Landesbischof kritisiert wachsende Bereitschaft zur öffentlichen Abwertung bestimmter Personengruppen.

Predigt zur Jahreslosung aus dem 13. Kapitel des Markusevangeliums, Vers 31

Evangelisch-Lutherische Kirche in Bayern

01. Januar 2004

Der bayerische Landesbischof Dr. Johannes Friedrich hat am Neujahrstag die wachsende Bereitschaft zur öffentlichen Abwertung bestimmter Personengruppen scharf kritisiert. Viele Menschen hätten kein schlechtes Gewissen und kein Schuldgefühl, wenn sie beispielsweise Behinderte, Sozialhilfeempfänger oder Ausländer mit pauschalen Gruppenvorurteilen entwürdigten, sagte Friedrich in der Münchner St. Matthäuskirche.

In seiner Predigt über die Jahreslosung für das Jahr 2004, „Himmel und Erde werden vergehen, meine Worte aber werden nicht vergehen“, hob Friedrich hervor, dass all die Gehässigkeiten, Unbarmherzigkeiten und Verletzungen, die Menschen sich gegenseitig durch unbedachte und entwürdigende Worte zufügten, vor Gott keinen Bestand hätten. Gleichwohl müssten Rechthabereien und Gehässigkeiten sowie jede Verletzung an Leib und Seele vergehen, damit Gott im Leben der Menschen mehr Raum gewinne.

Was zähle und Bestand habe, so der Landesbischof, sei allein Gottes beständige Liebe: „Die Worte Gottes werden nicht vergehen. Gottes Zusage gilt: er bleibt bei uns, bis an der Welt Ende. Er ist unser Hirte, sein Stecken und Stab werden uns trösten.“

München, 1. Januar 2004

Andreas Rickerl, Kirchenrat
Stellvertretender Pressesprecher

Wortlaut der Predigt:

Morgenfeier 2004 und Neujahrsgottesdienst zur Jahreslosung: Mk 13,31

Himmel und Erde werden vergehen; meine Worte aber werden nicht vergehen.

Landesbischof Dr. Johannes Friedrich

Stiller geworden ist es im Neuen Jahr, liebe Hörerinnen und Hörer. Nach all dem Lärm, mit dem wir das neue Jahr in der vergangenen Nacht begrüßt haben, ein ruhigerer Morgen. Die leeren Hülsen von Knallkörpern liegen auf der Straße. Der Trubel der Silvesternacht ist vergangen. Das ganze letzte Jahr ist vergangen. Die Höhen und Tiefen, die schönen und die traurigen Momente. Was wir erlebt und erlitten, was wir ersehnt und vergessen haben. Ist alles vergangen? Ich suche nach etwas, das Bestand hat. Das nicht mit der Jahreswende verloren gegangen ist. Freundschaft und Zuneigung etwa, Liebe und Geborgenheit. Bei der Suche nach dem, was bleibt, hilft mir ein biblisches Wort, die Jahreslosung für das noch junge Jahr 2004. Es ist ein Satz aus dem Markus-Evangelium, das uns die nächsten 12 Monate begleiten soll. Im 13. Kapitel sagt Jesus: „Himmel und Erde werden vergehen; meine Worte aber werden nicht vergehen“ (Mk 13,31)

Himmel und Erde werden vergehen. Dieser Satz hat etwas Bedrohliches. Viele Bilder fallen mir dazu ein. Immer noch: Die Bilder der beiden einstürzenden Hochhaustürme in New York, Wolkenkratzer, die in den Himmel ragten und die es jetzt nicht mehr gibt. Schreiende Menschen, verzweifelte Angehörige. Als nächstes sehe ich die Bilder des letzen Irakkrieges. Mit fast schon sarkastischer Zuverlässigkeit haben sie uns im März begleitet. Jeden Abend die gleichen fahlen Fernsehbilder in den Nachrichten. Sie zeigen es nicht wirklich, aber man ahnt die grausamen Schicksale dahinter. Männer, die Ihre Familie im Stich lassen mussten, Kinder, die ihre Väter verloren haben, Mütter, die um ihre Söhne trauern. Bilder, die ahnen lassen, was der Bombenhagel angerichtet hat. Bilder, die mir den Satz sehr nahe bringen: Himmel und Erde werden vergehen.

