Bischof mahnt Solidarität an

Bischof Axel Noack zu den “Montagsdemonstrationen” im Land

Evangelische Kirche der Kirchenprovinz Sachsen

10. August 2004

In einem Brief zur angespannten Lage im Land an die Mitarbeitenden in der Evangelischen Kirche der Kirchenprovinz Sachsen (KPS) vom 10. August  kritisiert Bischof Axel Noack, Magdeburg, das in den letzten Jahren gewachsene machtpolitische Interesse aller Parteien, das zu einer Verunsicherung der Bevölkerung und zu Vertrauensverlust geführt habe. “Es muss Schluss gemacht werden mit dem wahltaktischen Verhalten, das den größten annehmebaren Unfall darin sieht, dass einer anderen Partei als der eigenen eine wirkliche Reform gelingen könnte und eine Besserung am Arbeitsmarkt eintreten würde.“

Angesichts der schwierigen Lage, sei die Kirche gefordert, Einfluss auf das gesellschaftliche Klima zu nehmen. “Die Kirche kann nicht konkrete politische Lösungen vorschlagen, aber sie kann helfen, ein gesellschaftliches Klima zu gestalten, das Lösungen möglich macht“, heißt es in dem Schreiben.  Die Demonstrationen seien legitim, auch wenn Demagogen manche Unklarheiten nutzten und Ängste schürten. “Gegen die Demagogie hilft letztlich nur Aufklärung.“ Noack mahnte deshalb die Verantwortlichen, schnell Klarheit zu schaffen und den Betroffenen mit Taktgefühl zu begegnen. Es müsse jedoch auch legitim sein, einen Anspruch auf Unterstützung durch das Gemeinwesen zu überprüfen.

Der Bischof drückte sein Verständnis aus, wenn sich Gemeinden, Arbeitskreise oder Gruppen der KPS an den Protesten beteiligten, wenn sie “zu Friedensgebeten einladen und zum friedlichen Verlauf von Demonstrationen beitragen wollen, auch wenn die Kirche in ihrer Gesamtheit nicht zu Demonstrationen aufruft. … Die Menschen brauchen unsere Solidarität“. Noack mahnte Solidarität in Gesellschaft und Familie an und kritisierte jede Polemik, die Solidarität “lächerlich macht“. Er fürchte jedoch, dass die Hartz-Reform vornehmlich im Westen den Arbeitsmarkt beleben würde und der Ost-West-Unterschied sich vergrößern könnte.

Zur Debatte um den Begriff “Montagsdemonstration“ sagte Noack, könne es bei den Protesten nicht um eine Gleichsetzung von DDR und Bundesrepublik gehen. Aber die Menschen lebten aus der Erfahrung, dass sich durch öffentliche Demonstrationen etwas ändern lässt.

Eine Stellungnahme der Kirchenleitung kündigte der Bischof für Ende August an. Den vollständigen Brief finden Sie nachstehend.

Erfurt/ Magdeburg, 10. August 2004

Pressestelle


Der Wortlaut des Briefes:

Worte des Bischofs Axel Noack an die Gemeinden

Eine Hilfe zur Argumentation

"Liebe Schwestern und Brüder,

viele von Ihnen fragen – manche schon ungeduldig - , ob sich unsere Kirche nicht zu den neuerlichen Montagsdemonstrationen äußern kann und will.

Ich will Ihnen gern einige sehr persönliche Gedanken aufschreiben. Unsere Kirchenleitung wird sich – voraussichtlich – Ende August öffentlich äußern.

Wir stehen vor der Frage, ob wir vom Glauben her die Freiheit gewinnen, die entstandene Situation klar zu sehen und Weiterführendes zur Lösung beizutragen. Die Kirche kann nicht konkrete politische Lösungen vorschlagen, aber sie kann helfen, ein gesellschaftliches Klima zu gestalten, das Lösungen möglich macht.

Auf diesem Hintergrund und mit dieser Einschränkung benenne ich die folgenden Themen und Fragen:

1. Ratlosigkeit zugeben

Zunächst: ich scheue mich nicht, eine gewisse Ratlosigkeit zuzugeben. Wer den Demonstrationszug der vielen Menschen gestern hier in Magdeburg miterlebt hat, wird sich seiner ganzen Hilflosigkeit bewusst.

