Kirche trägt Mitverantwortung und Mitschuld

Steinacker: „Auschwitz-Gedenken ist Blick in den tiefsten Abgrund des Menschseins“

Evangelische Kirche in Hessen und Nassau

26. Januar 2005

„Mit der Befreiung der Häftlinge im Konzentrationslager Auschwitz vor 60 Jahren war das Morden und Sterben nicht beendet.“ Darauf hat der Kirchenpräsident der Evangelischen Kirche in Hessen und Nassau (EKHN), Dr. Peter Steinacker zum Gedenktag am 27. Januar hingewiesen. „Noch mehr als weitere drei Monate haben unbelehrbare Nazis ihre Opfer durch tagelange Todesmärsche nach Westen gequält und getötet. Noch bis zur letzten Sekunde und im Angesicht der totalen Niederlage wurden Häftlinge ermordet. Dieser alles verachtende Hass und diese vollkommene Unbelehrbarkeit eröffnet einen Blick in den tiefsten Abgrund des Menschseins. Er muss den Menschen in Deutschland und auf der ganzen Welt ein immerwährender Ansporn sein, allen Formen von Antisemitismus und Diskriminierung zu widerstehen und für die Bewahrung der Menschenwürde einzustehen“.

Steinacker: Fester Platz für Erinnerung in Deutschland

Steinacker lobte, dass die Erinnerung an die Gräueltaten in der Nazizeit und die Auseinandersetzung mit der Schuld in der deutschen Gesellschaft einen festen Platz gefunden habe. Deutschland habe Lehren daraus gezogen, die sowohl die Gesellschaft im Innern als auch ihre außenpolitische Wahrnehmung positiv präge. Allerdings sei dies immer gefährdet und müsse mit jeder Generation neu eingeübt werden, wie jüngst die Ereignisse im Sächsischen Landtag, aber auch an andern Orten zeigten.

„Christen wissen um die Abgründe des Menschen und um die Liebe Gottes“

Nach Auffassung Steinackers trage die Kirche eine Mitverantwortung dafür, dass das Erinnern, die Auseinandersetzung mit der Schuld und eine entsprechende ethische Grundorientierung in Deutschland erhalten blieben. Die Gemeinden rief Steinacker dazu auf, in Gottesdiensten der Opfer gedenken, die oft namen- und grablos verschwunden seien. Gerade Christen wüssten um die Abgründe des Menschen und um die Liebe Gottes. Sie könnten in der Gesellschaft vorbildhaft den Umgang mit Schuld einüben. Eine besondere Chance hätten dabei Pfarrerinnen und Pfarrer, sowie Religionslehrerinnen und –lehrer, im Unterricht das Gewissen der Jugendlichen für jede Art von Diskriminierung und Rassismus zu schärfen.

Kirchen verschlossen Augen vor Massenmorden / EKHN zog Konsequenzen

Steinacker wies darauf hin, dass die Kirchen auch eigene Schuld zu bekennen hatten. Dies hätte die Evangelische Kirche in Deutschland im Oktober 1945 mit der Stuttgarter Schulderklärung getan und im August 1947 mit dem Darmstädter Wort speziell im Hinblick auf den Holocaust bekräftigt. Insbesondere die Evangelischen Kirchen hätten nur zu einem kleinen Teil dem Nationalsozialismus Widerstand geleistet, und selbst dieser habe die Augen und Ohren vor dem Holocaust und der Ermordung von Sinti und Roma sowie von politisch Missliebigen und Behinderten weitgehend verschlossen.

Die EKHN habe daraus ihre Konsequenzen gezogen. Nach langer Debatte habe die Kirchensynode 1992 beschlossen, ihren Grundartikel um einen Satz zu erweitern: „Aus Blindheit und Schuld zur Umkehr gerufen, bezeugt sie (die Kirche) neu die bleibende Erwählung der Juden und Gottes Bund mit ihnen. Das Bekenntnis zu Jesus Christus schließt dieses Zeugnis ein.“ Damit habe die EKHN grundsätzlich festgeschrieben, dass Antisemitismus und evangelischer Glaube unvereinbar seien, so äußerte Steinacker.

Die EKHN fördere, zum Beispiel in den Gesellschaften für christlich-jüdische Zusammenarbeit, Begegnungen mit Zeitzeugen und entsprechende Studienaufenthalte. Außerdem lade sie in jedem Jahr ehemalige Zwangsarbeiterinnen und –arbeiter ein.

Darmstadt, 26. Januar 2005

Stephan Krebs
Pressesprecher