Das Glück der verlorenen Stunde - Die Zeit zwischen den Jahren lädt zum Innehalten ein

Von Sabine Henning (epd)

München (epd). Das alte Jahr zählt noch ein paar Tage, das neue wirft seine Schatten. Den Übergang zwischen den Jahren empfinden viele Menschen als erholsam: Das Telefon im Büro klingelt seltener als sonst. Die lieben Verwandten sind nach Weihnachten abgereist. Terminstress war gestern. Es ist Zeit, um innezuhalten und Lebensziele zu überdenken - auch am Arbeitsplatz.

Der umgangssprachliche Ausdruck "Zwischen den Jahren" hat historische Wurzeln. Denn erst im Laufe des 17. Jahrhunderts bürgerte sich der 1. Januar als verbindlicher Jahresbeginn ein. Zuvor existierten in den Regionen des christlichen Abendlandes verschiedene Neujahrstage nebeneinander: Der 25. Dezember als Datum von Christi Geburt und der 6. Januar, an dem noch heute in Spanien beschert wird.

An den "unsicheren Tagen" zwischen Weihnachten und 6. Januar ließen Geschäftsleute einst ihre Arbeit ruhen. Oder sie schlossen ihren Laden für eine besondere Form der Bilanz, die Inventur. "Noch heute geben an diesen Tagen manche Unternehmer frei, ohne auf Urlaubsansprüche zu pochen", sagt Karlheinz A. Geißler, Professor für Wirtschaftspädagogik an der Universität der Bundeswehr in München.

Anselm Bilgri war Mönch und Wirtschaftsleiter im Kloster Andechs am Ammersee, bevor er sich als Unternehmensberater in München selbstständig machte. Der 53-Jährige empfiehlt Führungskräften, sich mit Mitarbeitern auch über Lebensziele und ihre Situation im Unternehmen auszutauschen: "Dazu eignet sich die stille Zeit zwischen Jahren besonders."

Vom Bedürfnis nach Rückschau am Ende des Jahres profitieren bislang eher Beschäftigte kleinerer Firmen. "Sie bestellen etwas zu essen und reden einen Vormittag - und zwar nicht über die Zahlen, sondern über das Miteinander", weiß Geißler. Auch in der Familie stärkt eine solche Runde die Gemeinschaft und die Vorfreude auf Kommendes. "Man sollte besprechen, was gut, was weniger gut gelaufen ist. Und was sich in der Familie verändern soll", sagt Geißler.

Gisela Maier leitet im Auftrag des "Vereins zur Förderung von prozessorientiertem Leben" Seminare zum Thema "Innehalten - mich neu orientieren" an der Evangelischen Akademie Bad Boll in Baden-Württemberg. "In der Übergangszeit zwischen den Jahren sind viele Menschen besonders empfänglich für Probleme, die sie sonst von sich schieben", weiß die pädagogisch-therapeutische Beraterin.

Die Weihnachtszeit und das enge Zusammensein in der Familie rühre an Konflikte: Trennungen und Verluste wie der Tod eines nahe stehenden Menschen, Krankheiten und familiäre Gewalt. "Im geschützten Raum unserer Seminare können die Teilnehmer Verletzungen anschauen und loslassen", sagt Maier. Körperarbeit, spontanes Malen und Gespräche in der Gruppe förderten diese Prozesse. "Etwas darf zum Ausdruck kommen, das im Alltag keinen Platz hat - und das ein authentisches Leben behindert."

Dass Zeiteinheiten von Menschen gesetzte Maße sind, ist den wenigsten bewusst. So führte Papst Gregor 1582 den heute noch geltenden Kalender ein, weil der mehr als 1.600 Jahre alte julianische nicht mehr mit den Sonnen- und Monddaten übereinstimmte. Heute kontrolliert die Atomuhr in der Physikalisch-Technischen Bundesanstalt in Braunschweig die Zeit in Deutschland. Sie richtet sich nach dem Sonnenstand auf dem 15. Längengrad und wird nachjustiert - ohne dass Menschen dies bewusst wahrnehmen.

"Der Sylvestertag ist niemals exakt 24 Stunden lang", weiß Zeitforscher Geißler. Die Uhr werde für Schaltsekunden angehalten: "Das Jahr wurde kürzer berechnet, als es tatsächlich ist."

Es ist daher fast immer eine bewusste Entscheidung, sich aus Zeitkorsetts zu befreien: "Ich nenne es das Glück der verlorenen Stunde", sagt Anselm Bilgri. Sich Raum zu nehmen, um Gedanken schweifen zu lassen. Eine Kerze anzuzünden, einfach nichts zu tun. "Das stärkt die innere Ruhe und fördert die Kreativität."

21. Dezember 2006

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