„Europa braucht unser gemeinsames Zeugnis“

GEKE-Präsidiumsmitglied Kirchenpräsident Thomas Wipf (Bern) im Interview

Gemeinschaft Evangelischer Kirchen in Europa (GEKE)

29. August 2006

Institutionelle und rechtliche Verbindlichkeit der Gemeinschaft Evangelischer Kirchen in Europa zwingend – Hoffnung auf Stärkung nach innen und außen durch die Vollversammlung vom 12. bis 18. September in Budapest


Europa zwingend – Hoffnung auf Stärkung nach innen und außen durch die Vollversammlung vom 12. bis 18. September in Budapest

Bern/Hannover – Die Gemeinschaft Evangelischer Kirchen (GEKE) – Leuenberger Kirchengemeinschaft ist ein „solides evangelisches Netzwerk, aber noch keine Gemeinschaft, die in der Lage wäre, die Vielfalt ihrer Stimmen zu bündeln“. Diese Auffassung vertrat der Präsident des Schweizerischen Evangelischen Kirchenbundes (SEK), Pfarrer Thomas Wipf (Bern), in einem Interview. Er ist Mitglied des dreiköpfigen Präsidiums der GEKE und einer der Stellvertreter der geschäftsführenden Präsidentin Prof. Dr. Elisabeth Parmentier (Straßburg). Diese Gemeinschaft der Kirchen müsse „um des Evangeliums und um der Menschen willen verbindlich, sichtbar und hörbar werden“. Wipf wörtlich: „Europa braucht unser gemeinsames Zeugnis und unseren gemeinsamen Dienst. Wir würden unserem kirchlichen Auftrag untreu, wenn wir bei der unverbindlichen Erklärung von Kirchengemeinschaft stehen blieben.“

Von der nächsten Vollversammlung, die vom 12. bis 18. September in Budapest unter dem Motto „Gemeinschaft gestalten – Evangelisches Profil in Europa“ stattfindet, erwartet Kirchenpräsident Wipf „eine Stärkung der GEKE nach innen und außen“. Mit dem gemeinsamen Zeugnis und dem gemeinsamen Dienst der evangelischen Kirchen in Europa sei auch eine „institutionelle und rechtliche Stärkung der GEKE zwingend verbunden“. „Wir sollten uns die Möglichkeit geben, die Vielfalt der evangelischen Stimmen zu bündeln, gemeinsame Positionen zu erarbeiten und dann auch verbindliche Beschlüsse zu fassen“, so Thomas Wipf. So sollte seiner Meinung nach die Vollversammlung in ihrer Bedeutung gestärkt werden. Auch sollte der Exekutivausschuss, der die Geschäfte der GEKE zwischen den Vollversammlungen führt, diesen Zusammenschluss von Kirchen nach außen vertreten können. Für die Verständigung unter den Mitgliedskirchen sei auch eine regelmäßige Konferenz der Kirchenleitungen wichtig.

Die GEKE sei „keine Gemeinschaft des friedlichen Nebeneinanders oder gar der gegenseitigen Anspruchslosigkeit“. Nicht die „versöhnte Verschiedenheit“ sei ihr Ökumenemodell, sondern die „Einheit in versöhnter Verschiedenheit“. „Wir müssen nach Formen der Gemeinschaft suchen, die nicht nur unsere Vielfalt, sondern auch unsere Einheit sichtbar zum Ausdruck bringt.“ Von den ökumenischen Partnern, vor allem von römisch-katholischer Seite, werde die „Leuenberger Konkordie“, in der sich lutherische, unierte, reformierte, vorreformatorische und methodistische Kirchen gegenseitig anerkennen und Kanzel- und Abendmahlsgemeinschaft miteinander vereinbarten, lediglich als Legitimierung des Staus quo oder Minimalkonsens betrachtet. Dabei sei die Erklärung der Gemeinschaft zwischen bekenntnisverschiedenen Kirchen nicht das Ziel des ökumenischen Gesprächs, sondern der Anfang. „Der ökumenische Dialog zwischen bekenntnisverschiedenen Kirchen kann ja erst verbindlich beginnen, wo man sich gegenseitig als Kirche erkennt und anerkennt.“ Deshalb sei und bleibe die GEKE aus evangelischer Sicht ein ökumenischer Meilenstein, so Kirchenpräsident Wipf.

