Bericht von Bischof Dr. Wolfgang Huber

Tagung der Landessynode vom 12. bis 15. November 2003

Evangelische Kirche in Berlin-Brandenburg

12. November 2003

I.

„Christus spricht: Ich bin die Tür zu den Schafen; wenn jemand durch mich hineingeht, wird er selig werden und wird ein- und ausgehen und Weide finden“ (Johannes 10, 7.9). Dieses Losungswort hat uns am 6. Oktober begleitet, an dem wir uns an Gottfried Forcks 80. Geburtstag erinnerten. Das dankbare Gedenken an ihn, den verstorbenen brüderlichen Bischof unserer Kirche, will ich an den Anfang meines heutigen Berichts stellen.

Das geschieht auch deshalb, weil Gottfried Forck wieder und wieder an die biblischen Grundlagen unseres Kircheseins erinnert hat. Als Kirche leben wir aus dem biblischen Wort. Die Orientierung an diesem Wort ist unserer Kirche in entscheidender Zeit neu bewusst geworden. In der Zeit des Kirchenkampfs zu Beginn der nationalsozialistischen Herrschaft formulierte die Barmer Theologische Erklärung von 1934 in ihrer ersten These klar und unzweideutig: „Jesus Christus, wie er uns in der Heiligen Schrift bezeugt wird, ist das eine Wort Gottes, das wir zu hören, dem wir im Leben und im Sterben zu vertrauen und zu gehorchen haben.“ Dieser Bekenntnisaussage ist das Bildwort von Christus als der Tür vorangestellt, dem wir aus Anlass des 80. Geburtstags von Gottfried Forck neu begegnet sind. Gottfried Forck gehörte zu denen in unserer Kirche, die immer wieder die Orientierung an den klaren Bekenntnisaussagen von Barmen in die Mitte stellten. Wenn wir in diesem Jahr ein „Jahr der Bibel“ begehen, dann sollten wir uns die in Barmen gegebene Begründung für unsere Orientierung am Wort der Bibel immer wieder vor Augen führen: Es geht um Christus als Gottes lebendiges Wort, auf das wir im Leben wie im Sterben vertrauen und an dem wir uns im Leben wie im Sterben ausrichten können. Um dieses Wortes willen sind wir Kirche. Um dieses Wortes willen halten wir uns an die Freiheit, die das Evangelium uns schenkt; das ist eine Freiheit, die mit Beliebigkeit nicht zu verwechseln ist. Vielmehr ist es die Verbindlichkeit der Freiheit, die uns in der evangelischen Kirche mitsamt der Vielfalt ihrer Stimmen verbindet.

Um der biblischen Botschaft willen bemühen wir uns darum, dass die grundlegenden Aufgaben unserer Kirche im Wandel unserer Zeit nicht nur weitergeführt, sondern mit neuer Kraft und Eindeutigkeit wahrgenommen werden: Predigt und Unterricht, Seelsorge und Beratung, Diakonie und das Leben in der Gemeinschaft des Glaubens. Den missionarischen Auftrag, der sich in unserer Gegenwart unausweichlich stellt, verstehen wir nicht als eine Zusatzaufgabe, sondern als eine grundlegende Dimension in allen kirchlichen Handlungsfeldern. In all unserem Handeln wollen wir uns ausrichten auf „alle Völker“, zu denen Christus seine Jüngerinnen und Jünger schickt (Matthäus 28,19). Dass „alle Völker“ nicht nur in der Ferne, sondern auch im eigenen Land zu finden sind, bestimmt die besondere Situation unserer Kirche.

Unsere Lage ist auch durch manche Arten von Anfechtung bestimmt. Immer wieder überkommen mich Zweifel, ob ich persönlich und ob wir als Kirche fröhlich genug dem lebendigen Gott vertrauen und unsere Glaubenszuversicht mit anderen teilen. Dazu sollten wir uns wechselseitig ermutigen. Wir sollten uns aber vor allem von dem ermutigen lassen, der von sich sagt: „Ich bin die Tür.“ Dass er die Tür ist, bestimmt den Geist, aus dem heraus wir eine offene Kirche sind. Das sind wir nämlich nicht deswegen, weil uns alles gleich gültig ist, sondern weil wir Menschen den Zugang zu Christus offen halten und neu öffnen wollen; denn er erschließt den Zugang zum wahren Leben, zu einem Leben in Wahrheit.


II.

