Bischof Hein: Unser Land braucht Zivilcourage und Gewissensbildung

Elisabeth von Thüringen und Martin Luther als Vorbilder

Evangelische Kirche von Kurhessen-Waldeck

03. Oktober 2007

Rede auf dem Festakt des Freistaats Thüringen zum Tag der Deutschen Einheit auf der Wartburg

Der Bischof der Evangelischen Kirche von Kurhessen-Waldeck, Prof. Dr. Martin Hein, hat die Deutschen zu Zivilcourage und Gewissenbildung aufgerufen. Auf dem Festakt des Freistaats Thüringen zum Tag der Deutschen Einheit sagte der Bischof am heutigen Nachmittag auf der Wartburg, Elternhäuser, Kindertagesstätten, Schulen und Kirchen seien dazu aufgerufen, ihrem Auftrag zur Gewissensbildung in der Tradition Elisabeth von Thüringens und Martin Luthers nachzukommen. Deutschland brauche im 17. Jahr seiner Einheit zwar Realismus, aber auch „Ziele, auf die sich unsere Hoffnung und Handeln richtet“. Es sei ein Unding, dass laut jüngsten Umfragen inzwischen jeder Fünfte im Westen wie im Osten die Mauer zurückhaben wolle – wenngleich aus unterschiedlichen Motiven.

Aktuelle soziale Herausforderungen: Der Gedanke der Solidarität braucht Zivilcourage

Hein erinnerte daran, dass die Landgräfin Elisabeth in Befolgung des Gebotes der Nächstenliebe und in bewusster Abgrenzung vom Standesbewusstsein ihrer Zeit Arme und Kranke gepflegt habe. Deutschland stehe heute vor großen sozialen Herausforderungen. „Unsere Gesellschaft wartet darauf, dass die Politik tragfähige Lösungen für das Wohl der Familien, der sozial Schwachen, aber auch der Pflegebedürftigen und Pflegenden schafft. Das geht nicht ohne den Gedanken der Solidarität! Und das braucht auch heute Zivilcourage“, erklärte der Bischof.

Gewissensbildung schützt davor, den Parolen politischer Verführer zu erliegen

Hein beklagte, dass Menschen, die hierzulande Zuflucht suchten, dem Hass einer zwar überschaubaren, aber doch erschreckend großer Zahl Deutscher ausgesetzt sind. „Zivilcourage ist gefragt, aber sie ist doch nicht fremd! Es war Zivilcourage, die damals viele zeigten, so dass es in der DDR zu einer friedlichen Revolution kam“, betonte Hein. Zivilcourage erwachse aus der Freiheit des Gewissens. Hierfür stehe der Name Martin Luthers. Jedoch brauche das Gewissen für eine verantwortungsvolle Entscheidung Orientierung und tragende Maßstäbe. Hier seien Luther wie Elisabeth beispielhaft. Von ihnen zu lernen, schütze davor, „simplen Parolen politischer Verführer zu erliegen“. „Ermutigen wir, wo immer wir Verantwortung tragen, die Menschen zu einer Zivilcourage, die aus Gewissensbildung erwächst.“ Die Politik könne hier auf die Kirche als Mitstreiter zählen.


Die Rede im Wortlaut:

„Zivilcourage und Gewissensbildung“ – Was uns Elisabeth von Thüringen und Martin Luther bleibend zu sagen haben

„Gedanken zum Tage“ anlässlich des Festaktes des Freistaates Thüringen zum „Tag der Deutschen Einheit“ am 03.10.2007 auf der Wartburg.

Es ist mir eine große Ehre, den Festakt zum Tag der Deutschen Einheit hier auf der Wartburg mit einigen „Gedanken zum Tage“ einzuleiten. Ich möchte sie unter das Motto stellen: „Zivilcourage und Gewissensbildung“.

Wir feiern heute eine Einheit, die aus Zusammengehörigkeit erwächst. Das lässt sich an Thüringen und Hessen illustrieren. Ich könnte Sie jetzt zu den Fenstern auf der linken Seite des Palas bitten. Von dort fällt der Blick über die Ausläufer des Thüringer Waldes hin nach Hessen. Beide Länder haben eine gemeinsame Grenze – und mehr noch: eine gemeinsame Geschichte. Die Evangelische Kirche von Kurhessen-Waldeck, die ich heute vertreten darf, steht sinnfällig für die wiedergewonnene Einheit Deutschlands, vereint sie in sich doch neben großen Teilen Hessens auch ein besonders schönes Stück Thüringen – das Gebiet des Kirchenkreises Schmalkalden.

Der Tag der Deutschen Einheit gebietet es, einzuhalten, um daran zu erinnern, wo wir herkommen, aber auch den Blick nach vorne zu richten. Ich will das mit der Titelzeile eines früher bekannten Schlagers tun – und bitte dafür an diesem geschichtlich und kulturell so bedeutsamen Ort um Nachsicht. Der Schlager fängt folgendermaßen an: „Mit 17 hat man noch Träume …“

„Mit 17 ...“ – so viele Jahre zählt das wiedervereinte Deutschland. Welche Träume haben wir von unserem Vaterland, wie sehen sie aus – und wie war das vor zwei Jahrzehnten?