Diese Bilder vermischen sich mit unzähligen anderen: Menschen auf der Flucht, Menschen, mal von schwarzer, mal von weißer Hautfarbe. Schwarzweiße Bilder, die zurückreichen in die Zeit, als in Deutschland Menschen systematisch und mit Vorsatz ermordet wurden. Bilder, die wieder wach werden, wenn manche nichts aus der Geschichte gelernt zu haben scheinen. Bilder, die sich mir aufdrängen, wenn auch heute noch antisemitische Gedanken öffentlich ausgesprochen werden. Dann die Bilder von den vielen stummen Schicksalen, den leisen Katastrophen, von denen nichts oder wenig in der Zeitung steht. Bilder von Kindern, die misshandelt werden. Bilder von Frauen und Männern, die in katastrophalen Zuständen leben. Bilder von Menschen, die am Rande ihrer Existenz leben müssen. Arme und Kranke, Einsame und Hoffnungslose. Bilder, die von Verfall und Zerstörung geprägt sind. Himmel und Erde werden vergehen.

Es ist wohl kein Zufall, dass jetzt diese Bilder in mir wach werden. Es sind endzeitliche, apokalyptische Bilder. In solchen apokalyptischen Bildern spricht  auch Jesus im Markusevangelium von dem, was in Zukunft geschehen wird. Im 13. Kapitel spricht er von Krieg und von Hungersnöten, von Verfolgung und davon, dass alles ins Wanken geraten wird. Selbst die große Stadt Jerusalem mitsamt dem Himmel und seinen Sternen und Planeten werden zugrunde gehen. Himmel und Erde werden vergehen.

Die Bilder machen Angst. Und sie verbinden sich vielleicht mit einer sorgenvollen Stimmung, die viele von uns in diesen Zeiten umtreibt. Deutschland ist verschuldet, die Sozialsysteme reichen nicht mehr aus. Die Verantwortlichen unserer Gesellschaft ringen um Lösungen, suchen nach tragfähigen Kompromissen. Aber werden wir es schaffen? Wird es im nächsten Jahr wieder aufwärts gehen? Wie wird sich die wirtschaftliche Entwicklung im neuen Jahr gestalten? Wird die Arbeitslosigkeit weiter ansteigen? Mancher von Ihnen mag sich fragen: Werde ich meinen Job verlieren? Oder nach langer Arbeitslosigkeit endlich einen finden?

Vor 12 Monaten hatten wir alle große Angst, dass das „Abenteuer“ der USA im Irak einen noch größeren Krieg entfachen würde. Diese Angst ist uns genommen, auch wenn die Menschen im Irak wohl weiterhin auf Frieden im Land warten müssen.  Aber andere Ängste sind dazu gekommen: Wie ist der weltweite Terror in den Griff zu bekommen? Bleiben wir in Deutschland davon verschont? Wie wird es den Menschen in der Türkei, in Israel und Palästina, im Irak und Iran damit gehen?

Ängste, egal wie groß sie sind: wir sind nicht frei davon. Himmel und Erde werden vergehen. Aber ich will nicht bei dieser Angst stehen bleiben. Ich möchte die Worte Jesu lesen als Worte, die mir etwas zeigen wollen, die etwas aufdecken wollen. Heute, am Neujahrsmorgen, wünsche ich mir Worte, die neue Möglichkeiten zum Leben aufzeigen – nicht solche, die auf Angst und Zerstörung zielen. Also lese ich die Jahreslosung noch mal: Himmel und Erde werden vergehen, meine Worte aber werden nicht vergehen. Vielleicht ist es nicht so beruhigend, zu wissen, dass Himmel und Erde vergehen werden. Beruhigend ist aber, zu wissen, dass Gottes Worte nicht vergehen.  Im Unterschied zu menschlichen Worten. Gut, dass viele, dass alle menschlichen Worte vergehen werden.. Sätze, Worte, Urteile, die uns verletzen, demütigen, mutlos machen. Sätze wie „Aus Dir wird ja eh nichts mehr!“ oder „Dumm geboren und nichts dazugelernt“ können sich tief und schmerzhaft einprägen. Wie gut, dass diese Worte nicht ewig währen. Wie gut, dass all die Gehässigkeiten, die Unbarmherzigkeiten, die Verletzungen, die Menschen sich gegenseitig durch unbedachte und entwürdigende Worte zufügen, vergehen. Sie haben vor Gott keinen Bestand. Erst recht nicht, was manch einer durch Worte den Wehrlosen dieser Gesellschaft im letzten Jahr angetan hat:

Im badischen Rastatt verhöhnte ein Bürgermeister afrikanische Asylbewerber mit dem Rat, sie sollten „tanzen bis sie schwarz werden“.

 Im niedersächsischen Wolfsburg herrschte ein Ratsherr demonstrierende italienische VW-Arbeiter an: „Haut ab, ihr Kanaken!“

Ein Bundestagsabgeordneter aus dem Osthessischen legt anlässlich einer Gedenkrede zur deutschen Vereinigung ein jüdisches „Tätervolk“ nahe.

