Zum 20. Jahrestag des Reaktorunfalls von Tschernobyl nimmt EKHN-Kirchenleitung zur Energiepolitik Stellung

Revolution in der Energieeffizienz statt längerer Laufzeiten für Atomkraftwerke

Evangelische Kirche in Hessen und Nassau

07. April 2006

15 Jahre Erholung für Kinder aus Tschernobyl in der EKHN

Anlässlich des 20. Jahrestags des Atomreaktorunfalls von Tschernobyl am 26. April 2006 und angesichts der aktuellen Debatte um die Energiepolitik der Zukunft hat die Kirchenleitung der Evangelischen Kirche in Hessen und Nassau (EKHN) am Freitag eine Stellungnahme veröffentlicht. In dem 34-seitigen Heft, dessen Wortlaut im Internet unter www.ekhn.de zu finden ist, plädiert die Kirchenleitung dafür, die aus Altersgründen bis 2020 erforderliche Ersetzung der Hälfte der heutigen Stromerzeugungskapazität als Chance „für eine nachhaltige Energieversorgung zu nutzen und eine Energieeffizienzrevolution einzuleiten.“ Bei der Atomkraft stünde kurzfristiger ökonomischer Nutzen und langfristiger Zeit- und Verantwortungshorizont in keinem angemessenen Verhältnis.

Die Stellungnahme argumentiert theologisch, ökologisch, ökonomisch und gesellschaftspolitisch. Demnach besteht jenseits der Atomkraft „eine realistische, wissenschaftlich begründete Möglichkeit, dass energiepolitische Ziele wie eine wirtschaftliche, wachstumsfreundliche Energieversorgung und eine deutliche Verminderung des CO2-Ausstoßes mit anderen Mitteln erreicht werden können“. Diese nachhaltigen Alternativen würden in den Medien und in der politischen Diskussion zu wenig beachtet, beklagt die Kirchenleitung.

Der Mensch in der Schöpfung

Nach Ansicht der Kirchenleitung übersteigt ein verantwortungsvoller Umgang mit strahlenden Materialien über Jahrzehntausende den Horizont menschlicher Verantwortungsfähigkeit bei weitem. Aufgrund der „jede Vorstellungskraft sprengenden Halbwertzeiten atomarer Reststoffe“ müsse der hier erzeugte radioaktive Müll für mindestens 250.000 Jahre sicher deponiert werden. Das seien 10.000 Generationen. Als Vergleich verweist die EKHN darauf, dass Jesus Christus vor 80 Generationen gelebt habe und vor ca. 4.000 Generationen die Neandertaler.

Angesichts der Fehlbarkeit des Menschen müssten die Folgen der von ihm angewandten Techniken und ihrer Fehler prinzipiell begrenzbar bleiben. Die Nutzung der Atomenergie sei aber „als technisches Megasystem nicht ausreichend fehlerfreundlich“.

Gemäß christlicher Umweltethik könne der Mensch die Natur nicht nur als Verfügungsmasse sehen, sondern habe den Auftrag eines „hegenden und pflegenden Umgangs mit der Schöpfung und den Mitgeschöpfen“. In den biblischen Texten spiele der Gesichtspunkt der Fürsorge – auch für die Zukunft - eine dominante Rolle.

Wachstum der Zukunft

Die EKHN bemängelt, dass das gegenwärtige Wirtschaftssystem nur auf rein quantitatives Wachstum abgestellt sei. Es berücksichtige weder die dabei verursachten Schäden und Folgekosten für Menschen und Umwelt noch die damit erreichte Lebensqualität. Nötig sei aber eine „neue Bewertung von Gütern und Dienstleistungen, die den tatsächlichen Ressourcenverbrauch sowie dessen langfristige Kosten in vollem Umfang einbezieht“.

Wörtlich kritisiert die EKHN die Atomtechnologie: „Die langfristige Nutzung oder gar der Ausbau dieser Technik wirkt als `süßes Gift´, das die Abhängigkeit des `Süchtigen´ vertieft, aber die Möglichkeit echter Lösungen gerade versperrt.“ Die Atomkraft gaukele die Option vor, man könne den gegenwärtigen Entwicklungspfad einfach unverändert fortsetzen. Das führe aber „technologiepolitisch und lebenspraktisch in die Sackgasse“ Sie binde Mittel für Forschung und Entwicklung, die dringend für eine „Energieeffizienzrevolution“ und die weitere Entwicklung und den Ausbau erneuerbarer Energien gebraucht würden.

Neben strukturellen Veränderungen fordert die EKHN auch Veränderungen in individuellen Verhaltensweisen ein. Dies schließe für die wohlhabenderen Bevölkerungsgruppen auch den Verzicht auf materielle Güter ein. Das müsse aber nicht die Lebensqualität mindern.

Energie und Klimaproblem

Die Stellungnahme der EKHN zweifelt die These an, dass die Atomenergie das mit Brennstoffen verbundene Klimaproblem lösen könne. Bei dieser Betrachtung werde meistens jenes CO2 nicht berücksichtigt, das beim Betrieb von Uranerzminen und Urananreicherungsanlagen, beim Transport von Atommüll und auch beim Bau und Abriss von Atomkraftwerken benötigt werde. Beziehe man die gesamte Prozesskette ein, schnitten selbst gasbetriebene Blockheizkraftwerke bei den CO2 Emissionen besser ab.