Da ziehen so viele Menschen protestierend durch die Straßen. Ganz überwiegend friedlich und sehr zurückhaltend. Die technischen Voraussetzungen (Lautsprecheranlage etc.) sind denkbar schlecht . Wer nicht vorn steht, versteht nicht, was gesprochen wird. Das ist keine „offizielle“ Demo einer Partei oder einer Gewerkschaft, das ist überall zu spüren und gerade das Fehlen aller „Offiziellen“ erinnert nun eben doch an die alten Zeiten von 1989. Diesmal fehlen auch unsere Kirchen.

Die Plakate enthalten einige aggressive Äußerungen gegen die Regierung und die SPD, manche törichte sind darunter. Wer sich an die so fröhlichen, engagierten und witzig-frechen Transparente vom 4. November 1989 in Berlin erinnert, muss enttäuscht sein. Die hier angebotenen Lösungen lassen sich auf den einen Satz reduzieren: „Hartz IV muss weg!“ Und: „Die da oben sollen mehr Geld locker machen für die da unten!“ Manche Demonstranten scheinen zu spüren, dass dies nicht ausreicht und keine Lösung ist, aber mehr haben sie zunächst einmal nicht zu sagen. Ihre Rat- und Hilflosigkeit steht für die dumpfe Wut: Es muss anders werden, auch wenn wir nicht wissen was und wie.

2. Und unsere Kirche?

Unter uns gibt es – anders als bei anderen Anlässen in der letzten Zeit (1989; BSE; 11.September und Irakkrieg) - unterschiedliche, manchmal gegensätzliche, jedenfalls differenzierte Positionen. Gespräche in Leitungsgremien und Gemeindekirchenräten offenbaren das meist sehr schnell. Es ist die Gefahr vorhanden, dass die fehlende Einmütigkeit lähmende Wirkung zeigt und uns zu Zuschauern am Rande macht. Wir sollten einander zutrauen, verantwortlich zu handeln. Wenn Gruppen in unserer Kirchen, Gemeindekirchenräte oder bestimmte Arbeitskreise sich beteiligen wollen, zu Friedensgebeten einladen und zum friedlichen Verlauf von Demonstrationen beitragen wollen, muss das möglich sein, auch wenn die Kirche in ihrer Gesamtheit nicht zur Demonstration aufruft. Hier soll man die Herzen sprechen lassen: Auch wenn es viele Bedenken gibt und Zweifel an der Sinnhaftigkeit angesagt sind: Die Menschen brauchen unsere Solidarität.

Unser Verständnis für die Sorgen der Menschen und ihre Stimmungslage muss echt sein. Alle ahnen: Es geht nicht nur um Hartz IV. Die Probleme reichen weiter und tiefer. Die Menschen müssen spüren, dass wir sie mit ihren Ängsten und Sorgen ganz ernst nehmen. Hier ist die Hinwendung der Kirche und der Gemeinden zu den Menschen wirklich gefragt.

3. Demonstrationen sind legitim

Auch das Mittel der friedlichen Demonstration ist legitim und es ist nicht zu kritisieren, wenn Menschen mit lauten Protesten auf die Straßen gehen. Gerade auch Demonstrationen, die nicht offiziell von Parteien und Gewerkschaften sondern von Privatpersonen organisiert werden, benötigen Hilfe und Unterstützung dazu, dass sie das garantierte Demonstrationsrecht auch wirklich ausüben können.

4. Erinnerung an 1989?

 Es ist verständlich, dass sich viele darüber ärgern, dass nun der Name „Montagsdemo“ wieder bemüht wird. Sehr zu Recht weisen sie daraufhin, dass man die Diktatur der Honecker-Zeit nicht mit unserem demokratischen System gleichsetzen kann und ganz sicher sind heute etliche unter den Demonstranten, die 1989 garantiert nicht dabei waren. Dennoch sollten wir nicht von „Anmaßung“ und „Missbrauch“ reden. Es geht nicht um die Gleichsetzung von DDR und Bundesrepublik. Der Vergleichspunkt ist vielmehr die Hoffnung, dass sich durch öffentliche Demonstrationen etwas ändern lässt.

Und: lässt sich nicht auch mit einem gewissen Schmunzeln wahrnehmen: Die PDS auf einer Montagsdemonstration! Wer hätte das gedacht!