Unter diesem Leitgedanken wollen wir heute die Lage unserer Kirche bedenken. Zum letzten Mal haben wir uns am 19. und 20. September zur Synode versammelt. Weniger als zwei Monate liegt das zurück. Die damalige Situation steht uns allen noch lebendig vor Augen. Das Ziel der Bildung einer gemeinsamen Kirche mit der Evangelischen Kirche der schlesischen Oberlausitz wurde verfehlt, weil in deren gemeinsam mit uns tagender Synode die nötige Zweidrittelmehrheit um zwei Stimmen unterschritten wurde.

Ich habe damals in meinem Schlusswort beides zum Ausdruck gebracht: die Enttäuschung über dieses Abstimmungsergebnis und unsere weiterhin offene Hand dafür, dass die weitere Entwicklung in der schlesischen Oberlausitz eine Korrektur dieser Entscheidung erbringt. Die Frage nach der Frist, die für dieses Abwarten gesetzt ist, habe ich kurz darauf mit dem Hinweis darauf beantwortet, dass das von unserer Synode mit der notwendigen Mehrheit beschlossene Gesetz die Bildung der neuen Kirche für den 1. Januar 2004 vorsieht. So lange die nötigen Schritte rechtzeitig vor diesem Datum vollzogen werden, können sie sich noch auf unsere Beschlusslage stützen. Danach ist das nicht mehr möglich.

Deshalb begleiten wir die Tagung der Provinzialsynode der Evangelischen Kirche der schlesischen Oberlausitz, die ebenfalls in dieser Woche stattfindet, aufmerksam und einfühlsam zugleich. Ich hoffe, sie erbringt die Klarheit, zu der es im September nicht gereicht hat. Ob und in welcher Form das geschieht, werden wir abwarten müssen.

Sollte die Evangelische Kirche der schlesischen Oberlausitz unsere Bereitschaft zum Zusammengehen nicht in Anspruch nehmen, wird zu prüfen sein, wie wir mit der neu erarbeiteten Grundordnung umgehen. In meinem Brief an unsere Gemeinden vom 6. Oktober habe ich dazu folgendermaßen Stellung genommen: „Sollte es bei dem ablehnenden Votum bleiben, steht es unserer Kirche frei, die Arbeit an der Grundordnung, die nach der Meinung vieler Beteiligter ihr eigenes Gewicht hatte, für unsere Kirche fruchtbar zu machen. Das würde einen eigenständigen Entscheidungsgang in unserer Synode notwendig machen. Denn die jetzigen Beschlüsse zur neuen Grundordnung waren an das Vorhaben der Bildung einer gemeinsamen Kirche mit Görlitz gebunden. Bis auf weiteres steht also unsere bisherige Grundordnung in Geltung. Alle weiteren Entscheidungen in dieser Frage liegen in der Hand unserer Synode.“ Diese Entscheidungen, so bin ich überzeugt, sollen gegebenenfalls in Ruhe reifen. Zunächst warten wir während dieser Synodentagung mit Spannung darauf, ob wir positive Nachrichten aus der Görlitzer Synode erhalten.

Unsere Bemühungen, zu einem kirchlichen Strukturwandel beizutragen, gehören in einen größeren Zusammenhang. Bemühungen, die landeskirchlichen Strukturen zu verändern, sind im Osten Deutschlands auch an anderen Stellen im Gange. Wichtige Fortschritte wurden im Bereich der gliedkirchlichen Zusammenschlüsse erzielt. Vor allem der Übergang von der EKU zur UEK hat großes Gewicht. Mit diesem Schritt verbindet sich die Hoffnung, dass er zu einer Stärkung der Gemeinschaft aller Gliedkirchen innerhalb der EKD führt. Dies zu ermöglichen, war die Aufgabe eines Ad-hoc-Ausschusses unter dem Vorsitz des ehemaligen badischen Landesbischofs und EKD-Ratsvorsitzenden Klaus Engelhardt, der vor kurzem seinen Abschlussbericht vorgelegt hat. Die Grundidee dieses Berichts heißt: Die EKD nimmt grundsätzlich als die Gemeinschaft aller Gliedkirchen deren Gemeinschaftsaufgaben wahr. Die bestehenden gliedkirchlichen Zusammenschlüsse werden in einem „Verbindungsmodell“ in die EKD eingefügt. Als berlin-brandenburgische Kirche haben wir solche Entwicklungen stets begrüßt und gefördert; denn die Gemeinschaft in der EKD ist uns wichtig. Aber auch im Blick auf diese Strukturüberlegungen wiederhole ich, was ich zum Abschluss unserer letzten Synodaltagung hinsichtlich der Neubildung einer Kirche im östlichen Raum der EKU gesagt habe: „Wir sind weder bereit noch in der Lage, uns unablässig und auf unabsehbare Zeit mit Strukturfragen zu beschäftigen. Die inhaltlichen Herausforderungen, vor denen wir als Kirche stehen, sind dafür viel zu drängend.“


III.