Ich antworte darauf als jemand, der in der alten Bundesrepublik zuhause ist. Versetzen Sie sich bitte 15 Kilometer Luftlinie in nordwestliche Richtung. Da führt eine kleine Straße vom Dörfchen Willershausen in Hessen nach Pferdsdorf in Thüringen. Auf halber Strecke befindet sich der sogenannte „Wartburgblick“. Noch vor zwanzig Jahren war man an diesem prominenten Aussichtspunkt auf drei Seiten vom Eisernen Vorhang umgeben. Nur wenige Schritte davon fiel der Blick auf die ersten Häuser auf thüringischem Boden – ein Ort im Grenzstreifen, den wir, so dachte man damals, nach menschlichem Ermessen nie betreten würden, weil man ihn nicht betreten durfte.

Die Wartburg war nicht unerreichbar. Doch zu ihr zu kommen, blieb mühevoll! Wann immer man den Grenzübergang zwischen Hessen und Thüringen passierte, musste der Eindruck aufkommen, bei den Organen der damaligen DDR unerwünscht zu sein. Anders war es freilich bei der Bevölkerung. Hier bestanden immer noch alte Beziehungen. Aber die Besuche waren fast ausschließlich nur in einer Richtung möglich. Wer also hätte 1987 zu träumen gewagt, dass die Grenze Hessen und Thüringen wenige Jahre später nicht mehr trennt, sondern verbindet!?

Wovon träumen wir heute? Oder sind wir – im 17. Jahr der deutschen Einheit – nur ernüchtert? Gewiss, Realismus ist angesagt – und doch braucht unser Land auch weiterhin Ziele, auf die sich unsere Hoffnung und unser Handeln richten. Es ist doch ein Unding, dass einer Emnid-Umfrage zufolge inzwischen jeder Fünfte im Westen wie im Osten die Mauer zurückhaben will – wenn auch aus unterschiedlichen Motiven.

Die beiden Gestalten, die sich in besonderer Weise mit der Wartburg verbinden, Elisabeth von Thüringen, deren 800. Geburtstag wir in diesem Jahr feiern, und Martin Luther können uns durchaus eine aktuelle Perspektive vermitteln. Wie meine ich das?

Auf dem Weg von Eisenach hoch zur Wartburg sehen wir die Fundamente des Elisabethhospitals: jenen Ort, an dem die Landgräfin in der Befolgung des Gebotes der Nächstenliebe und in bewusster Abgrenzung vom Standesbewusstsein ihrer Zeit Arme und Kranke pflegte. Sie zeigte Zivilcourage, wie wir heute sagen würden.

Unser Land steht vor großen sozialen Herausforderungen. Um die „Berliner Rede“ des Bundespräsidenten zitieren: Es kann nicht sein, dass „der Aufstieg der einen der Abstieg der anderen“ wird. „Arme habt ihr allezeit bei Euch“ – dieses Jesuswort hat Elisabeth ernst genommen und entsprechend gehandelt. Unsere Gesellschaft wartet darauf, dass die Politik tragfähige Lösungen für das Wohl der Familien, der sozial Schwachen, aber auch der Pflegebedürftigen und der Pflegenden schafft. Das geht nicht ohne den Gedanken der Solidarität! Und das braucht auch heute Zivilcourage.

Für Zivilcourage steht auch die zweite Gestalt, deren Wirken mit der Wartburg verbunden ist: Martin Luther. Er prangerte Missstände seiner Zeit an – in der Kirche, in Politik und Wirtschaft. Er machte deutlich, dass nicht alles käuflich ist. Er hielt auch an der Wahrheit des Glaubens fest, als es für seine Person lebensbedrohlich wurde.

Und wir? Stellen wir uns heute zum Beispiel schützend vor die Menschen, die in unserem Land Zuflucht suchen – und die dem Hass einer zwar überschaubaren, aber doch erschreckend großen Zahl Deutscher ausgesetzt sind? Zivilcourage ist gefragt, aber sie ist doch nicht fremd! Es war Zivilcourage, die damals viele zeigten, so dass es in der DDR zu einer friedlichen Revolution kam.

Zivilcourage erwächst aus der Freiheit des Gewissens. Auch dafür steht der Name Luthers ein. Aber unser Gewissen braucht zu einer verantwortungsvollen, gewissenhaften Entscheidung Orientierung, also tragende Maßstäbe. Das Gewissen muss sich bilden – nicht erst in dem Augenblick, in dem es zur Entscheidung gefordert ist. Elternhäuser, Kindertagesstätten, Schulen und Kirchen sind dazu aufgerufen, ihrem Auftrag zur Gewissensbildung wirklich nachzukommen – in der Tradition Elisabeths von Thüringen wie Martin Luthers. Sie sind exemplarisch für den Menschen, der sich gewissenhaft entscheidet und dann entsprechend handelt. Von ihnen können wir auch heute lernen! Das schützt uns davor, den simplen Parolen politischer Verführer zu erliegen.

„Mit 17 hat man noch Träume …“: Mein erklärter Wunsch an diesem 3. Oktober im 17. Jahr der Deutschen Einheit lautet: Ermutigen wir, wo immer wir Verantwortung tragen, die die Menschen zu einer Zivilcourage, die aus persönlicher Gewissensentscheidung erwächst! Das mag wie ein Traum klingen, muss aber keiner sein! Er kann Wirklichkeit werden.

Die Kirchen haben Sie, Herr Ministerpräsident, meine sehr geehrten Damen und Herren, dabei als Mitstreiter auf Ihrer Seite!