5. Unklarheiten nutzen den Demagogen

Schwieriger ist eine inhaltliche Bewertung der Proteste und vor allem der Gefühlslage, die sie hervorrufen. Die durch die Hartz IV-Reform ausgelösten Ängste sind real und nachvollziehbar, so weit sich Ängste überhaupt nachvollziehen lassen.

Freilich: Bestimmte Medien werden nicht müde, diese Ängste auch zu schüren. Es ist Demagogie, wenn Kinder abgebildet werden mit der Bitte: „Liebe Regierung, lass mir mein Sparschwein. Ich habe solange für einen neuen Fußball gespart.“

Gegen Demagogie hilft letztlich nur Aufklärung. Aber: Wie soll man aufklären, wenn in der Tat noch so viel unklar ist. Niemand kann heute ganz genau sagen, welche Vermögenswerte (Sparbuch der Kinder, Datsche im Garten, Ersparnisse für das Alter usw.) in welcher Höhe bei der Berechnung der Hilfsbedürftigkeit zugrunde gelegt werden.

6. Den Hilfsbedürftigen mit Takt begegnen

Die Regierung ist zu drängen, hier wirklich sehr schnell eindeutige Klarheit zu schaffen. Dabei wird es darauf ankommen, Wege der Umsetzung zu finden, die die Menschen darin sicher machen, dass sie nicht als „Fälle“ gesehen werden, sondern dass alle einen Anspruch darauf haben, in ihrer je besonderen Situation wahr und ernst genommen zu werden. Denn das ist doch deutlich: Wer Hilfe benötigt, muss es sich gefallen lassen, dass die Bedürftigkeit geprüft wird. Das geht nicht, ohne dass Menschen sich offenbaren müssen. Wie kann verhindert werden, dass solche Nachprüfung nicht in einem Klima des Misstrauens geschieht?

Wie können die Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter in den Ämtern so geschult und vorbereitet werden, dass sie das nötige Taktgefühl entwickeln und die Scham der Bedürftigen nicht verletzen. Welche Einspruchsmöglichkeiten gegen getroffene Entscheidungen sind gegeben?

Kirche und Diakonie sind hier als Beratungseinrichtungen gefragt, sobald mehr Klarheit herrschen wird.

7. Den Ost-West-Unterschied nicht vergrößern

Es ist öffentlich Rechenschaft darüber zu verlangen, ob die Befürchtungen zutreffen, dass die erhofften positiven Auswirkungen der Hartz -Reform, nämlich eine spürbare Belebung des Arbeitsmarktes, vornehmlich in den westlichen Bundesländern eintreten werden, während im Osten mit dem viel gravierenderen Mangel an Arbeitsplätzen nur die Zumutungen an die Menschen spürbar sind. Es wäre ein alarmierendes Signal, wenn die anstehenden Reformen in ihrer Wirkung letztlich die Ost-West-Unterschiede vergrößern.
Hier sind die Experten der Regierung wirklich gefordert!

8. Gemeinsinn vor Parteitaktik

Als Kirchen haben wir auch das zu sehen und aufmerksam wahrzunehmen, was sich unterhalb der aktuellen Hartz-Debatte in der Gesellschaft abspielt. Hartz IV und die mit dieser Reform verbunden Unklarheiten sind der Anlass für die Proteste, nicht ihre Ursache. Die um sich greifende Verängstigung und Verunsicherung geht viel tiefer und ist in den letzten Jahren mit all den mühseligen Reformdiskussionen entstanden. Daran haben alle Parteien ihren Anteil. Es muss Schluss gemacht werden mit dem wahltaktischen Verhalten, das den größten annehmbaren Unfall darin sieht, dass einer anderen Partei als der eigenen eine wirkliche Reform gelingen könnte und eine Besserung am Arbeitsmarkt eintreten würde.

Der drohende Verlust des wirklichen Gemeinsinnes ist nicht nur bei den unterschiedlichen Interessengruppen, die alle je für sich und ihr Klientel engagiert kämpfen sondern auch in den Parteien zu beobachten. Die öffentlichen Debatten der letzten Jahre haben das machtpolitische Interesse aller Parteien immer stärker hervortreten lassen. Wer kann heute noch unter Verlust eigenen möglichen Vorteils für das Gesamte der Gesellschaft denken und welcher Partei nehmen die Menschen das noch ab? Hier droht ein wirklicher Vertrauensverlust in die Institutionen der Gesellschaft, der unser Land als ganzes letztlich mehr beschädigen kann als jetzt absehbar ist.

