"Für einen Protestantismus mit mehr Biss" - Helmut Simon wird 85

Karlsruhe (epd). Schweigen war nie seine Sache, viel lieber mischt sich der ehemalige Bundesverfassungsrichter Helmut Simon in umstrittene Gesellschaftsfragen ein. "Für meine Generation war 'Verantwortung übernehmen' der Schlüsselbegriff unseres Handelns", begründet der Schüler des evangelischen Theologen Karl Barth sein Engagement. Am Montag, 1. Januar, wird Simon 85 Jahre alt.

"Eigentlich wäre es nach meinem 80. Geburtstag an der Zeit gewesen, mich zurückzuziehen und Akten und Korrespondenz für die Abgabe ans Bundesarchiv zu ordnen", erzählt Simon. Doch das fällt dem rüstigen Pensionär schwer. "Es gibt keinen Grund, sich nicht weiter einzumischen", betont Simon. Auch wenn er weiß, dass "meine Zeit zu Ende geht und jetzt andere dran sind".

Doch die "verbleibenden Defizite" im neuen Jahrtausend lassen ihn nicht ruhen: "Globalisierung mit Börsenspekulationen und Unternehmensverlagerungen, der US-Imperialismus mit Militarisierung bis hin zu vorbeugenden Angriffskriegen, die hemmungslose Bereicherungssucht im Neokapitalismus und die schwindende Bereitschaft zu solidarischen, am Gemeinwohl orientierten Reformen für das kranke Sozial- und Bildungssystem" - all das treibt den Juristen immer noch um.

Auch von der Kirche erhofft sich Simon, der Ende der 1960er Jahre in die SPD eintrat, "einen Protestantismus mit mehr Biss". Statt "vollmundig von Gottes Wort zu reden, sollte die Kirche auch mal bereit sein, Prügel zu beziehen und Anstöße geben".

Simon selbst hatte bei politischen Gesellschaftsdebatten oftmals Stellung bezogen - und dafür Kritik einstecken müssen. In der Hochzeit der Nachrüstungsdebatte etwa sprach er sich beim Kirchentag in Hannover 1983 für eine strikte Abrüstung aus - was ihm den Rüffel einiger Richterkollegen einbrachte.

Schließlich, so sein Credo, gehöre es zu den "staatsbürgerlichen Christenpflichten, die rechts- und sozialstaatliche Demokratie des Grundgesetzes als Angebot und Aufgabe anzunehmen und unsere politische Verantwortung wie einen Beruf zu begreifen". Dies sei ihm in den Nachkriegsjahren bewusst geworden, als ihm Karl Barth 1946/47 ein Theologie-Stipendium in Basel ermöglichte.

Da sei er in den Kreis derer geraten, die sich für eine "politische Wachheit in einem demokratischen Rechtsstaat" entschieden hätten: neben Barth waren dies die Theologen Martin Niemöller, Helmut Gollwitzer, Kurt Scharf oder Heinrich Albertz.

Zwei Mal war Simon Präsident des Deutschen Evangelischen Kirchentages jeweils in Berlin. Auf den Podien debattierte er mit Willy Brandt, Johannes Rau, Richard von Weizsäcker und anderen politischen Größen - zahlreiche Schwarz-Weiß-Bilder in seiner Wohnung dokumentieren die Zeit der "linksliberalen protestantischen Kirchenbewegung in den 70er und 80er Jahren", so Simon.

Simon hatte Teil an maßgeblichen verfassungsrechtlichen Entscheidungen in dieser Zeit. Eine der schönsten sei die zur Auseinandersetzung um das Atomkraftwerk Brokdorf gewesen, als die Polizei in einem Grundsatzurteil zu "freundlicheren Eingriffen bei Demonstrationen verpflichtet wurde". Oder als die Gegner der geplanten Teststrecke des heutigen Daimler-Chrysler-Betriebes im nordbadischen Boxberg nach dem Verbot der Genehmigung in eine Karlsruher Kneipe gezogen seien und "Nun danket alle Gott" gesungen hätten - "das war schon sehr eindrücklich", so Simon.

Die schwierigste Entscheidung seines Lebens aber sei die am 16. Oktober 1977 verkündete Ablehnung der Beschwerde im Zusammenhang der Entführung des damaligen Arbeitgeberpräsidenten Hans-Martin Schleyer gewesen. Dessen Sohn hatte so versucht, die damalige Bundesregierung unter Kanzler Helmut Schmidt (SPD) zu zwingen, den Forderungen der Rote Armee Fraktion (RAF) nachzugeben und dadurch seinen Vater zu befreien. "Uns war klar, was dieses Urteil bedeutete": Wenige Tage später wurde Schleyer von der RAF ermordet.

30. Dezember 2006

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