Auch bei dieser Synodentagung bewegt uns alle die Frage, wie es unserem Bruder und Generalsuperintendenten Dr. Rolf Wischnath geht. Seine schwere Erkrankung ist abgeklungen; aber seine Arbeitsfähigkeit ist noch nicht wieder voll hergestellt. Wir hoffen darauf, dass seine Krankschreibung in absehbarer Zeit zu Ende geht und er dann wieder seine theologische und menschliche Kraft in den Dienst der Kirche einbringen kann. Bei den dafür nötigen Überlegungen orientiert er sich selbst an der Einsicht, dass seine gesundheitliche Lage das ungewöhnliche Maß an beruflichem Einsatz, das er in den zurückliegenden Jahren aufgebracht hat, nicht wieder zulässt. Doch die Folgerungen aus dieser Überlegung können nur von ihm selbst und mit ihm gemeinsam gezogen werden. Ich bin mit Bruder Wischnath darüber in einem guten und regelmäßigen Gespräch.

In diesem Zusammenhang taucht immer wieder die Frage auf, die im Blick auf die Vorgänge im Jahr 2002 im Lauf dieses Jahres am häufigsten gestellt wurde. Der Synodale Jürgen Israel hat diese Frage wieder in Erinnerung gerufen: „Warum ist Generalsuperintendent Dr. Wischnath erst nach dem Besuch Dr. Runges beim Bundesamt für Verfassungsschutz über die Erkundungen Dr. Runges informiert worden und nicht schon vorher?“ Zu dieser Frage hat Dr. Jürgen Schmude, der frühere Präses der EKD-Synode, in dem Bericht Stellung genommen, den er unserer Kirchenleitung am 25. April 2003 vorgelegt und erläutert hat. In diesem Bericht heißt es: „Zur Information Dr. Wischnaths erst am 13.09.2002 und nach dem Gespräch beim BfV am 01.08.2002, statt schon gleich nach Anfang Mai 2002, sind unterschiedliche Bewertungen möglich. Selbst die für die Verantwortlichen kritischere Einschätzung vermag aber nicht im Geringsten jene gewichtigen Vorwürfe zu begründen, die gegen sie erhoben worden sind. Die beiden unterschiedlichen Verfahrensweisen, zwischen denen die Amtsträger der EKiBB zu entscheiden hatten, liegen in ihrer Wertigkeit dicht beieinander.“ Bei der Abwägung des möglichen Vorgehens im Mai 2002 hat uns der Gedanke bestimmt, dass wir von einer vagen Information über eine eventuelle Registrierung auch dem Betroffenen gegenüber nur Gebrauch machen könnten, wenn wir über das Faktum wie über das Gewicht dieser Registrierung Näheres wüssten. Erkundungen, die etwa Bruder Wischnath vorenthalten werden sollten, lagen nie in unserer Absicht. Nicht voraussehbar war für uns die lange Zeitdauer, die diese ersten Klärungen entgegen unserer Erwartung erforderten. Persönlich kann ich die Belastungen, die sich aus diesem sehr unglücklichen Zeitablauf ergeben haben, nachvollziehen. Ich würde in einer künftigen Situation aus dieser Erfahrung auch Konsequenzen ziehen; aber ich hoffe vor allem, dass eine vergleichbare Situation sich für alle Beteiligten und für unsere Kirche insgesamt, aber auch für mich persönlich, niemals wiederholt.

Die beiden vorangehenden Absätze habe ich mit Bruder Wischnath besprochen; er hat ihnen ausdrücklich zugestimmt.

 
IV.