Diese Beispiele für verbale Aggression konnte man den Zeitungen entnehmen. Vergleichbare Feindseligkeiten gibt es aber auch im Windschatten der öffentlichen Berichterstattung. Sie sind beunruhigende Zeichen einer wachsenden Bereitschaft zur Abwertung von Behinderten, Obdachlosen, Bettlern, Sozialhilfeempfängern, von neu Zugezogenen und, nicht zuletzt, von Frauen.
Die zitierten Äußerungen haben eines gemeinsam: Keiner der Akteure gehört einer extremen Partei oder einer verfassungsfeindlichen Organisation an. Nun könnte man meinen, dies seien Einzelbeispiele. Leider ist dem nicht so. Der Zentralrat der Juden berichtet, dass die Zahl von verunglimpfenden Briefen in den letzten Monaten gestiegen sei und – schlimmer noch – dass diese Briefe nicht mehr anonym, sondern mit voller Absenderangabe bei ihnen einträfen. Viele Menschen bei uns haben also gar kein schlechtes Gewissen und kein Schuldgefühl dabei, wenn sie andere Menschen mit solch pauschalen Gruppenvorurteilen entwürdigen. Gott sei Dank, dass diese Worte allesamt vergehen werden.

Himmel und Erde werden vergehen. Himmel und Erde müssen sogar vergehen, wenn Neues entstehen soll. Jesus spricht seine Prophezeiung kurz vor seinem eigenen Tod. Er weiß, wie Vieles noch vergehen muss, damit eine neue, bessere, friedvollere, gerechtere Welt entstehen kann. Er weiß: Nicht mehr lange, und seine Welt wird in sich zusammen stürzen. Für ihn werden Himmel und Erde vergehen. Menschen und Dinge werden über ihn hereinbrechen, werden ihn herausreißen aus dem ihm gewohnten Kreis der Menschen. Jesus weiß, dass er selbst sterben muss, um dann ein neues Leben beginnen zu können. Was muss in unserem, in meinem Leben alles vergehen, damit das Reich Gottes wirklich kommen kann, frage ich mich. Und ich denke an Rechthabereien und Gehässigkeiten die vergehen müssen, Eitelkeit und Stolz. Jede Form von Selbstgerechtigkeit muss vergehen. Jede Ausgrenzung von anderen Menschen muss vergehen. Jede Verletzung an Leib und Seele muss vergehen. So Vieles und noch viel mehr muss vergehen, damit Gott in unserem Leben mehr Raum gewinnt.

Diese Einsicht tut weh. Denn das heißt, dass wir uns auch von Dingen, von Gewohnheiten und Alltäglichkeiten trennen werden müssen. Das bringt mich zurück an den Neujahrsmorgen. Wie viele beginnen dieses neue Jahr mit der Frage: Was sollte nicht alles anders werden – in meinem Leben, in meinem Herzen, in meinem Denken und Fühlen? Den einen oder anderen begleiten gute Vorsätze in dieses neue Jahr. Gute Vorsätze erzählen davon, dass wir tief in unserem Herzen schon ein Wissen darum haben, was uns, was dieser Welt wirklich gut täte. Sie erzählen aber auch, was nicht gut gewesen ist, was nicht gut tut. Dieser Moment ist schmerzhaft. Auch Jesus trauert im Garten Gethsemane, als er erkennen muss, dass er von so Vielem, was ihm lieb und teuer ist, Abschied nehmen muss. Vater, lass diesen Kelch an mir vorüber gehen! – so hören wir Jesus rufen.

Aber Jesus muss den Kelch trinken, bis an das bittere Ende. Doch er weiß: Es wird Neues entstehen. Himmel und Erde werden vergehen, aber – aber! – die Worte Gottes werden nicht vergehen. Was für ein Trost, was für eine Zukunft: Die Worte Gottes werden nicht vergehen. Auf sie können wir uns verlassen. Gottes Zusage gilt: er bleibt bei uns, bis an der Welt Ende. Er ist unser Hirte, sein Stecken und Stab werden uns trösten. Er schenkt uns voll ein. Entscheidend sind nicht diese oder jene Bilder, die mir voll Schrecken aus dem letzten Jahr vor Augen stehen. Entscheidend ist, nicht, wie es mir persönlich im letzten Jahr ergangen ist. Entscheidend ist nicht, wie oft ich verletzt, gekränkt, ausgegrenzt, beschimpft, verleugnet wurde. Entscheidend ist nicht, wie viele Fehler ich gemacht habe. Und letztlich entscheidend ist nicht, ob ich in Saus und Braus oder in Bescheidenheit gelebt habe. Entscheidend ist nicht was ich oder was andere von mir denken. Einzig und alleine entscheidend sind die Worte, die nicht vergehen. Worte, die Mut und Hoffnung machen. Worte, die mehr sind als Schall und Rauch. Worte wie das des Propheten Jesaja: Fürchte dich nicht, denn ich habe dich erlöst!

