken, obwohl keine am Baum hängen, beschrieb Präses Alfred Buß die augenblicklichen Bemühungen in der deutschen Arbeitsmarktpolitik. Seine Überlegungen zur Zukunft des deutschen Sozialmodells erläuterte der leitende Theologe der Evangelischen Kirche von Westfalen in einer Podiumsdiskussion am Samstag (23.4.) in Recklinghausen. Das Forschungsinstitut Arbeit Bildung Partizipation (FIAB) der Uni Bochum hatte dazu Spitzenvertreter von Parteien, Gewerkschaft, Arbeitgebern und evangelischer Kirche eingeladen.

Den Sozialstaat durch Umbau zu erhalten – dieses Ziel befürwortet Alfred Buß ausdrücklich. Aber die Schwachpunkte seien deutlich, etwa die immer stärkere Individualisierung der Lösungen. Die Begründung der Massenarbeitslosigkeit zeige: „Strukturbrüche werden so dargestellt, als seien sie durch individuelles und persönliches Fehlverhalten verursacht.“ Auf diese Weise werden die Krisen „zunehmend der eigenen Initiative überlassen.“

Buß: Angst konsumiert nicht

Damit seien viele Menschen überfordert und reagierten mit Angst. Und „Angst konsumiert nicht“, das signalisiere die Nachfrage auf dem Binnenmarkt, so Alfred Buß. Er wandte sich gegen die Haltung, den Sozialstaat nur als Kostenfaktor zu betrachten: „Um den Marktplatz herum stehen schon immer Rathaus, Kirche und Wohnhäuser.“ Ohne diese Umgebung könnte der Markt nicht existieren. Die sozialstaatlichen Rahmenbedingungen würden nicht nur Geld kosten, sondern sozialen Frieden schaffen und seien damit auch ökonomisch ein Gewinn.

Bei allen nötigen Änderungen müssten die bisherigen Fundamente bewahrt werden, zum Beispiel der Grundsatz: „Unser Wirtschaftssystem ist um der Menschen und des Lebens Willen da und nicht umgekehrt.“ Auch führe die Frage der sozialen Gerechtigkeit über eine reine Verteilungsgerechtigkeit hinaus. Es gehe um Beteiligungsgerechtigkeit als Voraussetzung für  Befähigungsgerechtigkeit: Auch Schwache hätten das Recht, sich zu bilden. „Deshalb darf bei der Absicherung für große Lebensrisiken das Prinzip der Solidarität nicht verlassen werden.“

Schartau: Höchstmaß an beruflicher Flexibilität nötig

Harald Schartau, Minister für Wirtschaft und Arbeit des Landes NRW, wies auf Entwicklungen hin, welche die regelmäßige Überprüfung des Bürgerbeitrags zur Sicherung des Staates notwendig machten. Da sei zum einen die Europäisierung auch der Sozialsysteme, die einen Abgleich und gemeinsame Standards erfordere. Zum anderen: Das zunehmende Lebensalter der Menschen fordere Alternativen zu den bisherigen Biografiemodellen. Eine lebenslange Kontinuität im Arbeitsleben werde es nicht mehr geben, junge Menschen müssten ein Höchstmaß an beruflicher Flexibilität mitbringen. Auch für Schartau steht nicht das Ob des Sozialstaates zur Diskussion, sondern das Wie.

Franziska Wiethold vom Bundesvorstand der Gewerkschaft ver.di beschrieb die Angst in den Betrieben. Gut gemeinte Reformen wie die stärkere Beteiligung des Einzelnen an seiner Altervorsorge seien spätestens dann Makulatur, wenn die Betroffenen keinen finanziellen Spielraum mehr dafür hätten. Sie befürchtet eine zunehmende Altersarmut. Deshalb müssten die staatlichen Sicherungssysteme bleiben. Peter Clever von der Bundesvereinigung der deutschen Arbeitgeberverbände (BDA) hält das bisherige Sozialsystem in „Schönwetterperioden“ für geeignet – die sozialen Leistungen des Staates müssten mit der Wirtschaftskraft im Einklang stehen.

Keine sozialversicherungspflichtigen Arbeitsplätze gefährden

Die Podiumsgäste gingen auch auf die Praxis der Ein-Euro-Jobs ein. Karl-Josef Laumann, Mitglied des Bundestages und stellvertretender Bundesvorsitzender der CDU-Sozialausschüsse, hält diese Jobs solange für gut, solange sie nicht zu einem Verdrängungsinstrument auf dem Arbeitsmarkt werden.

Für Präses Alfred Buß kommt es bei der Ein-Euro-Job-Initiative darauf an, „dass gesellschaftlich sinnvolle Arbeitsbereiche erschlossen werden und diese Tätigkeit keine sozialversicherungspflichtigen Arbeitsplätze gefährdet.“ Außerdem müsse die Freiwilligkeit bei Übernahme der Jobs erhalten bleiben.

Bielefeld, 25. April 2005

Andreas Duderstedt
Pressesprecher