In den Zeitraum seit unserer letzten Synode fällt auch die Tagung der Synode der Evangelischen Kirche in Deutschland in Trier. Ich möchte dazu ein persönliches Wort sagen. Ich hatte mich im Sommer dazu bereit erklärt, für die Mitgliedschaft im Rat der EKD zu kandidieren. Im Vorfeld der Synode war ich aber der festen Meinung, dass der Vorsitz im Rat für mich nicht zum Thema würde. Das hat sich durch den Verlauf der Ratswahl in einer Weise geändert, mit der ich nicht gerechnet habe. Diese Wahl hat mich vielmehr überrascht, und zwar vor allem auch in der unausweichlichen Eindeutigkeit, in der die Synode der EKD mir die Aufgabe des Vorsitzes übertragen wollte. Dieser Eindeutigkeit habe ich mich gestellt. Nun aber bin ich sehr froh darüber, so kurz nach diesen Ereignissen wieder hier in unserer Synode und damit zu Hause zu sein. Denn hier, in der Evangelischen Kirche in Berlin-Brandenburg, haben meine Frau und ich Heimat gefunden; hier bleibt auch, falls Sie mich erneut zum Bischof wählen werden, meine Hauptaufgabe. Was ich kann, werde ich tun, um die zusätzliche Arbeit als Ratsvorsitzender so zu gestalten, dass die Hauptaufgabe als Bischof den für sie nötigen Raum behält. Aber mir ist deutlich, dass meine Wahl zum Ratsvorsitzenden der EKD auch mit Belastungen für unsere Kirche verbunden ist. Mich selbst hat auch belastet, dass die Entscheidung in Trier zeitlich vor der anstehenden Bischofswahl in unserer Kirche lag. Deshalb war es sehr wichtig für mich, dass die Vertreterinnen und Vertreter unserer Kirche in Synode und Kirchenkonferenz der EKD mich in meinem Ja zur Wahlentscheidung in Trier bestärkt haben.

Herzlich bedanke ich mich für alle Segenswünsche und für alle Unterstützung, die ich aus unserer Kirche in den letzten Tagen erhalten habe. Das hat mir in dieser überraschenden Situation geholfen und hat mir gut getan.


V.

Hier haben mich auch die Herausforderungen schnell wieder eingeholt, vor denen unsere Kirche steht. Unter ihnen nenne ich heute an erster Stelle die Auseinandersetzung um die Stellung der Theologischen Fakultät an der Humboldt-Universität zu Berlin. Als evangelische Kirche setzen wir auf die Theologie große Stücke. Denn sie ist das entscheidende Instrument für die kritische Selbstprüfung unseres kirchlichen Handelns; an theologischen Fakultäten erhalten künftige Pfarrerinnen und Pfarrer wie Religionslehrerinnen und Religionslehrer ein wichtiges Stück ihrer Ausbildung. Die Kirchen der Reformation treten für die Stellung der Theologie als Wissenschaft ein und bejahen ihre Freiheit. Die Freiheit der Wissenschaft und die Freiheit des Glaubens treffen in theologischen Fakultäten auf besondere Weise zusammen. Das Gespräch der Theologie mit anderen Wissenschaften ist uns wichtig; und wir sind davon überzeugt, dass die Theologie in der Gesamtheit der Wissenschaften einen unverzichtbaren Ort hat.

Das alles muss hier in Erinnerung gerufen werden, weil im Zuge der Sparnotwendigkeiten an der Humboldt-Universität zu Berlin der Plan aufgetaucht ist, die Zahl der Theologieprofessoren um ein Drittel, nämlich von 15 auf 10, zu reduzieren und zugleich den Fakultätsstatus der Evangelischen Theologie aufzuheben. Zu beidem kann unsere Kirche nur ein klares Nein sagen. Die derzeit größte wissenschaftliche Ausbildungsstätte für den Nachwuchs an Pfarrerinnen und Pfarrern kann nicht auf eine solche Weise amputiert werden; ihre wissenschaftlichen Arbeitsmöglichkeiten können nicht auf eine solche Weise in Frage gestellt werden. Die Eigenständigkeit der Fakultät, auf der ihre staatskirchenrechtliche Stellung beruht, kann und darf nicht gegen den Wortlaut bindender Verträge und einvernehmlich getroffener Feststellungen aufgehoben werden. Ich will nur daran erinnern, dass wir bei der Zusammenführung der Kirchlichen Hochschule in Zehlendorf und des Sprachenkonvikts in der Borsigstraße mit der ehemaligen Theologischen Sektion der Humboldt-Universität zu einer gemeinsamen Fakultät von der dauerhaft gesicherten Eigenständigkeit der Fakultät ausgehen durften und ausgehen mussten. Dafür gibt es vertraglich Brief und Siegel. Und dabei muss es bleiben.