Hannover, 29. August 2006


Das Interview im vollen Wortlaut:

Frage: Herr Wipf, Sie gehörendem Präsidium der GEKE seit der letzten Vollversammlung an und haben seither die Geschicke dieses Zusammenschlusses protestantischer Kirchen gelenkt. Wie lautet Ihr persönliches Fazit?

Thomas Wipf: Die Gemeinschaft Evangelischer Kirchen in Europa ist heute eine evangelische Realität. Sie ist Impulsgeberin für das theologische und ekklesiologische Nachdenken über ein weiteres Zusammenwachsen der evangelischen Kirchen im europäischen und weltweiten Kontext. Auch ökumenisch ist diese Gemeinschaft heute eine Realität. Die GEKE ist Partnerin im ökumenischen Gespräch und kann so ihr spezifisch reformatorisches Verständnis von kirchlicher Einheit einbringen.

Schon vor der letzten Vollversammlung in Belfast 2001 haben weitere evangelische Kirchen in Europa die Leuenberger Konkordie unterzeichnet: zum Beispiel die methodistischen Kirchen Europas, die lutherischen Kirchen von Dänemark und Norwegen. Noch in diesem Frühjahr ist die Ev. Kirche im Fürstentum Liechtenstein als 105. und bislang (aber hoffentlich nicht insgesamt) letzte Kirche durch ihre Zustimmung zur Konkordie der GEKE beigetreten. Ein Zeichen für die fortbestehende, nicht nur eurozentrische Bedeutung des Einheitsmodells der Leuenberger Kirchengemeinschaft zeigt sich auch darin, dass die reformierten und lutherischen Kirchen im Nahen Osten nach dem Vorbild der Leuenberger Konkordie die so genannte Amman-Erklärung unterschrieben haben.

Die Leuenberger Konkordie ist zweifellos auch Impulsgeberin für die evangelischen Weltbünde – den reformierten Weltbund und den Lutherischen Weltbund – sowie für deren verstärkte Zusammenarbeit.

Die GEKE ist ein solides evangelisches Netzwerk, aber noch keine Gemeinschaft, die in der Lage wäre, die Vielfalt ihrer Stimmen zu bündeln und gemeinsam zum Ausdruck zu bringen. Nach der fast euphorischen Stimmung auf der letzten Vollversammlung und dem Ruf nach einer profilierten evangelischen Stimme in Europa, ist doch auch eine gewisse Zurückhaltung spürbar. Als ob die Kirchen ihrem Mut nicht ganz trauen würden. Ich hoffe, dass die theologische Grundlagenarbeit, die seit Belfast geleistet wurde, dem Willen eines verbindlichen und sichtbaren Zusammenwachsens wieder Nahrung geben kann.

Frage: Die letzte Vollversammlung hat gefordert, die protestantische Stimme in Europa zu stärken. Wurde dieses Ziel erreicht?

Thomas Wipf: Die Vollversammlung in Belfast war ein Aufbruch. Diesen Aufbruch wird man auch nicht rückgängig machen. Die Kirchen der GEKE wollen ihre Gemeinsamkeit in Zeugnis und Dienst verstärken und festigen. Belfast hat aber auch zu einem neuen Nachdenken über die Vielfalt ausgelöst, die konstitutiv zum evangelischen Zeugnis gehört. Einheit kann für die evangelischen Kirchen nicht Einheitlichkeit oder Uniformität bedeuten. Es gilt, die Spannung zwischen Einheit und Vielfalt konstruktiv aufzunehmen.

Wir müssen uns auch bewusst machen, dass die Geschichte der GEKE – was die Geschichte von Leuenberg immer war – mit dem Zusammenwachsen Europas eng verbunden ist. So wie die politischen und wirtschaftlichen Situationen der Mitgliedsstaaten der Europäischen Union verschieden sind, so unterschiedlich sind auch die Situationen der GEKE-Mitgliedskirchen. Es gehört zu Leuenberg, dass die Dinge langsam wachsen und die Weiterentwicklung Zeit braucht.