Ich als Christ bin dankbar, dass ich mit meinen Ängsten und Sorgen nicht allein bin. Dass ich mich an  jemanden wenden kann, der mich hört, der mich versteht, der mich tröstet. Ob ich zu ihm bete oder in der Bibel lese, meine Ängste werden geringer, wenn ich bei Gott Trost suche. Denn sein Trost hat Bestand. Im Galater-Brief heißt es: „Hier ist nicht Jude noch Grieche, hier ist nicht Sklave noch Freier, hier ist nicht Mann noch Frau; denn ihr seid allesamt einer in Christus Jesus“ (Gal 3,28). Das heißt: Es kommt nicht darauf an, was wir hier auf Erden sind. Was zählt, ist alleine, dass Gott uns liebt. Eine beruhigende Zusage. Gott sei Dank, dass er, dass seine Worte beständiger sind als alles Andere hier auf Erden, beständiger auch als all unsere Ängste. Himmel und Erde werden vergehen, seine Worte aber werden nicht vergehen. Wenn ich mal wieder Angst habe, wenn die Sorgen überhand nehmen wollen, werde ich an diesen Satz  denken. Gottes Liebe wird bestehen bleiben. Sie wird ihre Gültigkeit nicht verlieren, komme, was da wolle im neuen Jahr 2004. Ich bete zu Gott, dass es für uns, dass es für Sie viel Gutes sein möge und dass er Sie mit seinem Segen reichlich beschenkt.

Gottes Wort wird nicht vergehen. Um es zu hören, brauche ich Stille. Die Stille des Neujahrsmorgens eignet sich gut dazu, dieses Hören zu üben. Viel zu oft ist es so laut in unserer Welt, dass wir das Wort Gottes gar nicht mehr hören können. Er ruft es uns zu – aber es dringt nicht bis an unser Ohr. Dazwischen sind die Sorgen des Alltags, der geschäftige Trott, die übermächtige Krankheit, die Trauer um einen geliebten Menschen. All das kann das Hören schwer machen. Es wäre daher ein guter Vorsatz, in diesem kommenden Jahr wieder besser zuhören zu wollen. Auf das, was Andere beschäftigt, auf das, was Gott uns sagen will. Wir könnten das neue Jahr nutzen, wieder etwas Abstand zu bekommen zu dem eingeschliffenen Gang der Dinge und dafür unsere Ohren neu zu spitzen. Es gibt so Vieles, was uns gut täte, zu hören. Denn Gottes Worte werden nicht leer zu ihm zurückkehren. Sie werden nicht ohne Wirkung sein. Wer kann sie mir sagen, von wem kann ich sie hören? Bestimmt nicht nur in einer Predigt, aber auch dort. Vielleicht aber auch im Wort eines Freunde, einer Freundin? Wo auch immer: Gottes Wort zu hören ist wichtig für mich. Ich vertraue darauf, für mich, für uns, für diese Welt. Es sind Worte, die sagen, was wir so bitter nötig haben, was diese Welt so bitter nötig hat: Demut, Trost, Barmherzigkeit, Frieden, und immer wieder: Gerechtigkeit. Lassen Sie uns neu auf das Hören, was Gott uns sagen will. Nutzen wir die Stille des Neujahrsmorgens dazu.

Ich schließe mit den Worten Jesu, die vom wahren Leben erzählen. Sie werden nicht vergehen:

Selig sind, die da geistlich arm sind; denn ihrer ist das Himmelreich.
Selig sind, die da Leid tragen; denn sie sollen getröstet werden.
Selig sind die Sanftmütigen; denn sie werden das Erdreich besitzen.
Selig sind, die da hungert nach und dürstet nach der Gerechtigkeit;
denn sie sollen satt werden.
Selig sind die Barmherzigen; denn sie werden Barmherzigkeit erlangen.
Selig sind, die reinen Herzens sind, denn sie werden Gott schauen.
Selig sind die Friedfertigen, denn sie werden Gottes Kinder heißen.
Selig sind, die um der Gerechtigkeit willen verfolgt werden;
denn ihrer ist das Himmelreich.
Amen.