Ähnlich deutliche Worte muss ich auch im Blick auf den Religionsunterricht finden. In einem komplizierten Verfahren haben wir Vereinbarungen mit dem Land Brandenburg gefunden, die bei Aufrechterhaltung unterschiedlicher Rechtsauffassungen einen Weg öffnen sollten, der wenigstens schrittweise zu einer Verbesserung der Lage des Religionsunterrichts in Brandenburg führt. Zu diesen Vereinbarungen gehört, dass der Religionsunterricht auf dem Zeugnisformular erscheint, wobei der besondere Status dieses Unterrichts ausdrücklich erwähnt wird. Mit keinem Wort war dabei davon die Rede, dass in Brandenburg zwei verschiedene Zeugnisformulare eingeführt werden sollten, so dass der Hinweis auf den Religionsunterricht überhaupt nur bei den Schülerinnen und Schülern erkennbar ist, die diesen Unterricht besuchen. Ganz im Gegenteil: auch auf diesem Weg soll deutlich sein, dass Religionsunterricht in allen Schularten und auf allen Schulstufen allgemein und für alle Schülerinnen und Schüler zugänglich gemacht werden soll. Dem unterhalb aller Vereinbarungen eingeleiteten Versuch, den Religionsunterricht sozusagen zeugnisformulartechnisch in einen möglichst unbekannten Winkel zu verbannen, kann ich nur mit aller Klarheit widersprechen.

In schwierigen Auseinandersetzungen befinden wir uns in dieser Frage auch noch mit dem Land Berlin. Offene Fragen der Finanzierung des Religionsunterrichts aus den zurückliegenden Jahren sind noch immer ungeklärt. Für den Status des Religionsunterrichts enthält der Entwurf für ein neues Schulgesetz noch keine weiterführenden Lösungen. Vorschläge, die wir dazu gemacht haben, sind politisch noch nicht in der wünschenswerten Weise aufgenommen worden. Dabei kann kein Zweifel daran sein: Eine sachgemäße Regelung der Stellung des Religionsunterrichts in der Schule wird ein entscheidender Beitrag dazu sein, dass die für diesen Unterricht aufgewendeten finanziellen Mittel effektiver und damit kostensparender eingesetzt werden können, als dies gegenwärtig möglich ist. Deshalb ist es nicht nur nahe liegend, sondern eigentlich verpflichtend, gerade heute den Weg zu einer solchen Regelung auch zu beschreiten.


VI.

Diese Synode tagt zwischen dem drittletzten und dem vorletzten Sonntag im Kirchenjahr. Sie tritt in der Zeit der Friedensdekade zusammen, die am vergangenen Sonntag begonnen hat und am Buß- und Bettag endet. Diese Zeit hat eine deutlich andere Prägung als die Adventszeit, die erst noch vor uns liegt. Der Sog kommerzieller Interessen und die Freude an „Weihnachtsmärkten“ drohen diesen Unterschied zu verdrängen. Mir liegt demgegenüber daran, diesen Unterschied wieder deutlich zu akzentuieren und bewusst zu machen. Deshalb habe ich in einer ganzen Reihe von Gesprächen, insbesondere auch mit Vertretern des Einzelhandels, dafür geworben, dem Advent seine eigene Prägung und seine eigene Würde zu lassen. Unter dem Motto „Alles hat seine Zeit – Rettet den Advent“ wollen wir gemeinsam mit dem Erzbistum Berlin und dem Einzelhandelsverband dafür eintreten, die Adventszeit auch im Advent zu feiern. Ziel dieser Aktion ist die Besinnung auf die eigentliche Bedeutung der Adventszeit, die erst nach dem Buß- und Bettag und dem Ewigkeitssonntag beginnt und eine Zeit der Besinnung, der Erwartung und der Vorfreude ist. Wir wollen ein kritisches Bewusstsein wecken und dazu ermutigen, der voradventlichen Vermarktung zu widerstehen und sich die Vorfreude und die Vorbereitung auf das Weihnachtsfest für die Adventszeit zu bewahren. Im Sinn dieser Überlegung haben wir beim Einzelhandel sehr dafür geworben, die adventliche Gestaltung der Geschäfte erst nach dem Ewigkeitssonntag beginnen zu lassen. Mit einem besonderen Gottesdienst in der Kaiser-Wilhelm-Gedächtniskirche am Montag nach dem Ewigkeitssonntag wollen wir in dieser Richtung einen besonderen Akzent setzen. Ich möchte zu vergleichbaren Aktionen, aber auch zu klaren Aussagen zur Bedeutung der Adventszeit ermutigen. Dazu, dass der Advent Advent bleibt, gehört beides: dass wir die Vorfreude auf Weihnachten dort lassen, wohin sie gehört, und dass wir die Vorbereitung auf das Weihnachtsfest nicht ersticken lassen im Klingeln der Kassen. Denn Geschenke, die wir zu Weihnachten vorbereiten, sind Zeichen der Freude, sie sind nicht der Grund der Freude. Der Grund der Freude besteht darin, dass Gott Mensch wird und dass die Zusage seines Friedens uns Menschen erreicht.


