Spiritualität: Sehnsucht nach Ganzheit und dem Unmöglichen

Fulbert Steffensky warnt vor Selbsterfahrungs- und Harmoniezwängen

Deutscher Evangelischer Kirchentag (DEKT)

27. Mai 2005

Wer spirituelle Erfahrungen sucht, kommt nach Überzeugung des Hamburger Theologen und Erziehungswissenschaftlers Fulbert Steffensky nicht ohne lebendige Vorbilder aus. Allerdings sei Spiritualität ein vieldeutiger Begriff. „Oft suchen Menschen das Richtige auf falschen Wegen“, sagte Steffensky. Dabei liefen sie Gefahr, sich selbst unter einen abwegigen Selbsterfahrungs- und Erlebnisdruck zu setzen, so Steffensky. Für besonders problematisch hält er Harmoniezwänge: In den „neuen religiösen Lagen“ seien Begriffe wie Tragik und Sünde unbekannt. Das könne rasch in eine depressive Stimmung münden: Wem es nicht gelinge, zur Erfahrung von Ganzheit und Harmonie zu gelangen, denke, er sei selbst schuld daran.

Welche Bedeutung die Sehnsucht als Quelle von Spiritualität besitzt, illustrierte Steffensky am Beispiel von Brechts Dreigroschenoper. Wie die Seeräuber-Jenny, eine der Hauptfiguren des Werkes, müsse jeder Mensch von einem Schiff träumen, das ihn aus dem „lumpigen Leben der Demütigungen“ entführt. „Ihre Befreiung beginnt mit der Gewissheit, dass sie eine andere ist als die Sklavin, die den Herren die Betten macht und die dankbar sein muss für die Pennys, die sie ihr zuwerfen.“ Die Sehnsucht lasse sich indes nicht mit Groschen abspeisen. Sie verlange nach dem Ganzen und „vielleicht Unmöglichen“. So entwickle der Prophet Jesaia für das in Babylon gefangene Volk Israel grandiose Visionen: die Steppe blühe, Blinde sehen, Stumme sprechen. „Damit aber ist der Mensch mit der großen Sehnsucht überall an den Flüssen Babylons: am Rhein, an der Elbe, an der Weichsel, am Mississipi.“ 

Spiritualität definierte Steffensky als „geformte Aufmerksamkeit“ für die Wahrnehmung Gottes und seines Spiels im Glück der Menschen, in der Schönheit der Natur und im Gelingen des Lebens. Sie ist eher, wie sich etwa am Beispiel der Mystikerin Elisabeth von Thüringen zeige, Selbstvergessenheit als Selbsterfahrung. „Wir beginnen den Weg zum Glück nicht als Suchende, sondern als schon Gefundene“, zitierte Steffensky die Theologin Dorothee Sölle. Alles Glück habe seinen Ursprung in Gott. Angesichts des Verlustes an religiösem Erfahrungswissen gelte es, die Frömmigkeit „neu zu buchstabieren“. Statt in „fremden Vorgärten zu grasen“, dürften Christen den eigenen Traditionen trauen.


27. Mai 2005
Nachrichtenredaktion Kirchentag