Mit dem Sterben leben

Hospizschwester Heike Linder: Fürsorge und Geborgenheit statt großer Therapie

Evangelische Landeskirche in Württemberg

31. Oktober 2005

Mittendrin. Themen aus der Landeskirche

Sehr geehrte Damen und Herren,

bisher hieß die Reihe „Sommerthema“ - die Pressestelle der Evangelischen Landeskirche in Württemberg hat in der Ferienzeit Berichte über Personen, Einrichtungen und Aktivitäten in der Landeskirche in loser Folge veröffentlicht. Unter dem Titel „Mittendrin. Themen aus der Landeskirche“ bieten wir künftig Texte dieser Art das ganze Jahr über an. Sie sind ausführlicher als Pressemitteilungen und wenden sich Themen zu, die die Vielfalt landeskirchlicher Arbeit deutlich machen sollen. Sie können die Berichte gern - auch gekürzt - verwenden. Sollten Sie Fragen haben, wenden Sie sich bitte an die Pressestelle.

Stuttgart, 31. Oktober 2005

Klaus Rieth
Pressesprecher

Mit dem Sterben leben

Hospizschwester Heike Linder: Fürsorge und Geborgenheit statt großer Therapie

Ein strahlender Herbsttag in Stuttgart. Viele Menschen gehen spazieren oder sitzen in Straßencafés. Auch im Hospiz Stuttgart freut sich eine alte Dame über die wärmenden Sonnenstrahlen. Sie sitzt im Wintergarten in einem Liegestuhl, im Käfig neben ihr flattern Wellensittiche von einer Ecke in die andere. „Die erinnern mich an die Zeit, als mein Mann und ich selbst noch Wellensittiche hatten“. Die Dame betrachtet lächelnd die lebhaften Tiere und vergisst dabei ihre Krankheit. Das ist das Ziel des Stuttgarter Hospizkonzeptes: Den Menschen ein Sterben in Geborgenheit zu ermöglichen und ihre körperlichen und seelischen Beschwerden zu lindern.

„Natürlich ist die Erkrankung da, doch soll nicht die Krankheit, sondern der Mensch mit seinem gesamten Umfeld im Zentrum stehen“, nennt die ambulante Hospizschwester Heike Linder das Anliegen der stationären und ambulanten Hospizarbeit. „Es geht nicht mehr um große Therapien, sondern um lindernde Fürsorge.“ Trotzdem oder gerade deshalb spielt die Schmerztherapie eine wesentliche Rolle. Für die Menschen sei es ein großer Wunsch, ohne Schmerzen sterben zu können, weiß die 41-Jährige. Ihre Arbeit als Hospizschwester habe das Ziel, die Wünsche und den Willen der Sterbenden zu erkennen und zu erfüllen. „Der Tagesablauf ist nicht klar strukturiert, sondern wird nach den Bedürfnissen der Gäste gestaltet.“

Linder bezeichnet die Sterbenden ganz bewusst nicht als Patienten, sondern als Gäste, die innerhalb des vom Hospiz geschaffenen Versorgungsnetzes ihre letzte Lebenszeit verbringen. Dieses Netzwerk besteht aus den Betroffenen und ihren Angehörigen, aus Sozial- und Diakoniestationen, Pfarrern, Ärzten, den Stuttgarter Brückenschwestern und dem Hospiz selbst, das u. a. von der Gesamtkirchengemeinde Stuttgart getragen wird. In diesem Verbund fungiere das Hospiz als räumliche und als ideelle Herberge, die den erkrankten Menschen ein Sterben in „größtmöglicher Autonomie“ ermöglicht.