VII.

An diese aktuellen Überlegungen will ich abschließend eine grundsätzliche Erwägung zur Lage unserer Kirche anschließen. Sie ist durch Umfragen und empirische Untersuchungen veranlasst, die gerade in der jüngsten Vergangenheit zur Lage der Kirche vorgelegt wurden. Zu ihnen gehört die vierte Kirchenmitgliedschaftsuntersuchung der Evangelischen Kirche in Deutschland, die vor kurzem vorgestellt worden ist. Sie zeigt ein Bild, das man auf den Begriff einer „beunruhigenden Stabilität“ gebracht hat. Seit 1972 führt die EKD solche Kirchenmitgliedschaftsuntersuchungen im Zehnjahresabstand durch. Schon die Auswertung der ersten Untersuchung wurde seinerzeit unter die Überschrift gestellt: „Wie stabil ist die Kirche?“ Die relative Stabilität der Volkskirche war schon damals die Hauptbotschaft. Die Aufwertung der „distanzierten Mitgliedschaft“ zu einem eigenständigen Mitgliedschaftstypus war die wichtigste kirchenpraktische Aussage. Über die drei Jahrzehnte hinweg bleibt das Bild in der Tat relativ konstant. Etwas mehr als ein Drittel der Evangelischen fühlt sich seiner Kirche gefühlsmäßig relativ nahe. Die Zahl der Kirchenmitglieder, die sich ihrer Kirche überhaupt nicht verbunden fühlen, ist im Lauf der Jahrzehnte von zwölf auf sechs Prozent gesunken. Zu einem erheblichen Teil ist diese Gruppe offenbar durch Kirchenaustritte abgeschöpft worden. Aber die zum Kirchenaustritt geneigten Kirchenmitglieder wachsen doch immer wieder nach. Auch in Zukunft muss man damit rechnen, dass zwischen 0,5 und 1 % der Mitglieder pro Jahr aus der Kirche austreten. Stärker geworden aber ist nicht etwa die Gruppe der Hochverbundenen, sondern der Menschen mit mittlerem Verbundenheitsgrad. Deren Mitgliedschaftsmotive sind nach wie vor auf die religiöse Begleitung an den Wendepunkten des Lebens und – in zweiter Linie – an den Höhepunkten des Jahreslaufs gerichtet. Dagegen spielen die Möglichkeiten aktiver Beteiligung in den Mitgliedschaftsmotiven nur eine geringe Rolle. Trotz aller Veränderungen in der kirchlichen Praxis selbst wird die Kirche von ihren Mitgliedern in erster Linie als eine begleitende Kirche wahrgenommen, auf deren Begleitungsfunktion von Fall zu Fall zurückgegriffen wird. Beteiligungskirche ist sie nur für den Kreis der hochverbundenen Mitglieder. Beide Funktionen ergänzen sich ganz offensichtlich. Das Konzept eines generellen Übergangs von der „Versorgungskirche“ zur „Beteiligungskirche“ läuft in der Absolutheit, in der dieser Übergang immer wieder verfochten wurde, ins Leere.

Mit großer Klarheit zeigen sich drei Erwartungen an das Handeln der Kirche, die mit Vorrang ausgestattet werden: Es handelt sich erstens um die Begleitung der Menschen an den Wendepunkten des Lebens; unter den kirchlichen Amtshandlungen findet dabei die Taufe mit weitem Abstand die größte Zustimmung. Es geht sodann um die Zuwendung zu Menschen in persönlichen oder sozialen Notlagen: die Betreuung von Alten, Kranken und Behinderten sowie die Anwaltschaft für Menschen in Not. Und es geht schließlich um einen Raum für das Heilige: Gemeint ist damit die Aufgabe, die christliche Botschaft zu verkündigen, Gottesdienste zu feiern und Raum für Gebet, Stille und Meditation zu bieten. Andere Erwartungen sind in den letzten Jahren zum Teil dramatisch zurückgegangen: Kirchliches Engagement in der Kindererziehung, kulturelle Angebote, die Begleitung in Berufsleben und Arbeitsalltag, kirchliche Beiträge zur Entwicklungshilfe – all das tritt in seiner Bedeutung in den Hintergrund. Solche Formen kirchlichen Handelns, auch ihre Beteiligung an der politischen Debatte mögen um ihrer selbst wichtig sein und ihre Bedeutung auch darin behalten, dass sie die Kontaktflächen zur Gesellschaft verbreitern. Die Kernkompetenz der Kirche wird anderswo gesehen – nämlich in der geistlichen Kommunikation, die die Kirche in den Kasualien, in Seelsorge und gelebter Nächstenliebe sowie in Gottesdienst und Gebet erfüllt.