Frage: Nach der letzten Vollversammlung hat sich die Leuenberger Kirchengemeinschaft in Gemeinschaft Evangelischer Kirchen in Europa umbenannt. Haben sich die Erwartungen, durch den neuen Namen deutlicher wahrgenommen zu werden, erfüllt?

Thomas Wipf: Die Namensänderung beinhaltet mehr als den Aspekt des Marketings. Ich glaube, es war den GEKE-Mitgliedskirchen bewusst, dass mit dem neuen Namen in erster Linie ein inhaltliches Programm verbunden ist. Leuenberg muss mehr sein als eine Liste von Unterschriften unter ein Dokument. Europa braucht unser gemeinsames Zeugnis und unseren gemeinsamen Dienst. Wir würden unserem Auftrag als Kirchen untreu, wenn wir bei der unverbindlichen Erklärung von Kirchengemeinschaft stehen blieben.

Die Zustimmung der Kirchen zur Namensänderung bedeutete auch die Zustimmung zum Programm. Die Gemeinschaft der Kirchen muss – um des Evangeliums und um der Menschen willen – verbindlich, sichtbar und hörbar werden. „Gemeinschaft gestalten – Evangelisches Profil in Europa“ wird das Motto der kommenden Vollversammlung in Budapest sein.

Frage: Was erwarten Sie sich von der Vollversammlung in Budapest?

Thomas Wipf: Die Lehrgesprächsgruppen haben im Hinblick auf die Vollversammlung Dokumente erarbeitet, die inhaltliche Diskussionen auf hohem Niveau ermöglichen und die Grundlagen für verschiedene Optionen der Weiterentwicklung von GEKE liefern.

Persönlich erhoffe ich mir eine Stärkung der GEKE nach innen und außen.
Die Stärkung nach innen betrifft das Bewusstsein, verbindlich zu einer Gemeinschaft von Kirchen zu gehören und den Willen, das evangelische Zeugnis gemeinsam auszurichten. Dies würde zum Beispiel bedeuten, dass man überall dort die Verständigung sucht, wo reformatorische Grunderkenntnisse auf dem Spiel stehen. „GEKE-Kompatibilität“ sollte ein Kriterium sein bei wichtigen theologischen oder ekklesiologischen Entscheidungen der Mitgliedskirchen.

Mit dem gemeinsamen Zeugnis und dem gemeinsamen Dienst der evangelischen Kirchen in Europa ist auch eine institutionelle und rechtliche Stärkung der GEKE zwingend verbunden. Wir sollten uns die Möglichkeit geben, die Vielfalt der evangelischen Stimmen zu bündeln, gemeinsame Positionen zu erarbeiten und dann auch verbindliche Beschlüsse zu fassen. Ich hoffe deshalb, dass die Vollversammlung die Erarbeitung eines Statuts beschließt. Darin müssen Aufgabe und Zweck der GEKE, Organe, Zuständigkeiten und Rezeptionsverfahren sowie die Beziehungspflege mit anderen ökumenischen Zusammenschlüssen beschrieben werden.

Die Vollversammlung sollte in ihrer Bedeutung gestärkt werden und der Exekutivausschuss sollte die GEKE nach außen vertreten können. Für die Verständigung unter den Mitgliedskirchen wäre auch eine regelmäßige Konferenz der Kirchenleitungen wichtig.

Frage: Was sind aus Ihrer Sicht die Zukunftsaufgaben der GEKE?

Thomas Wipf: Die theologische Arbeit ist ein – oder vielleicht sogar das – Kennzeichen der Leuenberger Kirchengemeinschaft. Diese theologische Arbeit muss unbedingt weitergeführt werden. Sie bleibt für mich unverzichtbar. Ein Beispiel: Das Leuenberger Einigungsdokument über das Kirchenverständnis aus dem Jahr 1994, „Die Kirche Jesu Christi“, macht eine zentrale Aussage: Die eine Kirche Jesu Christi, Gegenstand des Glaubens, gewinnt in konkreten, geschichtlichen Kirchen ihre Gestalt. Wir betonen die Unterscheidung zwischen Grund und Gestalt der Kirche. Es besteht die Gefahr, dass wir bei der „Unterscheidung“ stehen bleiben. Vielleicht deshalb wird im Zusammenhang von Leuenberg oft nur noch von „versöhnter Verschiedenheit“ gesprochen. Die Gemeinschaft Evangelischer Kirchen in Europa ist aber keine Gemeinschaft des friedlichen Nebeneinanders oder gar der gegenseitigen Anspruchslosigkeit. Grund und Gestalt der Kirche dürfen sich nicht nur unterscheiden, sie müssen sich auch entsprechen. Wenn wir die „eine Kirche in Jesus Christus“ glauben, dann sollten wir auch ernsthaft darüber nachdenken, wie wir dieser Einheit konkrete Gestalt verleihen.