Kosten und Risiken

Bei der Kostenkalkulation der Atomenergie würden die vom Staat gezahlten Subventionen und Fördergelder für Forschung und Entwicklung unterschlagen. Die EKHN rechnet vor: „Bis 1974 zahlten die OECD-Regierungen (nach heutigen Preisen) über 150 Milliarden Dollar  für die Förderung von Atomenergie, für erneuerbare Energien im gleichen Zeitraum praktisch nichts. Zwischen 1974 und 1992 flossen nochmals 168 Mrd. Dollar in die Förderung der Atomenergie, für die erneuerbaren Energien wurden 22 Milliarden zur Verfügung gestellt. Dabei sind Zahlungen der EU und die bis heute geheimen französischen Zahlen noch nicht erfasst.“

Auch die Risiken der Atomenergie würden bisher “systematisch unterbewertet“. Die möglichen Kosten in Deutschland bei einem atomaren Supergau lägen nach den Berechnungen des Prognos-Institutes bei 5,49 Billionen Euro,  versichert seien die Atomkraftwerke aber nur mit 2,5 Milliarden Euro. Für das ohnehin kaum zu kalkulierende und zu quantifizierende „Restrisiko“ habe der Staat die Haftung übernommen. Der Sicherheitsaufwand, der wegen der besonderen Gefahren betrieben werden muss, die im Fall von Krieg und terroristischen Anschlägen von Atomkraftwerken ausgehen, verursacht weitere Kosten und gefährdet den Rechtsstaat.

Der Uranabbau habe auch in Deutschland  große Mengen verseuchten Erdreiches hinterlassen. Die Sanierung der Uran-Abbaugebiete in der ehemaligen DDR im Erzgebirge habe Milliarden Euro gekostet und verursache weiterhin hohe Kosten. Hinzu kämen jene für den Transport von Atommüll und die Endlagerung über Hunderttausende von Jahren.

Mögliche Alternativen und deren Kosten

Als „wirtschaftlich und ökologisch vertretbare Alternativen“ verweist die EKHN neben Energieeinsparung insbesondere auf Wind- und Solarenergie, Wasserkraft, Biomasse und Geothermie sowie zahlreiche weitere Möglichkeiten. Engmaschig vernetzte und auf den jeweiligen Bedarf flexibel reagierende Energie-Systeme könnten bald eine Vollversorgung sicherstellen. Der Aufbau sei keine Zukunftsutopie, sondern auf Basis heutiger Technik zu realisieren. Angesichts steigender Preise für fossile Energieträger und stabiler Preise für erneuerbare Energien erinnert die EKHN: „Bis 2020 muss die Hälfte der heutigen Stromerzeugungskapazität aus Altersgründen ersetzt werden. Dies bietet die Chance, die anstehenden Investitionsentscheidungen für eine nachhaltige Energieversorgung zu nutzen.“ Sie warnt: „Durch weitere massive Investitionen in konventionelle Technologien würde das Fortbestehen der heutigen Struktur der Energieversorgung und damit die Abhängigkeit von fossilen Energieträgern für die nächsten Jahrzehnte festgeschrieben. Eine solche Strategie wäre schon deshalb unwirtschaftlich, weil die Investitionen in erneuerbare Energien dadurch nicht hinfällig würden (Ressourcenerschöpfung), sondern nur hinausgeschoben.“

Tschernobyl – Folgen bis heute nicht absehbar

Die Stellungnahme kommt zu dem Ergebnis: „Die Katastrophe von Tschernobyl steht für die Erkenntnis, dass auch die zivile Nutzung der Atomenergie nicht beherrschbar ist.“ Dabei kritisiert sie die „schlechte Informationspolitik der weißrussischen Regierung“, die eine gesicherte Datenbasis über die Folgen des Reaktorunfalls in Tschernobyl unmöglich mache. Bis heute bestehe „die politische Tendenz, die Folgen der Reaktorkatastrophe zu vertuschen, zu verdrängen und zu verharmlosen.“

Die EKHN erinnert an das Schicksal der Menschen in der Region. Offenbar seien durch den Reaktorunfall etwa 5 Millionen Menschen sehr unterschiedlich stark verstrahlt. Dazu zählten 600.000 bis 800.000 Aufräumarbeiter (so genannte Liquidatoren), zumeist junge Soldaten und  zwangsrekrutierte Männer. Sie müssten laut IAEO mit schweren Erkrankungen, Invalidität, deutlich verkürzter Lebenserwartung und Krebsepidemien in den kommenden Jahrzehnten rechnen. Außerdem sei die Anzahl der Fehl- und Frühgeburten sowie strahlentypischer Fehlbildungen bei Säuglingen in der Tschernobyl-Region stark gestiegen.

Die Angaben über die zwangsevakuierten Personen schwanken zwischen 100.000 und 500.000 Menschen. Sie hätten durch die Verstrahlung ihren gesamten Besitz, ihren Arbeitsplatz und ihre Heimat verloren. Die wirtschaftlichen Kosten des Reaktor-Unfalls würden in den Dimensionen von mehreren hundert Milliarden Euro geschätzt. In den betroffenen Gebieten herrsche zudem ein Investitionsstopp, was zur starken Steigerung der Arbeitslosigkeit und sozialen Verwerfungen beitrüge.

Die EKHN steht seit Jahren in schwierigen Verhandlungen mit weißrussischen Behörden, die immer wieder die Ausreise von Kindern aus der Tschernobyl-Region zu Erholungsaufenthalten in der EKHN behindern. In jedem Jahr kommen 12-15 Gruppen und Schulklassen mit 350-500 Tschernobyl-Kindern auf Einladung von Initiativgruppen und Gemeinden in die EKHN. Insgesamt unterstützt die EKHN 34 soziale und bürgerrechtliche Hilfsprojekte in Weißrussland, mehr als jede andere Landeskirche in Deutschland.

Darmstadt, 7. April 2006

Stephan Krebs
Pressesprecher