Besondere Aufmerksamkeit verdienen die Ergebnisse, die sich aus der EKD-Mitgliedschaftsuntersuchung für den Bereich der neuen Bundesländer ergeben. Das Auffälligste: 33 % der Kirchenmitglieder geben an, dass ihre Verbundenheit mit ihrer Kirche früher schwächer gewesen sei. Es gibt ein gestärktes Mitgliedschaftsbewusstsein, das sich im Kern auf eine Glaubensverbundenheit gründet. Stärker als im Westen Deutschlands werden als Merkmale des Evangelischseins nicht nur Taufe und Konfirmation, sondern auch inhaltliche Charakteristika angegeben. Zwar gibt es auch in den östlichen Gliedkirchen Kirchenmitglieder, die für sich selbst jeden Glauben an Gott ablehnen (es handelt sich immerhin um 10 %). Aber der Anteil derjenigen, die in der Kirche sind, weil sie der christlichen Lehre zustimmen und weil der christliche Glaube ihnen persönlich etwas bedeutet, ist im Osten wesentlich höher als im Westen. Ebenso auffällig ist, dass das helfende Handeln deutlich an Stellenwert gewonnen hat.

Es ist bekannt, dass die Zahl der Kirchenaustritte im Osten Deutschlands im letzten Jahrzehnt beachtlich war; im Jahr 1992 lag der Spitzenwert auf 2,5 %. Aber im Jahresdurchschnitt sind 0,3 % in die Kirche aufgenommen worden, insgesamt innerhalb eines Jahrzehnts 140.000 Menschen. 20 % der Taufen waren Spät- oder Erwachsenentaufen. Es lassen sich also zarte Ansatzpunkte für das entdecken, was wir eine Kirche in missionarischer Situation nennen. In der Gesamtstatistik freilich werden sie durch die Auswirkungen der Altersstruktur überlagert. Schon die Altersstruktur der Gesellschaft ist im Osten ungünstiger als im Western. Während aber im Westen Deutschlands die Altersstruktur der Kirche nur unerheblich über der Altersstruktur der Gesellschaft liegt, ist dies im Osten Deutschlands in krasser Form der Fall. Ich nenne dafür nur einen Beleg: Während in der Wohnbevölkerung insgesamt 5 % im Alter von 14 bis 17 Jahren sind, sind das unter den Evangelischen Ost nur 2 %. Bis zum Alter von 40 Jahren sind die Altersjahrgänge in der Evangelischen Kirche im Osten Deutschlands nur deutlich unterdurchschnittlich vertreten, im Alter von 40 bis 60 entsprechen Kirche und Wohnbevölkerung einander; die Jahrgänge über 60 sind in der Kirche deutlich stärker vertreten als in der Wohnbevölkerung insgesamt. Vor den Auswirkungen dieser Situation können wir die Augen nicht verschließen.

Detlef Pollack, Kultur- und Religionssoziologe in Frankfurt/Oder, hat der EKD-Mitgliedschaftsuntersuchung eine beunruhigende Interpretation gegeben. Er hält es für ein Alarmzeichen, dass sich im Verhältnis der Kirchenmitglieder zur Kirche so wenig ändert, obwohl doch auf der einen Seite starke Erosionsprozesse zu beobachten sind und auf der anderen Seite die Kirche selbst darauf mit beachtlichen Veränderungen reagiert. Pollack beobachtet, dass viele Menschen der Kirche gegenüber die selbe Haltung einnehmen wie gegenüber dem Staat. Sie soll ihre Aufgaben erledigen; aber selbst begegnet man ihr mit Vorbehalt und Skepsis.

In einer besonderen Form kann man das übrigens bei den Konfessionslosen in Ostdeutschland beobachten. Von den westdeutschen Konfessionslosen unterscheiden sie sich vor allem mit dem Nachdruck, mit dem sie die christliche Prägung unserer Kultur bejahen und sich überhaupt nicht scheuen, das Christentum als „Leitkultur“ zu bezeichnen. In dieser Hinsicht soll das Christentum auch weiterhin seine Funktion erfüllen; aber eine eigene Beteiligung an dieser Aufgabe oder eine Überprüfung des persönlichen Verhältnisses zum christlichen Glauben erscheint den meisten dafür nicht als erforderlich.

