Morgenröte der Demokratie oder Triumph der Pornographie?

Ev. Hochschuldialog über den Menschen im Netz

Evangelische Landeskirche in Baden

21. November 2003

Die rasante Entwicklung der Kommunikationstechnologien hat unsere Wirklichkeit binnen weniger Jahre verändert. Internet, Handy und Email sind zum Alltag geworden und lassen ahnen, welche Möglichkeiten der globalen Kommunikation in Zukunft noch auf uns zukommen werden. Bereits heute ist davon die Rede, dass in zwei Generationen Menschen wie selbstverständlich kleine Anschlüsse am Kopf haben werden, über die Informationen ausgetauscht werden können. Herausforderungen der Kommunikationstechnologien für Technik, Recht und Gesellschaft waren gestern an der Universität Karlsruhe Thema des Symposiums „Der Mensch im Netz“ in der Reihe „Evangelische Hochschuldialoge“.

Peter Graf Kielmannsegg, Professor für Politische Wissenschaft (Universität Mannheim) und Präsident der Heidelberger Akademie der Wissenschaften, vertrat die Auffassung, dass sich der technische Fortschritt auf Individuum und Gesellschaft fast immer ambivalent auswirkt: „Hohe Erwartungen und erhebliche Befürchtungen gehören zusammen.“ Eine der großen Hoffnungen sei es, mittels Vernetzung vor einer „Morgenröte der Demokratie“ zu stehen. Besser und mehr informierte Bürger, mehr Gespräche zwischen Repräsentanten und Bürgern sollen dann die Demokratie fördern. Auf der anderen Seite kann, so Kielmannsegg, die Vernetzung auch zur Spaltung der Gesellschaft beitragen: statt mehr Möglichkeiten der Beteiligung entstehe soziale Ungleichheit und ein neuer technisch bedingter Analphabetismus. Kielmannsegg warnte vor übertriebenen Hoffnungen: das Internet werde zurzeit nur wenig im Sinne demokratischer Fortentwicklung genutzt, sondern sei eher als „Triumph der Pornographie über die Politik“ zu betrachten.

Die Notwendigkeit, technische Neuentwicklungen zu regeln, bevor sie Wirklichkeit werden, unterstrich Wolfgang Hoffmann-Riem, Richter am Bundesverfassungsgericht Karlsruhe. Das Recht habe die Aufgabe, möglichen Risiken vorzubeugen. Bei technischen Innovationen sei von Staats wegen dafür zu sorgen, dass es zu einem Interessenausgleich im Sinne der Schwachen aber zugleich im Blick auf eine Innovationsverantwortung kommt. Hoffmann-Riem bezeichnete es als Problem der globalen Vernetzung, dass es keine globale Demokratie gebe. Es habe sich noch kein Prinzip entwickelt, das Weltrecht über bloße Interessen hinaus zu sichern.

Werner Wiesbeck, Professor für Höchstfrequenztechnik und Elektronik (Universität Karlsruhe) wies darauf hin, dass mit der weltweit flächendeckenden Kommunikation die Hoffnung verbunden sei, zur Erleichterung und Verbesserung des Lebens beizutragen. Die Vorteile der globalen Vernetzung könnten aber auch von Terroristen für deren Zwecke missbraucht werden. Auch sei es heute noch nicht ausgemacht, ob die Einführung von Kommunikationsnetzen in Ländern wie China zu mehr Überwachung oder zu mehr Freiheit der Bürger führe. Das Unwohlsein in Sachen Technik hat aus dem Blickwinkel von Martina Zitterbart, Professorin für Informatik (Universität Karlsruhe) damit zu tun, dass Techniken heute sofort in Nutzungen umgesetzt werden. Zu häufig werde dabei übersehen, dass die Nutzer von Techniken keine Techniker sind. Mehr als bisher sollte auf anwenderfreundliche Schnittstellen geachtet werden.

Auf der gemeinsamen Veranstaltung von Evangelischer Studierendengemeinde, Evangelischer Akademikerschaft und Akademie Baden wurde deutlich, dass weder Technikpessimismus noch Technikverklärung angebracht sind. Akademiedirektor Klaus Nagorni (Karlsruhe) sagte abschließend, dass die Internetgesellschaft in ihren fundamentalen Fragen einen Konsens brauche, um sie im Sinne des Gemeinwohls steuern zu können. Volker Krebs, Prorektor der Universität Karlsruhe, dankte für die Denkanstösse des Symposiums, das unter der Schirmherrschaft von Landesbischof Ulrich Fischer stand. Es sei gut, dass sich die Evangelische Kirche in Fragen der Gestaltung unserer Zukunft zu Wort melde.

Karlsruhe, 21. November 2003

Ralf Stieber