Wichern: Der Erfinder vom "Tat-Wort"

Diakonie und Kirche feiern Johann Hinrich Wichern aus Anlass des 200. Geburtstages im nächsten Jahr

Hamburg (epd). Winter 1813/14. Die Stadt Hamburg steht im neunten Jahr unter französischer Besatzung. Tausende fliehen vor zunehmenden Repressalien ins benachbarte, damals dänische Altona. Oder noch weiter weg. Unter den Flüchtlingen ist auch ein fünfjähriger Junge mit seinen Eltern. Er heißt Johann Hinrich Wichern. Als Erfinder des Gleichklanges vom "Tat-Wort" gilt er heute als "Gründervater der kirchlichen Diakonie".

Das frühkindliche Fluchterlebnis beschreibt der Münchner Theologe, Journalist und Wichern-Biograf Uwe Birnstein als eines der prägendsten Lebensmotive Wicherns. Ein zweites kommt hinzu: Als Wichern 15 Jahre alt ist, stirbt sein Vater. Der Junge ist Halbwaise. Er hat sechs kleinere Geschwister, die Jüngste ist erst eineinhalb. Fortan muss Wichern seiner Mutter helfen, die Familie durchs Leben zu bringen.

Kinder auf der Flucht oder in Not - Wichern weiß, wie das ist. Als Erziehungsgehilfe und Privatschullehrer lernt er später Hamburger Elendsquartiere kennen. Er stellt fest, dass tröstende Worte des Evangeliums allein nicht reichen: Hilfe muss her, ganz konkret. Nicht nur Reden oder Fordern, sondern Tun, Anpacken. Und dies möglichst professionell - das sind bis heute zentrale Leitsätze kirchlicher Diakonie. Kirche und Diakonie haben 2008 zum Wichern-Jahr erklärt. Mit zahlreichen Veranstaltungen soll an Wicherns 200. Geburtstag am 21. April 1808 erinnert werden.

Dank eines Stipendiums kann Wichern in Göttingen, Berlin und Hamburg evangelische Theologie studieren. Dabei faszinieren ihn Dogmen- und Kirchengeschichte weit weniger als die praktische Relevanz des Christentums: "Die Liebe gehört mir wie der Glaube", schreibt Wichern.

Schon ein Jahr nach seinem Examen ermöglichen einflussreiche Gönner in Hamburg die Erfüllung seines Traums: Der Syndikus Karl Sieveking stellt 1833 eine alte Bauernkate als "Rettungshaus" für Kinder und Jugendliche zur Verfügung - Geburtsstätte der Evangelischen Stiftung "Das Rauhe Haus" für heute mehr als 1.300 Kinder und Jugendliche sowie über 2.000 Schüler und Studenten mit mehr als eintausend Mitarbeitern.

Die Kinder im "Rauhen Haus" leben in familienähnlichen Strukturen, betreut von "Brüdern", für deren Ausbildung Wichern sorgt. Künftig werden sie Diakone heißen. Auf dem ersten evangelischen Kirchentag in Wittenberg hält Wichern im September 1848 eine flammende Rede zur "Gründung des Centralausschusses für die Innnere Mission der evangelischen Kirche" - woraus später das "Diakonische Werk" entsteht.

Ab 1851 engagiert sich Wichern als Beauftragter des Königs Friedrich Wilhelm IV. für die preußische Gefängnisreform, wechselt sogar 1857 in den Staatsdienst über und ist bis 1872 Direktor des Mustergefängnisses Moabit, in dem er Diakone ("Brüder") des Rauhen Hauses aus Hamburg als Aufseher anstellt.

Im Mai 1872 kehrt Wichern nach Hamburg zurück, ein Jahr später übernimmt sein Sohn Johannes die Vorsteher-Tätigkeit im "Rauhen Haus". Im selben Jahr wird die Schiffermission im Hamburger Hafen gegründet. Nach mehreren schweren Schlaganfällen stirbt Johann Hinrich Wichern am 7. April 1881.

Dietrich Sattler, neunter Vorsteher des "Rauhen Hauses" seit Wichern, nennt seinen großen Vorgänger "einen der originellsten und praktisch begabtesten Theologen des 19. Jahrhunderts". ZDF-Moderator und Bestseller-Autor Peter Hahne sagt es so: "Wicherns Vorbild lehrt: Es gibt unter Gottes Geschöpfen keine hoffnungslosen Fälle. Wem der Himmel gewiss ist, dem darf die Erde nicht gleichgültig sein."

Uwe Birnstein: Der Erzieher - Wie Johann Hinrich Wichern Kinder und Kirche retten wollte. Wichern-Verlag Berlin, 120 Seiten, 9,95 Euro,

Dietrich Sattler: Anwalt der Armen, Missionar der Kirche. Agentur des Rauhen Hauses Hamburg, 144 Seiten, 8,80 Euro

16. Oktober 2007

Das Rauhe Haus

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