Einen „Königsweg“ für das kirchliche Handeln, so Detlef Pollack, gibt es in dieser Situation nicht. Er selbst plädiert eindeutig für eine Stärkung der Möglichkeiten aktiver Beteiligung in der Kirche. Doch daraus ergibt sich kein Grund dafür, die Motive derer gering zu schätzen, die auf Begleitung durch die Kirche hoffen. Vielmehr gehört es in den Kern des kirchlichen Auftrags, einen Raum der geistlichen Kommunikation zu schaffen und die Erwartungen ernst zu nehmen, die den Kasualien, den Möglichkeiten für Gottesdienst und Gebet sowie der Seelsorge und der gelebten Nächstenliebe entgegengebracht werden. Es liegt an uns allen, dies in einer Form zu tun, die von niemandem als Rückzug von den Kontaktflächen mit der Gesellschaft missdeutet werden kann. Auch ein Ausweichen vor den politischen Herausforderungen der Gegenwart wird gerade unserer Kirche auch dann niemand vorhalten können, wenn wir bewusst die Aufgaben geistlicher Kommunikation ins Zentrum rücken. Wir werden uns gleichwohl auch weiterhin an der Diskussion über die großen Fragen der Zeit – den Umgang mit Anfang und Ende des Lebens, der Zukunft des Sozialstaats, der Verantwortung für Gerechtigkeit, Frieden und die Bewahrung der Schöpfung – beteiligen. Wir werden uns auch weiterhin zu Wort melden, wenn das Aufflammen von Fremdenfeindlichkeit oder Antisemitismus ein deutliches Wort verlangt.

Aus einer Perspektive, die von sehr weit außen kommt, mag man die Lage der Kirche so sehen, wie Arno Widmann sie vor kurzem in der „Berliner Zeitung“ charakterisiert hat. Er hat die Tatsache ausdrücklich begrüßt, dass in einem Jahrzehnt 2,34 Millionen Menschen aus der evangelischen Kirche ausgetreten sind. Das sei ein Ausdruck einer modernen Gesellschaft, die Mitgliedschaften allein über bewusste Entscheidung und Wahl definiert. Freilich übersieht Widmann dabei, dass auch eine Zeitung wie die Berliner Zeitung sich auf ziemlich niedrige Abonnentenzahlen einstellen müsste, wenn nicht die überwiegende Zahl von Menschen mit ihrem Abonnement einer lang dauernden Gewohnheit folgen würden. Den Vorgang, den Arno Widmann anspricht, muss man in meinen Augen freilich anders bewerten als er. Die Menschen brauchen gute eigene Gründe dafür, sich zur Kirche und zum Glauben zu halten. Und es ist gut, wenn auf diesem Weg Menschen aus der Distanz heraustreten und ein Ja zum Glauben und zur Kirche finden. Aber es ist keine Absage an ein modernes Selbstbewusstsein, wenn Menschen für ihr ganzes Leben zu ihrer Taufe stehen und an ihrem Glauben festhalten. Man braucht solche Treue nicht in einem abfälligen Sinn als konventionell zu bezeichnen. Sie zeigt, dass Menschen von früh an für ihr Leben eine klare Richtung und einen festen Halt gefunden haben.

Als unser Altbischof Martin Kruse vor achtzehn Jahren in Trier zu seiner eigenen Überraschung zum Vorsitzenden des Rates der EKD gewählt wurde, hat er unserer evangelischen Kirche eine Doppelfrage mit auf den Weg gegeben: Wie werde ich Christ? Und: Wie bleibe ich Christ? Diese zwei Fragen sind heute so aktuell, wie sie es damals waren. Es ist richtig, dass wir den Menschen heute Antworten auf diese Doppelfrage an die Hand geben müssen. Aber so sehr die Kirche für die Menschen gute Gründe bereitstellen muss, die vor der Frage stehen, warum sie Christ werden oder bleiben sollen, so sehr bleibt es auch ihre Aufgabe, diejenigen zu begleiten, denen ihr Christsein nicht oder noch nicht fraglich geworden ist. Und die einen wie die andern können mit dem Apostel Paulus antworten, dass sie Christ bleiben oder werden, weil sie auf Gottes Ja zu uns Menschen ihr Amen sagen wollen (2.Korinther1,19).

Berlin, 12. November 2003
Pressestelle