Damit Schwerstkranke auch zuhause sterben können, wurde im Jahr 2002 der Dienst der ambulanten Hospizschwestern ins Leben gerufen. Seitdem stellt Heike Linder sich in den Dienst des selbstbestimmten und menschenwürdigen Sterbens. Schon seit der frühen Kindheit hat sie das Thema Sterben, Tod und Trauer bewegt. „Ich konnte als Kind nicht verstehen, dass nach der Beerdigung meiner Großmutter gefeiert wurde.“ Diese Diskrepanz habe sie seltsam berührt. „Das war der Impuls, mich immer wieder mit diesem Thema auseinanderzusetzen“, blickt Linder zurück. Heute empfinde sie das Feiern nach einer Beerdigung nicht mehr als Widerspruch, sondern als etwas Wichtiges und Schönes. Es sei nicht nur mit Traurigkeit, sondern mit „ganz viel Reichtum“ verbunden, wenn die Leute sich nach einer Beerdigung zusammensetzen und über den Toten und sein Leben sprechen. Für Linder erfüllt der Leichenschmaus mehrere Funktionen: „Dass man sich der verstorbenen Person erinnert, dass sie präsent sein darf und dass die Zurückgebliebenen gestützt werden.“

Nachdem Heike Linder in verschiedenen Bereichen des Pflegedienstes und Arbeitskreisen zum Thema Tod und Sterben tätig gewesen war, stieg sie über das Kontaktstudium „Palliative Care“ in die Hospizarbeit ein. In diesem Ausbildungsjahr am Hospiz Stuttgart setzte sie sich vor allem mit ihren eigenen Ängsten und Befürchtungen auseinander. Nur wer seine Ängste kennt und damit umzugehen lernt, könne seine Stärken einsetzen. „Ich kann nur dann einen Sterbenden begleiten, wenn ich mir über mich selbst bewusst bin“, sagt Linder. Zur Entlastung der Helfer gebe es im Hospiz besondere Rituale. So werde jeder Verstorbene mit einer Feier verabschiedet. Die Mitarbeitenden können regelmäßig Supervisionen in Anspruch nehmen, außerdem gebe es ausführliche Dienstübergaben und Gespräche.

Bei den Sterbenden sind neben den hauptamtlichen auch zahlreiche ehrenamtliche Helfer, „sie leisten einen großen Teil der Hospizarbeit“, betont Linder. In festen Gruppen werden die Ehrenamtlichen am Hospiz geschult. Ihnen werden Wege aufgezeigt, wie eine angemessene Begleitung von sterbenden Menschen aussehen kann. „Als Helfer muss ich erkennen, welche Impulse mir der Sterbende sendet und welche Angebote ich ihm machen kann“, sagt Linder. So sei es wichtig, dass Helfer ihre eigenen Bedürfnisse nicht auf den Sterbenden übertragen. Wenn Sterbende beispielsweise nichts mehr essen oder trinken wollen, sollten die Helfer dies akzeptieren.

Im Hospizwesen entstehe zwischen Betroffenem und Helfer oft ein intensiver Kontakt, den Heike Linder als einen der freudigen Augenblicke im Hospizalltag bezeichnet. „Am Ende eines Lebensweges wird vieles offen gelegt“, weiß Linder aus ihrer Arbeit in vielen Familien. „In dieser Zeit wird im Zwischenmenschlichen nicht alles repariert, aber sehr viel bewegt.“ Dabei sei es für den Hospizhelfer wichtig zu wissen, wie ein Sterbender in gesunden Zeiten gelebt und auf Krisen reagiert hat. Die Lebensweise eines Menschen präge häufig seinen Sterbeprozess: „Menschen mit einem schwierigen und unruhigen Lebensweg vollenden ihr Leben oft auch so. Sie gehen nicht so leicht aus dem Leben.“

Dass das Hospiz nicht nur ein Ort des Sterbens ist - auf diese Feststellung legt Heike Linder großen Wert. Das Hospiz liege mitten in einem Wohngebiet, und getreu dem Hospizmotto „High Touch, Low Tech“ herrsche „viel Leben im Haus“. Auch die alte Dame im Liegestuhl des Wintergartens weiß sich in dieses Hospizleben eingebettet. Die Wege im Hospiz sind kurz - wann immer sie will, trifft sie andere Gäste oder spricht mit Helfern. Nur wenige Meter von ihrem Liegestuhl entfernt redet eine Gruppe am großen Küchentisch über Gott und die Welt. Die alte Dame genießt in diesem Moment jedoch lieber ihren warmen Platz im Wintergarten. Sie verabschiedet den Besucher mit einem gelassenen „Vergelt’s Gott“.