Nicht die „versöhnte Verschiedenheit“ ist das Ökumenemodell von Leuenberg, sondern die „Einheit in versöhnter Verschiedenheit“. Wir müssen nach Formen der Gemeinschaft suchen, die nicht nur unsere Vielfalt, sondern auch unsere Einheit sichtbar zum Ausdruck bringt.

Aus dieser ersten Zukunftsaufgabe ergibt sich für mich eine zweite, ökumenische Aufgabe. Von unseren ökumenischen Partnern, vor allem von römisch-katholischer Seite, wird die Leuenberger Konkordie oft missverstanden als Legitimierung des Status quo, als Minimalkonsens oder sogar als Ausdruck „einer postmodernen Mentalität einer individualistischen und pluralistischen Beliebigkeit“. Es besteht also noch viel ökumenischer Erklärungsbedarf. Die Erklärung der Gemeinschaft zwischen bekenntnisverschiedenen Kirchen ist nicht das Ziel des ökumenischen Gesprächs, sondern der Anfang. Der ökumenische Dialog zwischen bekenntnisverschiedenen Kirchen kann ja erst da verbindlich beginnen, wo man sich gegenseitig als Kirche erkennt und anerkennt. Deshalb ist und bleibt Leuenberg aus evangelischer Sicht ein ökumenischer Meilenstein.

Die dritte Zukunftsaufgabe betrifft die Mitgliedskirchen der GEKE. Wenn das Leuenberger Modell der kirchlichen Einheit ein wirklich evangelisches Modell ist, dann muss es von „unten“ getragen sein. Die Leuenberger Kirchen sollten deshalb Möglichkeiten prüfen, wie man der erklärten Kirchengemeinschaft auch auf regionaler, nationaler und sogar lokaler Ebene konkrete Gestalt verleihen könnte.

Frage: Die GEKE hat in den vergangenen Jahren den Dialog mit Anglikanern, Orthodoxen und Baptisten intensiviert. Was ist das Ziel dieser Gespräche?

Thomas Wipf: Mit der Leuenberger Kirchengemeinschaft der „Einheit in versöhnter Verschiedenheit“ liegt ein Modell der kirchlichen Einheit vor, das auch für eine umfassendere Ökumene Bedeutung hat. Es liegt deshalb nahe, das theologische Gespräch mit anderen Konfessionsfamilien über den lutherisch-reformiert-uniert-methodistischen Bereich hinaus zu suchen. Ziel ist es, der gesamten ökumenischen Bewegung zu dienen und zu einer vertiefteren Gemeinschaft und Kooperation mit anderen Kirchen zu finden. Der vor rund zehn Jahren aufgenommene Dialog mit der anglikanischen Kirchengemeinschaft dient zusätzlich auch der Festigung der Gemeinschaft nach innen, insofern einzelne Signatarkirchen via die Porvoo-Gemeinschaft schon in Kontakt mit den Anglikanern stehen. Dass diese Dialoge zu sehr erfreulichen Ergebnissen führen können, zeigt das Beispiel des Dialogs mit den Baptisten. Mit dem Dokument „Der Anfang des christlichen Lebens und das Wesen der Kirche“ ist ein wesentlicher Schritt auf ein gemeinsames Taufverständnis und damit zu einer vertiefteren Gemeinschaft hin getan. Eine wichtige Frage im Hinblick auf zukünftige Dialoge bleibt, wie ihre Ergebnisse zusammengeführt und in der weiteren Entwicklung der Leuenberger Kirchengemeinschaft fruchtbar gemacht werden können.

Die Fragen stellte Udo Hahn.