Es gibt keine wirkliche Alternative zur Parteiendemokratie und die benötigt politische Parteien als Foren der Willensbildung. Gerade die „Volksparteien“ müssen alles daran setzen, dass die Menschen spüren: Der Einsatz für das Gemeinwohl der ganzen Gesellschaft muss vor parteitaktische Erwägungen gehen. Das muss als politisches Ethos in den Parteien neu entdeckt werden.

9. Die Gesellschaft braucht freiwillig gelebte Solidarität

Es ist zu kritisieren, dass solidarische Leistungen schlecht geredet oder lächerlich gemacht werden. Auch Politikerinnen und Politiker der etablierten Parteien scheuen sich nicht, den Staat der „Abzocke“ zu bezichtigen. Sie reihen sich ein in die Schar derer, die mit Kniffs und Tricks versuchen, möglichst jede Zahlung von Abgaben zu umgehen. Wer Steuern ehrlich zahlt, scheint nicht recht zurechnungsfähig und Solidarität wird in populistischen Reden auf der ganzen Linie beschädigt. Der törichte Satz, dass „Geiz“ „geil“ sei, dürfte sich noch nicht einmal für die kränkelnde Inlandsnachfrage rechnen, für den Zusammenhalt einer Gesellschaft wäre er tödlich, würde er ernst genommen.

10. Eigentum verpflichtet

Gerade in aufgeregten Zeiten ist es nötig, sich den nüchtern klaren Blick zu bewahren. Zu leicht übersehen wir, was unsere Gesellschaft an solidarischer Leistung aufgebracht hat und immer noch aufbringt. Gott sei Dank, gibt es unter uns immer noch zahlreiche Menschen, die es ganz ernst mit der Tatsache nehmen, dass Eigentum verpflichtet und die sich täglich als Unternehmer, Politiker und Gewerkschafter darum mühen, Eigennutz und Gemeinwohl miteinander zu verbinden. Sie tun das freiwillig und nicht, weil man sie dazu zwingt. Solche Menschen braucht das Land und es würde völlig verarmen, wenn es nicht eine selbstverständliche Solidarität gäbe, die letztlich in der Liebe zum Nächsten wurzelt. Es ist eine Aufgabe der Kirche, darauf immer wieder hinzuweisen.

11. Die Familie als Solidargemeinschaft nicht beschädigen

Ebenso darf nicht übersehen werden, dass auch in den familiären Zusammenhängen immer noch große solidarische Leistungen erbracht werden, zu meist ganz selbstverständlich. Wir werden einem in den jetzigen Diskussionen aufkommenden Geist zu widerstehen haben, der es als unzumutbar erscheinen lässt, dass Eltern für ihre Kinder und Kinder für ihre Eltern auch materiell einstehen. Der Egoismus taugt nicht zum Gesellschaftsprinzip. Das gilt schon immer - auch für die familiären Beziehungen.

12. Vorschnellen Vereinfachungen widerstehen

Alles in allen sollen wir uns nicht entmutigen lassen. Auch sollten wir den Mut aufbringen, vorschnellen Ruf nach Vereinfachung zu widerstehen. Es gibt Situationen und gesellschaftliche Probleme, da können nur Demagogen und Diktatoren mit der schnellen Lösung aufwarten. Manchmal gehört Mut dazu, komplizierte Probleme kompliziert sein zu lassen und dennoch nicht entmutigt aufzugeben, nach einer Lösung zu suchen. Unser Glaube hilft uns, jede Situation als eine zu gestaltende anzunehmen.

Mit diesen - sicherlich ganz unvollständigen - Gedanken grüße ich Sie alle in den konkreten Situationen, die Sie jetzt in Kirchenkreisen und Gemeinden erleben. Ich wünsche Ihnen den Mut, sich mit heißem Herzen, wachen Augen und klarem Kopf den Herausforderungen zu stellen. Und : ich wünsche ihnen die Zuversicht des Glaubens an Jesus Christus, der „Quelle aller ehrlichen Einsichten und tapferen Entschlüsse" (Karl Barth).

Ihr Bischof

gez. Axel Noack"